Minus Mann Plus Frau

von Andreas Wilink

Bochum, 16. März 2019. Die Musen sprechen. Drei der Neun vertreten Gesang, Tanz, Pantomime und Dichtung. Im Schauspielhaus Bochum machen sich Erato, Kalliope und Polyhymnia einen Sport daraus, den antiken Chor zu repräsentieren und zu persiflieren, Autorität zu verkörpern und zu brechen, sich in der griechischen Mythologie mit kessem Zungenschlag zu verhaspeln, uns bei Laune und in der Helden- und Götterkunde sagenhaft lexikalisch auf dem quivive zu halten und zudem den Körperkult und Triumph des Willens kräftig zu verhöhnen.

Schicksal! Leiden! Schmerzen!

Vernichtung durch Konsum, auch durch den Körper, der – aktivisch wie passivisch – zur konsumierbaren Ware wird. Vernichtung durch den männlichen Blick, männliche Hybris, männliche Herrschaft sowie durch weiblich-mütterliches Dulden als "Gemeindeschwester", Kaffeetante und Heulsuse und auch durch Sich-Entmündigen- und Entsexualisieren(-Lassen). Davon zu erzählen, ist "Elfi Elektra" Jelineks Geschäft, zumal in ihrem "Sportstück" ohne Handlung über die Trias Sport – Krieg – Mann.

Iphigenie1 560 Julian Roeder uGeschlechterrollen ohne festen Umriss:  Lukas von der Lühe, Anne Rietmeijer und Bernd Rademacher © Julian Röder
Erzählt davon nicht auch Euripides in der "Iphigenie"? Das Personal beider (Anti-)Dramen ist umstellt von Feindesmengen. Beide Texte werden bei Dušan David Pařízek montiert – in einen. Werden zu einer mit dem Saloppen kokettierenden Kriegserklärung, die nicht das Land der Griechen mit der Seele sucht, sondern "Schicksal, Leiden, Schmerzen" in den Hirnwindungen lokalisiert, wo biosoziale Debatten angezettelt werden.

Mutterrecht und Vaterrechthaberei

Hellas' Heer wartet. Meeresstille und keine glückliche Fahrt. Der Kampf um Troja kann nicht beginnen. Iphigenie wird von ihrem Heim Argos fortgelockt nach Aulis. Aber sie soll nicht des Achills (bei Jelinek: Arnie Schwarzeneggers) Braut werden, sondern Braut des Todes. Ihr Mädchenleben ist der Preis für die Möglichkeit zum Sieg. Das ist Politik – die Triebenergie zum Großen und zur Gewalt. Was tut da ein kleines Sterben! Opfer und Täter, Mutterrecht und Vaterrechthaberei und/oder umgekehrt. Jelinek, übernehmen Sie! Bei Pařízek lassen sich ihre Satzperioden, zu Einzelstimmen isoliert, hübsch hören, erhalten die Textflächen in Dialogen geklärte Struktur.

Die Aufführung unternimmt eine Suchbewegung des Sich-Annäherns und Entfernens, Auflösens und Befestigens gegenüber Text und Figur. Ein vexatorisches Kriegs-Spiel mit Vorstoß und Rückzug, Ausweich- und Ablenkungsmanöver, Offensive, Ausfällen und Finten. Alle sechs bravourösen Darsteller*innen verdienen dafür das Goldene Sportabzeichen. Geschlechter-Rollen bleiben ohne festen Umriss. Die 'Todsünde' Familie verliert an eindeutiger Zuschreibung. Neue Kampflinien ziehen sich ein. Das Elternpaar Agamemnon und Klytaimnestra, wird von einer 'Persona' – von Jele Brückner mit intensiver, inniger Leidenschaft – verkörpert, so dass die weiblich-männliche Spaltung zur Einheit und beim Streitfall um Staatsräson und Gewissen in die monologische Ich-Krise geführt ist.

Iphigenie4 560 Julian Roeder uLicht versus Schatten, Gnade versus Hass: die Bühne hat ebenfalls Dušan David Pařízek entworfen © Julian Röder

Achill liegt bei Anne Rietmeijer als muskelbepackter Rock'n'Roll-Rammler und Adidas Champion mit sich selbst im Clinch, ohne dass es zur Vergröberung käme; es hat vielmehr – und viel mehr – Feinsinn. Svetlana Belesova bringt Menelaos und seine Nichte Iphigenie zur Deckung. Konstantin Bühler, Lukas von der Lühe und der in seinem trockenen Humor knisternde Bernd Rademacher treten als Chorist*innen zum Hausfrauenreport an.

Modelle des Überlebens

"Was bleibt, wenn die Schreie enden?" fragt Samuel Beckett in seinen "Letzten Briefen". Es bleibt die Alternative. Gegenbilder, Antithesen, Modelle möglichen Lebens und Überlebens. Hier Sonne, dort Nacht. Wenn Elektra die dem Tod angetraute dunkle Schwester ist, so die jüngere Iphigenie ihr helles Gegenüber. Dort Hass und Rache, hier Gnade; dort Nicht-Vergessen, hier Verzeihen; dort (Selbst-)Zerstörung; hier der Geist des Aufbauens; dort das Unerlöste des Tragischen, hier das Licht der Aufklärung. Aber noch dunkelt es, noch ist Iphigenie in Aulis und nicht von der olympischen Artemis gerettet in einen anderen Zeitraum: nach Tauris. In Bochum wird Belesova zwar in sich gefasst – blutüberströmt – in ihren Tod gehen. Aber da ist kein Zweifel, dass dies nicht des Dramas weiser Schluss ist.

Der hohe Bühnen-Riegel wendet sich zum Ende hin mit einem Dreh zur Spiegelwand und konstruiert so eine weitere doppelbödige Ebene, neben all den anderen: mit den vom Ensemble getragenen halben Glatzen und Masken, mit dem Transgendern, mit der Familien Auf- und Umstellung, mit dem Swingen von der Tragödie in die Satire und Abstraktion und komischerweise auch mit den von Bühler / von der Lühe mundgerecht performten Dialekten der großdeutschen Provinzen. In Bochum synthetisieren sich – intelligent verspielt und ausforschend – die Körper, die Texte, die Konflikte (von Troja bis zum Balkankrieg) und ihre emotionalen Haltungen und Haltungsschäden. Was will frau / man mehr!

 

Iphigenie
Text: "Iphigenie in Aulis" von Euripides (Übersetzung Horst-Dieter Blume) und "Ein Sportstück" von Elfriede Jelinek
Regie und Bühne: Dušan David Pařízek, Kostüme: Kamila Polívková, Dramaturgie: Vasco Boenisch.
Mit: Svetlana Belesova, Jele Brückner, Konstantin Bühler, Bernd Rademacher, Anne Rietmeijer, Lukas von der Lühe.
Premiere am 16. März 2019
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

"Während sich die Zuschauer über eine schwungvolle, kurzweilige Aufführung freuen können, die glänzend gespielt ist, muss allerdings die bange Frage erlaubt sein: Ergibt dieses kühne Unterfangen eigentlich Sinn?", schreibt Sven Westernströer in der WAZ (18.3.2019). "Oder hat Pařízek der zeitlos starken 'Iphigenie' allein womöglich nicht ganz vertraut und rührt deswegen eine Portion Jelineksche Wortgewalt unter?" Pařízek gebe sein bestes, beide Stücke in Einklang zu bringen, "und doch laufen sie über weite Strecken aneinander vorbei", so Westernströer. "Euripides behält eindeutig die Oberhand. Nur dank seiner archaischen Wucht kommt der Abend in Fluss." Interessant sei aber, "wie virtuos Pařízek die (Geschlechter-)Rollen auflöst".

"Pařízek arbeitet mit den Mitteln der Überschreibung, um das Inhumane in Euripides' Erzählung sichtbar zu machen", schreibt Ralf Stiftel im Westfälischen Anzeiger (18.3.2019). "Das Spiel überlagert die Wörter, das Überblenden ist direkt sichtbar. Da wirkt seine Inszenierung hochaktuell, sie zeigt, wie im politischen Streit die Kontrahenten um ihre Version der Wahrheit ringen. (…) Immer neue Narrative dienen dazu, den Krieg zu rechtfertigen." Der "starke Abend" oszilliere zwischen satirischen Sprachübungen und todernstem Moralkonflikt, zwischen der Ideologiekritik und feiner Psychologie, so Stiftel: "Die sechs fabelhaften Darsteller geben schon physisch alles, immer wieder absolvieren sie allerlei Leibesübungen. Der Inszenierung gelingt es tatsächlich, die Kluft zur mehr als 2000 Jahre alten Tragödie zu überbrücken und Muster zu zeigen, wie man Gewalt und Blutvergießen rechtfertigt."

"Das Ensemble läuft, wendig, gewitzt und temperamentvoll, zur Hochform auf", schreibt Andreas Rossmann in der FAZ (19.3.2019). "Die Schluss-Wendung ist, nach dem Dialog zwischen Agamemnon und Klytaimnestra, in dem die grandiose Jele Brückner beide Rollen spielt, die am stärksten berührende Szene der Aufführung." Aber sie offenbare auch das Hauptproblem von Pařízeks so ambitioniertem wie anmaßendem Unternehmen. "Der dramaturgisch genau scharnierte Versuch, Elfriede Jelinek als Aktualitätsbeschleuniger für Euripides einzuspannen, macht die 'kritischen' Absichten der Bochumer Inszenierung allzu deutlich: Als Trojaner (Trojanerin?) eingeschleust, verrät die Nobelpreisträgerin die antike Tragödie an die Gegenwart."

 

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