Die Farbe der Seele

von Katrin Ullmann

Hamburg, 15. März 2019. Velvet Underground geht irgendwie immer. Dann ist sie da: jene Melancholie und mit ihr ein inneres Heulen. Pale Blue Eyes. Am Schluss des Abends also Lou Reed. Halb brüchig, halb versöhnlich singt er da von den blassblauen Augen seiner ersten Liebe. Und vielleicht will dieser Song eine Antwort sein auf das Bisherige: auf das Suchen und Sammeln der Ich-Erzählerin, eine Antwort auf ihre Liebe zu einem verlorenen Mann und vor allem zur Farbe Blau.

Wir haben keine Wahl

Knappe zwei Stunden hat man bis dahin eine Art Versuchsanordnung betrachtet. Und zugleich einer Frau beim Schreiben zugehört. Es sind tagebuchähnliche Einträge, die Maggie Nelson in ihrem Band "Bluets" versammelt hat: Gedanken, Episoden, Beobachtungen, Erlebtes und Erdachtes, Assoziiertes und Recherchiertes. In 240 Mini-Kapiteln hat die US-Amerikanerin sich einem Buch der Farbe Blau gewidmet. Warum? "Wir haben keine Wahl, wen oder was wir lieben. Wir haben einfach keine Wahl."

Bluets1 560 Stephen Cummiskey uIch schreib's in mein Gedankenalbum: Julia Wieninger © Stephen Cummiskey

Gemeinsam mit der Dramaturgin Sybille Meier hat Regisseurin Katie Mitchell aus diesem "Album verschriftlichter Gedanken" eine Theaterfassung kondensiert. 129 Paragrafen zählt die Inszenierung. Durchnummeriert, durch einen zarten Klingelton voneinander abgetrennt, erzählen sie von Yves Klein, Leonard Cohen und von Goethe, vom Ozean und von Lapislazuli, von Glasscherben, vom Himmel und vom Cyanometer, von Kornblumen und vom blaue Dinge sammelnden Seidenlaubenvogel. Von einer Farbe also in ihren zahlreichen Nuancen, von allerlei Dingen, die die Autorin findet und sammelt und auch vom Prinzen des Blauen – womöglich jenem Mann, den sie liebt und verliert und der es als Einziger wirklich aufnehmen kann mit ihrer Liebe zur Farbe Blau.

Wellen, Pfützen, Ozeane

Julia Wieninger spielt diese Ich-Erzählerin. An einem schlichten Tisch sitzend, ein Mikro vorm Gesicht, spricht sie mit schwerer Stimme. Man kann ihr beim Denken zuhören, überträgt ihr leichtherzig die Autorenschaft, reist mit ihr durch ihr Forschen, ihr Leiden, ihre Liebe, folgt ihr durch ihren Alltag zwischen New York und Los Angeles, zwischen Sex und Sehnsucht. Maggie Nelsons Text bewegt sich schamlos an der Grenze zum Kitsch, reiht Belangloses an Berührendes, Verzweifeltes an Heiteres. Im Halbdunkel der Bühne (Alex Eales) wuseln die Mitspieler (Yorck Dippe, Ute Hannig, Paul Herwig) wie drei eifrige Laboranten.

Sie bauen Räume für die Gedanken der Erzählerin, arrangieren Live-Bilder für verschiedene Kameras, produzieren Sounds mit Instrumenten, Stimmen, Jacken, Rührstäben, Flüssigkeiten, Lichtern, Handschuhen. Sie bauen die erwartete – und dringend notwendige – Illusion rund um die Wort gewordenen Gedanken, sie erschaffen Atmosphären. Im Wechsel dazu flackern die im besten Sinne poetischen Filmbilder von Grant Gee (Wellen, Pfützen, Ozeanen, Dämmerungen) über die Leinwand.

Spiel mit Illusionen

All diese überdeutlichen Illustrationen machen den Text erst bühnentauglich, machen ihn extrem konkret. So rückt die Ich-Erzählerin in eine greifbare Lebenswirklichkeit, so formt sich aus ihren assoziativen Gedanken eine persönliche (Liebes-)Geschichte. Oder spielt Katie Mitchell tatsächlich ein geschicktes Spiel mit den Illusionen? Ein Spiel, in dem wir leichtfertig zusammenfügen, was wir hören und sehen (wollen)?

Am Ende des Abends, am Ende der Geschichte dann Velvet Underground. "Pale Blue Eyes". Lou Reed schrieb, so heißt es, diesen Song über seine erste Liebe Shelley Albin. Die Farbe ihrer Augen war braun.

 



Bluets
nach Maggie Nelson
Fassung von Katie Mitchell und Sybille Meier
Aus dem Englischen übersetzt von Jan Wilm
Regie: Katie Mitchell, Bühne: Alex Eales, Kostüme: Clarissa Freiberg, Lichtdesign: Anthony Doran, Videodesign: Grant Gee, Sounddesign: Donato Wharton, Ton: Katja Haase, Finn Corvin Gallowsky, Video: Marcel Didolff, Dramaturgie: Sybille Meier, Regiemitarbeit: Lily McLeish.
Mit: Yorck Dippe, Ute Hannig, Paul Herwig, Julia Wieninger.
Premiere: 15. März 2019
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

Eine "kleine, aber durchaus feine Fingerübung" hat Annette Stiekele gesehen, wie sie im Hamburger Abendblatt (17.3.2019) schreibt."Bluets" sei eine kluge Meditation über das wahnhafte Verhältnis zu einer Farbe, vor allem aber über Seelenschmerz und Trauer. "Die wohlgeformten Sätze rauschen wohlig durch den Körper. Über die Dauer von zwei Stunden haben sie mitunter etwas Gleichförmiges, Beliebiges. Doch, wenn man schon ins Blaue wegdriften will, holt einen Katie Mitchell mit einem ihrer sehenswerten und überraschenden Bühnentricks wieder in die Gegenwart zurück."

Maggie Nelsons Gedankenexkursionen, "die elaboriert und dennoch nicht frei von Banalität und Kitsch sind", hätten Mitchell "zu wenig raffinierten filmischen Illustrationen und akustischen Signalen anregt, die wiederum von den Schauspielern erzeugt werden", so in der Welt (18.3.2019). Fazit: "belanglos".

Die Inszenierung sei "eine reine Übung in Manieriertheit", so Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (20.3.2019). "Das ist ermüdend durchsichtig und schier peinlich, ein banales Leben ins Bedeutungsvolle überhöhend."

Kirsten Reimers schreibt im Freitag (21.3.2019): Manchmal komme es zu einer "schlichten Dopplung des Gesagten", aber oft erweitere die theatralische Umsetzung den Text, öffne ihn "für andere Bedeutungsebenen, macht ihn sinnlicher, noch fühlbarer". "Bluets" als Stück schaffe "eine Art distanzierte Unmittelbarkeit, einen intellektuellen Sog, eine haptische Melancholie". Mitchell gelinge "etwas Faszinierendes: die Erzeugung eines reflektierten Rauschs in Blau".

 

Kommentare  
Bluets, Hamburg: Spiel und Experiment
„Bluets“ ist die Geschichte einer Liebe zu einem Mann und zur Farbe BLAU. Katie Mitchell versucht Maggie Nelsons Text über die Farbe BLAU audio-visuell erfahrbar zu machen. „Bluets“ ist die Liebeserklärung der Autorin an die Farbe BLAU und die damit assoziierten Stimmungslagen. Nelson erzählt von ihrer scheiternden Liebe zum „Prinzen des Blauen“ und ihrer Liebe zur Farbe BLAU und dem damit verbundenen Schmerz. Da ist zum einen der innere Schmerz von Depression und Trauer - das „Deepest Blue“ - als Folge der gescheiterten Liebe und zum andern der äußere Schmerz einer Freundin, die nach Querschnittslähmung neu zu leben lernen muss. Das Buch lebt von persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen, aber auch von wissenschaftlichen und philosophischen Berichten, die mit der Farbe BLAU assoziiert sind wie: Wittgensteins Sprachphilosophie und Goethes Farbenlehre um dem Wesen der Farben, insbesondere der Farbe BLAU, auf die Spur zu kommen. Diese scheinbar willkürlich angeordneten Gedanken und Schlüssellochblicke sind zauberhaft und überraschend, reflektiert, emotional, klug, offensiv und narzisstisch. Da steht das wissenschaftliche Fundstück zur Farbe BLAU neben dem intimen Bekenntnis, der Bericht über den Seidenlaubenvogel neben selbstironischen Reflexionen oder zutiefst sentimentalen Episoden. Gern lässt man sich verführen, dem schillernden Angebot zur Farbe BLAU von Maggie Nelson zu folgen. Von dieser Faszination für die Farbe BLAU hat sich Katie Mitchell inspirieren lassen, um „Bluets“ audio-visuell erfahrbar zu machen. Die „Paragrafen“ werden von Julia Wieninger gesprochen als würde man sie beim Denken belauschen und von Ute Hanning, Yorck Dippe und Paul Herwig audio-visuell verstärkt. Dazu bedienen sie sich der Mittel: Videoeinspielungen, Geräusche und Musik. Die Bühne in ihrer Kargheit macht deutlich, dass der gesprochene Text zum audio-visuellen Spiel werden soll. Stark ist Katie Mitchell in den Momenten, wo sie mit der Farbe BLAU experimentiert und spielt; z. B. wenn sie blauen Farbstoff sich im Wasser auflösen lässt. Vieles wird aber auch nur mit Videoeinspielungen bebildert und hier fehlt manches Mal die Kraft der Imagination, die das Spiel der drei Akteure immer in sich trägt, insbesondere in den musikalischen Assoziationen zur Farbe BLAU. Sie bauen die BLAUE Illusion, um die Wort gewordenen Gedanken, sie schaffen Atmosphäre. Ergänzt durch poetische Filmbilder von Grant Gee (Wellen, Pfützen, Ozeane, Himmel und Dämmerung). Diese Inszenierung ist das Experiment Worte und Gedanken für den Zuschauer hör- und sichtbar zu machen. Der Reiz liegt im kreativen Spiel mit audio-visuellen Mitteln, um das Zauberhafte und Überraschende dieser Liebe zur Farbe BLAU auf der Bühne zum Leben zu erwecken. Zauberhaft und überraschend lebendig wird die Farbe BLAU immer dann, wenn die Akteure mit Farbe und Flüssigkeiten experimentieren und spontan Farbbilder entstehen oder Songs die Farbe BLAU zu erspüren versuchen. In diesem Zusammenhang sei Klaus Gehre erwähnt, der in seinen Videoinstallationen eigene kleine Kunstwerke auf der Bühne schafft. „Bluets“ ist ein Traum über die Liebesbeziehung zur Farbe BLAU, wie es Novalis BLAUE Blume in der Romantik war. Wer Spaß an Spiel und Experiment hat, wird etliches an diesem Abend finden, auch wenn nicht alles gelungen ist. Doch das möge der Zuschauer dann für sich in eigener Form imaginieren. Also spielen wir weiter mit.
Kommentar schreiben