Die Stühle - Eugène Ionescos apokalyptisches Stück von Claus Peymann und Leander Haußmann sentimental-symbolhaft am Burgtheater Wien inszeniert
Zweiter Frühling
von Leo Lippert
Wien, 13. März 2019. Die schrille Glocke im Foyer mahnt noch, die Plätze einzunehmen, da fällt der Vorhang. Nicht etwa, weil das die Inszenierung so vorgesehen hätte. Das dünne schwarze Tuch, das publikumsseitig über die Vorderbühne gespannt ist, flattert ganz einfach deswegen zu Boden, weil es nicht richtig festgezurrt war. Vielleicht hat auch jemand in der ersten Reihe vergeblich nach Halt gegriffen beim Einnehmen der Plätze, wer weiß. Und so erscheint der Bühnenarbeiter, der erst ruckelt, drapiert, und dann in schönstem Burgtheaterdeutsch einem unsichtbaren Kollegen im Off zuruft: "Heast, kaunst du auziang!?"
Der Kollege zieht, fester, doch das Seil klemmt, und so erscheint der Bühnenarbeiter erneut, diesmal am Balkon, um sehr abenteuerlich eine wackelige Ausziehleiter zu erklimmen und das verhedderte Seil zu lösen. Es funktioniert, der Vorhang wird wieder hochgezogen, und Der Bühnenarbeiter bekommt seinen Applaus schon, bevor es überhaupt losgeht.
Auftritt auf der Leiter
Die Szene ist eine schöne Eröffnungspointe für ein Stück, das ohnehin dauernd mit seiner eigenen tolpatschigen Sinnlosigkeit kokettiert. Für ein Stück, in dem das Rufen nach unsichtbaren Figuren im Off (und nicht nur dort) gar zentrales Stilmittel ist; für ein Stück schließlich, in dem, als der Vorhang dann tatsächlich fällt, wie er soll, Michael Maertens ausgerechnet von einer wackeligen Leiter herunterklettert.
Im Wiener Akademietheater werden Eugène Ionescos "Die Stühle" gegeben, in einer Notlösungs-Doppelregie von Claus Peymann und Leander Haußmann, der für den erkrankten Peymann einspringen musste. Die 1952 uraufgeführte "tragische Farce" über ein Ehepaar jenseits der neunzig (Maria Happel und Michael Maertens) ist ein Stück über den vergeblichen Versuch, dem Leben Sinn und Bedeutung zu geben, übers gemeinsam Älterwerden und dem Trauern über verpasste Chancen. Dabei ist es immer auch ein Stück nach dem Holocaust, in dem die kleinbürgerlich-großmütige "Botschaft für die ganze Menschheit", verkündet vor einer illustren Runde an herbeifantasierten Gästen, bloß sprachloses Silbengestammel sein kann.
Luftschlangen im Kronleuchter
Peymanns/Haußmanns Inszenierung setzt von Beginn an auf größtmögliche Reduktion ohne konkreten Wirklichkeitsbezug, und schickt Happel und Maertens als Die und Der Alte auf eine kahlschwarze, leergeräumte Bühne. In schwarze Sperrholzwände an den Seiten sind gar viele Türen eingelassen, durch die im Laufe der Zeit all die titelgebenden Stühle hereingetragen werden. Von der Decke kommt das schwache Funzeln eines Arme-Leute-Kronleuchters, in dem sich eine bunte papierene Luftschlange verfangen hat. Sie ist achtlose Erinnerung an längst vergangene Feste.
Das Sich-Verlassen darauf, dass zwei Publikumslieblinge einfach drauflosspielen, ist zwar vielleicht nicht die intellektuellste Art, einen Theaterabend zu gestalten, aber eine Strategie, die durchaus aufgeht: Denn Happel und Maertens haben sichtlich Freude daran, allerlei komische Kunstgriffe vorzuführen, das Tempo stimmt, und man sieht ihnen dabei gerne zu. Man lacht mit beim ansteckenden Gegluckse über "die Geschichte", die sich zwar nicht wirklich erschließt, aber trotzdem immer wieder gerne erzählt wird.
Sentimental symbolhaft
Man kichert schadenfreudig beim vorwurfsvollen Jammern (Happel) über den mangelnden Karriereehrgeiz des Ehemannes. Man ist empathisch beim sehnsüchtigen Wehklagen (Maertens) nach der verstorbenen Mutter, und überlegt sich das mit der Empathie ganz schnell wieder, als Der Alte kurzerhand seine Ehefrau zum Mutterersatz erklärt und es sich auf ihrem Schoß gemütlich macht. Man fremdschämt sich für die plötzlich Cancan tanzende Alte, die den "Herrn Doktor" verführen will, und sich dann doch eingestehen muss: "Das ist nichts mehr für mein Alter!" Und man staunt über das virtuose Interagieren des Ehepaars mit all den unsichtbaren Gästen, von der Jugendliebe bis zum Offizier, die präzise und vor allem persönlichkeitsangepasst hereingebeten, herumgeschoben, einander vorgestellt, und schließlich auf den Stühlen platziert werden.
Im letzten Drittel dann ein Stilbruch: Regieeinfälle! Als der Kaiser persönlich als letzter unsichtbarer Gast erscheint, wird er nicht einfach herbeiimaginiert wie all die anderen. Nein, die Nebelmaschine wird angeworfen, ein Stuhl sehr pompös vom Schnürboden abgeseilt und sogar ein samtenes Pölsterchen draufgelegt. Dazu dröhnt ein Leonard Cohen-Schmachtfetzen erst aus allen Lautsprechern, und irgendwann nur mehr aus einem kleinen Kofferradio.
Peymann-T-Shirt
Das reduzierte Spiel mit Gesten und Abstraktion, das den Abend bis dahin kennzeichnet, wird plötzlich durch brachial sentimentale Symbolhaftigkeit ersetzt. Es geht schließlich dem Ende zu: Der und Die Alte verabschieden sich mit einem Doppelselbstmord aus dem Stück, und verwandeln sich sogleich in zwei bunte Luftballons, die langsam gen Himmel schweben. Wenn nicht der Redner (Mavie Hörbiger) diese unverständlichen Laute von sich geben würde, diese seltsamen Buchstabenfolgen auf die Wände kritzeln würde: Man könnte glatt ein paar Tränen zerdrücken.
Für ein absurdes Ionesco-Stück scheint dieser Abschied viel zu gefühlsduselig. Für Claus Peymann, der, wie's scheint, zum letzten Mal an der Burg inszeniert, ist er wohl gerade recht. Den tosenden Schlussapplaus kann er sich leider nicht selbst abholen. Zumindest hat sich Leander Haußmann einen fetten "Peymann"-Schriftzug aufs T-Shirt drucken lassen.
Die Stühle. Eine tragische Farce
von Eugène Ionesco
Deutsch von Jacqueline Seelmann-Eggebert und Ulrich Seelmann-Eggebert
Regie: Claus Peymann/Leander Haußmann, Dramaturgie: Jutta Ferbers, Bühne: Gilles Taschet, Kostüme: Margit Koppendorfer, Licht: Ulrich Eh, Michael Hofer, Sounddesign: David Müllner, Musik: Tommy Hojsa, Bernhard Moshammer.
Mit: Maria Happel, Mavie Hörbiger, Michael Maertens.
Premiere am 13. März 2019
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.burgtheater.at
Mehr zu Ionescos "Die Stühle": Sebastian Sommer inszenierte das Stück im Juni 2016 auf der Probebühne des Berliner Ensembles.
Kritkenrundschau
Auf Reinhard Kager im "Fazit"-Gespräch auf Deutschlandfunk Kultur (13.3.2019) wirkt Peymanns Inszenierung "wie eine Rückkehr zu seinen Anfängen", zur "Komödiantik seiner frühen Inszenierungen". Maria Happel und Michael Maertens werden für ihre Darbietung ebenso gelobt wie das Bühnenbild. Das Spiel mit den imaginären Gästen werde allerdings "zu sehr in das Klamaukige gedreht".
"Je höher sich das Fantasiegebäude aus Wunschtraum und Albtraum emporschraubt, umso ununterscheidbarer werden Tragödie und Komödie", schreibt Stephan Hilpold vom Standard (14.3.2019). "Aus aufrechten Menschen werden Bücklinge, aus Reden wird Stammeln (...) und aus einem Abend, an dem alle Register der Schauspielkunst gezogen werden, ein kleiner Triumph des Peymann’schen Poesie-, Fantasie- und Theatertheaters."
"Mehr Leichtigkeit, mehr Empathie für das Spiel mit Geistern, die keiner sieht, wäre gefragt, um in Ionescos feintöniger Sprachsphäre das Wirkliche unwirklich, das Unwirkliche wirklich, werden zu lassen. Statt eines Sogs der Leere, in der sich Ideologien, Hoffnungen und Theorien auflösen, viel linkisches Gehabe", schreibt Hans Haider von der Wiener Zeitung (14.3.2019). Ionescos antipolitische Wirkungsmacht sei passé. "Und Peymanns Abschiedsdrama vom Burgtheater auch nur mehr Denkmalpflege."
"Wieder einmal spielt Maertens den Mann am Rande des Nervenzusammenbruchs, Happel die ständig von dröhnenden Lachanfällen geschüttelte Ulknudel", schreibt Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (15.3.2019). "Die schwierige Entstehungsgeschichte der Inszenierung zeigt sich vor allem daran, dass die beiden Stars einfach das machen, was sie am besten zu können glauben. Anscheinend hat ihnen keiner dabei geholfen, sich etwas Interessanteres einfallen zu lassen. Peymann konnte ja nicht, und Haußmann wollte sich offenbar nicht allzu sehr einmischen."
"Man will ihnen das leichtfertige Karikieren zunächst gar nicht abnehmen, wartet auf eine Wende, einen Bedeutungswandel. Aber der kommt nicht. Der Abend läuft von Anfang bis Ende immer so weiter – als halbe Screwball-Imitation in 'Dinner for One'-Atmosphäre", wundert sich Simon Strauß von der FAZ (15.3.2019). "Was wird da verschenkt! Was hätte man mit diesen zwei Schauspielern Phantastisches anstellen können. Mit diesen überirdischen Rollen." Die Inszeneirung komme "durchsäkularisiert" und "ausgenüchtert" daher. "Die Happel und den Maertens schaut man wie immer gerne an, lässt sich auch ein paar ihrer Späße gefallen, aber eine tiefere Bindung geht man mit ihnen nicht ein."
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Doch dafür ist kein Platz, der Redner muss noch sein lächerliches Werk tun, am ende geht auch er, Leere bleibt, gefüllt nur mit Geräuschen einer Unsichtbaren Menge. Ionesco wollte diesen Moment ausgedehnt sehen auf sein Maximum – hier dauert er bestenfalls so lange wie unbedingt nötig. Und steht damit für einen Abend, der den Blick weg lenkt, von dem was weh tut, von der Sinnentleerung einer Welt, in der alle Bedeutungsangebote in die Vernichtung zu führen scheinen. Der nicht hinschauen will auf die existenzielle Absurdität menschlicher Existenz, die Abwesenheit von Sinn und tieferer Bedeutung, der stattdessen das Groteske der Situation, die Abwegigkeit des spezifischen Unterfangens ins Auge fasst, mehr bürgerliche Satire sein will als existenzielle Tragödie. So verkümmert das Stück zu leicht abgedunkeltem absurden Slapstick, der den Blick vom Abgrund abwendet, der doch bei Ionesco im Mittelpunkt steht und einzige Existenzbedingung seines Werks ist, wird die Leere so lange mit Effekten und Routinen und Spiel vollgemüllt, bis man sie nicht mehr betrachten muss. So kann vermeintliche „Werktreue“ seine Vorlage regelrecht verraten. Das zumindest gelingt dem unambitionierte Regie-Duo auf fast perfekte Weise.
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/10/11/vollgemuellte-leere/