"Da wo der Maradona herkommt"

von Claude Bühler

Zürich, 14. März 2019. Kein kuscheliges Verschwinden im dunklen Zuschauerraum. Hier betritt man ein mit menschenhohen, weißen Plastikplanen ausgehängtes, ansonsten kahles Geviert, setzt sich im weißen Flutlicht auf einen der verstreut herumstehenden Drehstühle. Jede und jeder eine Insel für sich. Oder soll man sich eher in eines der traditionellen Künstler-Cafés in Buenos Aires denken? Da habe die Geschichte der Produktion ihren Anfang genommen, erzählt Autorin Anne Jelena Schulte im locker geführten Live-Talk mit dem argentinischen Maler Pedro Roth. Mit 15 Jahren floh er auf einer abenteuerlichen Route von Budapest nach Argentinien. Und blieb.

Der mittlerweile 80-Jährige steht für das Schicksal Abertausender, die vor Stalin, Hitler, Franco, Mussolini, vor Krieg, Arbeitslosigkeit, Armut über den Atlantik flohen und im "Hotel der Immigranten" in Buenos Aires Aufnahme fanden. Schulte und das Kollektiv Capriconnection um die Regisseurin Anna-Sophie Mahler haben vor Ort Lebensgeschichten europäischer Migrant*innen der 30er und 40er Jahre gesammelt, Schulte hat sie eingekürzt, auf prägnante Erzählikonen verdichtet. Susanne Abelein gibt den Figuren als Performerin Gestalt: Die beinahe nahtlose Folge von Personen und ihren Schicksalen ist der Kernteil des Abends.

Sie sind viele

Der Recherchevorgang wird ausführlich offengelegt. Aus den realen Begebenheiten bezieht die Inszenierung ihre dramatische Wucht. Aber die Zeugnisse werden fast ganz von theatralischen Überwältigungsmitteln oder dem Eindruck "spannender" Biographien freigehalten. Sie behaupten sich sogar dank einer gewissen, gewollten Flüchtigkeit; die Geschichten sind immer fühlbar Erinnerungen und vergänglich. Einmal werden Pässe von Migrant*innen an die Plastikplanen projiziert – Gesichtsfoto, Körpergröße, Religion – aber so rasch, dass es gerade reicht, einen Geschmack von der Vielfalt und enormen Anzahl zu erhalten.

Hotel der Immigranten3 560 Nelly Rodriguez uDer Künstler bei der Arbeit © Nelly Rodriguez

Abeleins Figuren lauscht man mit Spannung. Kinder aus St. Gallen, deren Vater keine Arbeit fand: Sie hielten die Auswanderung für eine Spazierfahrt. Eine jüdische Frau: Ein SS-Mann habe sie und ihren Mann mit Fluchtanleitungen gerettet. Eine ukrainische Frau besorgte ihrer Familie gefälschte Pässe: Sie wollte in die USA, nicht nach Argentinien. Österreicher nach ihrer Ankunft: "Wir können die Sprache nicht, wir haben kein Geld." Eine einstige Berlinerin hört von ihren ehemaligen Landsleuten: "Argentinien? Das ist doch, wo der Maradona herkommt." Argentinien, das hieß für die meisten das Ende der Welt: keine Traumdestination, wiewohl das Land die Migrant*innen, wie es heißt, freundlich aufnahm und unterstützte.

Die Nazis, die sich nach dem zweiten Weltkrieg in Argentinien ihrer Strafe entzogen: werden nur kurz angetippt, passen nicht zur Not, von der hier erzählt wird. Man erfährt von Exekutionen, Bombenangriffen, glücklichen Zufällen, tragischen Schicksalen, von LKW, die alle Männer aus einem Dorf wegchauffierten, und, bei fast allen, vom Wunsch einer Rückkehr.

Abeleins unsentimentales Spiel hält präzise die Spur zwischen Reportage und Vergegenwärtigung. Die Musiker (Akkordean, Trompete, Electronics) betonen den nüchternen Duktus: nur Geräusche, einzelne Töne, Fragmente. Wie an einem Handlauf führen sie einen in die Stille angespannten Zuhörens. Abelein geht herum, spricht sogar einzelne Leute an, bringt so die Zeugnisse in Austausch mit uns. Man dreht sich auf den Stühlen nach ihr um, fasst dabei die anderen ins Auge, erhält eine Idee von der Zufälligkeit einer Schicksalsgemeinschaft, vielleicht so ähnlich, wie es jene Menschen auf der Flucht empfanden.

Hotel der Immigranten1 560 Nelly Rodriguez uEin Schatten aus der Vergangenheit? © Nelly Rodriguez

Aber Capriconnection wollen nicht nur in die Vergangenheit blicken. Pedro Roth berichtet im zweiten, kürzeren Teil von einem Projekt seines Kollektivs Estrella del Oriente: Ein Schiff soll Migrant*innen in die erste Welt transportieren. Der Clou: An Bord sollen sie sich zu Kunstobjekten transformieren lassen, um Aufnahme in unseren abgeschotteten Länder zu erhalten. Bei aller Treue zu einem Konzept der Transparenz und dem Verzicht auf aufgesetzte Inszenierungsmittel: Das Projekt wäre es wert gewesen, mehr Raum zu erhalten und nicht bloß als Künstlergespräch inszeniert zu werden.

Wohltuend dagegen: Capriconnection enthalten sich einer oberflächlichen Kritik. Die Macht des Faktischen wirkt viel stärker als eine Anklage. Für die Bezüge zu den Schicksalen auf dem Mittelmeer haben sie genügend Grundlage geliefert.

 

Hotel der Immigranten
von CapriConnection
Idee, Autorin: Anne Jelena Schulte
Konzept: Anne Jelena Schulte, Anna-Sophie Mahler, Susanne Abelein, Christiane Dankbar, Tebbe Schöningh.
Regie: Anna-Sophie Mahler, Bühne: Sophie Krayer, Kostüme: Nic Tillein, Technische Leitung und Licht Design: Benny Hauser, Ton: Marcel Babazadeh, Visuals: Tebbe Schöningh.
Musik: Jonas Kocher (Akkordeon), Leonel Kaplan (Trompete), Christof Kurzmann (Electronics).
Künstler: Pedro Roth (Künstlerkollektiv Estrella del Oriente).
Mit: Susanne Abelein.
Premiere am 14. März 2019
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.capriconnection.ch
https://www.gessnerallee.ch

 

Kritikenrundschau

"Zauberkammermagisch" findet Alexandra Kedves den Abend, wie sie im Tages Anzeiger (16.3.2019) schreibt. In Abeleins Ton spiegele sich das Glüc der Überlebenden – und ihr Unglück. "Es ist der leise Ton von Leuten, die wissen, dass sie nicht gefragt sind." Auch der Abend selbst übe sich darin, tippe zart an, blende wieder weg: "So viel Diskretion zeigt Doktheater selten."

Einen "konzentrierten Monolog" hat Dagmar Walser erlebt, sagt sie auf SRF2 (18.3.2019). Die Konstruktion sei auch szenisch noch etwas unausgegoren. "Andererseits ist die Anlage sehr transparent, weil immer miterzählt wird, wie das Projekt entstanden ist – das hilft." Gerührt habe sie Pedro Roth, der als alter Mann ein klares Statement für die Kunst und die Fantasie abgegeben habe.

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