Von einem der einzog, das Feiern zu lehren

von Anna Landefeld

München, 15. März 2019. Dabei war doch alles im Reinen. Alles, das heißt die Welt, in der der Thebaner-König Pentheus herrscht und die zusammengesetzt ist aus geometrischen weißen Flächen zu einem leicht erhöhten Bühnenpodest. Eine scharfkantige, eiskalte Insel der Vernunft inmitten von Schwärze. Auf ihr wähnt Pentheus sich sicher und gewiss, dass ein Fürst, der arbeitsam, bescheiden, pflichterfüllend und gottesfürchtig regiert, richtig regiert.

Pentheus ist das Idealbild eines aufgeklärten, männlichen Herrschers, der vor lauter Vernunft und Ordnung das vergisst, was außerhalb davon liegt. Beißend und messerscharf preist Till Firit als Pentheus die Macht von Sitte und Gesetz. Seine Welt ist Weiß und Schwarz, so wie die Bühne, so wie die Kostüme. Doch Pentheus ahnt in Wim Vandekeybus' Inszenierung von "Die Bakchen" am Münchner Cuvilliéstheater, dass sich "etwas" ankündigt, was alles auf die Probe stellen wird, woran wir (wer ist eigentlich dieses alles vereinnahmende "wir" im Text?) glauben. Seine Welt und das Theater werden beben.

Einbruch des Irrationalen und Obszönen

Dieses erschütternde "etwas" ist ein verletzter, rachegeiler, narzisstischer Dionysos. Dieser kehrt in Menschengestalt in seine Geburtsstadt Theben zurück, um die Bewohner zu zwingen, ihn als Sohn des Zeus anzuerkennen. Im Schlepptau hat er seine Bakchen-Schar. Die thebanischen Frauen versetzt er in Trance und lockt sie auf den Berg Kithairon. Dort wird alles getrieben, was den Sittenhüter Pentheus anwidert und gleichzeitig anzieht: alkoholisierte Obszönitäten sonder Zahl. Also all das also, was jenseits der Vernunft liegt und durch Sprache geordnet werden könnte.  

Bakchen3 560 Danny Willems uDionysos ante portas: die Bakchen (Szene mit René Dumont, Till Firit, Borna Babić, Zoe Gyssler) © Danny Willems

Hier wird Wim Vandekeybus' Fassung besonders. Vom flämischen Autor Peter Verhelst ließ sich der Choreograf aus dem belgischen Molenbeek einen spröden und passagenweise überdeutlich-pädagogischen Text schreiben, dem jede Poesie, jede sinnliche Beschreibung abgeht, dem es genügt, reine Definitionen zu liefern davon, was Herrscher und Herrschaft und so weiter sind. Und der Anti-Herrscher Dionysos? Dafür lässt Vandekeybus Niklas Wetzel, Absolvent des diesjährigen Schauspieler*innen-Jahrgangs der Otto Falckenberg Schule, in blonder, geschmeidiger Jungendlichkeit windend, rollend, torkelnd die 69 Beinamen der Gottheit durchdeklinieren.

Sprache und Körperlichkeit fallen nicht nur hier auseinander. Wozu sollten sie sich auch zusammenfügen? Verhelsts Text ist nicht mehr als ein Gebrauchstext und zeigt damit geschickt den größtmöglichen Kontrast zu dem, was Vandekeybus auf der Bühne heraufbeschwört. Und das liegt jenseits von dem, was in Sprache fassbar ist, für das behelfsmäßige Begrifflichkeiten wie "orgiastischer Rausch" eigentlich zu wenig sind, weil doch die Lücke unschließbar ist zwischen dem,  was gesprochen wird, und dem, was passiert. Und so verzichtet Vandekeybus in diesen Szenen vollkommen auf Sprache. Wo sie aufhört, bedient er sich der Musik, der Malerei und des Tanzes und lässt Klang, Bild und Körper eine Synthese miteinander eingehen.

Entgrenzung als Erlösung?

Mal leiser, mal lauter dröhnt aus der linken Bühnenecke das kalte, elektroakustische Live-Dauerbeben des belgischen Multi-Instrumentalisten Dijf Sanders, wenn sich der Künstler Vincent Glowinski aus der Dunkelheit über die Bühne hermacht. In Brüssel ließ Glowinski viele Jahre lang als urbaner Mythos namens Bonom unbemerkt riesige Kunstwerke an Hausfassaden entstehen. In München gleitet er aus dem Handstand, an einem Seil befestigt und den Kopf voraus, den über zehn Meter hohen Wall hinab und hinterlässt eine Spur aus schwarzer Farbe. Aus dieser entsteht im Laufe des Abends eine überlebensgroße barbusige Frauengestalt beim Liebesakt mit einem Satyr. Sowieso überall dämonische, behörnte Fratzenwesen. Alles ist Leinwand, nicht nur der einst so weiße Palast des Pentheus, sondern auch die Körper der Schauspieler*innen und Tänzer*innen, die mit schwarzer, weißer, später auch roter, blauer und gelber Farbe bemalt werden.

Bakchen1 560 Danny Willems uIm Rausch der Kunst: Vincent Glowinskis Live-Gemälde @ Danny Willems

Mit Farbeimern werden die Schauspieler*innen und Tänzer*innen aus Vandekeybus' Kompanie Ultima Vez auch den Palast des Pentheus im Strobo-Sturm überrennen und nur noch tobender, archaischer Körper sein. An den Haaren schleifen sie sich herum, fassen sich zwischen die Beine, heben, kriechen, wälzen, schlagen sich ins Gesicht, grunzen minutenlang, spucken, locken mit Zungen, Hintern und Brüsten. Mal sind sie obszöne Selbstbeglücker, mal winden sie sich in sadomasochistischen Pas de deux, mal werden sie sich um die eigene Achse drehendes Menschenknäuel. Sie überwältigen damit den Herrscher, der um die Allmacht seiner götzenhaft verehrten Nüchternheit bangt.

Sind es bei Euripdes die berauschten Frauen und rasenden Bakchen, die die Ordnung der Polis stören, gibt es bei Vandekeybus keine Geschlechter mehr. Bedrohung ist all das, was sich der patriarchalen Ordnung nicht beugen will,  sie stört oder sich womöglich ganz von ihr befreien will, gleich ob Frauen – Sylvana Krappatsch als Agaue mit einem zart-resignierten Monolog auf die mütterlichen Hände – Geflüchtete oder Freiheitsliebende. Als Gegenaufklärer Dionysos saugt und knabbert Niklas Wetzel erst kräftig symbolisch am westlichen, weißen Zeigefinger des Pentheus, bis am Ende doch noch sein Phallus dran glauben muss. So wie eigentlich alle ernüchtert feststellen müssen, dass Dionysos (was war er denn nun bei Vandekeybus: Rächer, Verführer, Befreier, selbst traumatisiertes Opfer?) ihren menschlichen Leiden vielleicht eine Stimme gab, ihnen aber keine Erlösung, sondern nur grausame Verwüstung brachte. Was für eine ungerechte und perspektivlose Welt.

 

Die Bakchen – lasst uns tanzen
von Peter Verhelst nach Euripides
aus dem Niederländischen von Stefan Wieczorek
Regie: Wim Vandekeybus, Choreographie: Wim Vandekeybus, Bühne: Vincent Glowinski und Wim Vandekeybus, Kostüme: Isabelle Lhoas, Komposition: Dijf Sanders, Licht: Georgij Belaga und Francis Gahide, Ton: Alexander Zahel, Dramaturgie: Götz Leineweber.
Mit: Borna Babić, René Dumont, Till Firit, Vincent Glowinski, Zoe Gyssler, Sylvana Krappatsch, Horacio Macuacua, Aymará Parola, Wolfram Ruperti, Dijf Sanders, Niklas Wetzel.
Uraufführung am 15. März 2019
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

Wim Vandekeybus ist aus Sicht von Sabine Leucht in der Süddeutschen Zeitung (18.3.2019) "weniger an einer Neudeutung des alten Stoffes gelegen als daran, ein wuchtiges Bild zu malen. Mit allen ihm verfügbaren Mitteln. Das originellste unter ihnen ist zweifellos die akrobatische und wunderbar souveräne Live-Malerei. Deren Dominanz aber macht die Guckkastenbühne eng, zumal für den Tanz, der rätselhafterweise oft weniger Platz hat als die Schauspieler." Wenn die Tänzer herumtollen, wirkt das aufgrund der Enge auf die Kritikerin wie ein geschrumpftes Zitat früherer Vandekeybus-Tumulte, die sexuelle Ekstase wie eine erotische Gymnastik, in denen Kraftlacks gewichtslose Puppen in den Schritt packen und senkrecht in die Höhe heben."

"Vandekeybus' 'Bakchen“ reißen mit. Dichte 90 Minuten lang," schreibt Vesna Mlakar in der Münchner Abendzeitung (17.3.2019). "Emotional bedachtsam gelenkt von einer Fülle physischer und lautmalerischer Ausdruckskraft, die die fünf rollentragenden Schauspieler, zwei Tänzerinnen (Zoe Gyssler, Aymara Parola) und zwei Tänzer (Horacio Macuacua, Borna Babic) zu markanten Eindrücken verbinden." Entdeckung des Abends ist für Mlakar der junge Niklas Wetzel als Dionysos. "Ein (...) Leonardo-DiCaprio-Typ. Wenn er sich im Duett mit einem Tänzer bewegt, überzeugt dies ebenso wie die Worte, mit denen er sein Gefolge in Bann schlägt."

 

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