Haus der Hunde

von Jan Fischer

Hamburg, 16. März 2019. William Golding sagte einmal, dass Sex ihm als Motiv zu trivial erschienen sei um damit eine Geschichte über Gut und Böse zu erzählen – darauf angesprochen, dass in "Herr der Fliegen" keine Mädchen oder Frauen vorkämen. Wenn man Kay Voges' Inszenierung von "Stadt der Blinden" im Deutschen Schauspielhaus sieht, möchte man ihm nicht unbedingt recht geben. Denn die Geschichte des Literaturnobelpreisträgers José Saramago ist eine Geschichte, die, ähnlich wie "Herr der Fliegen", versucht, anhand eines Abstiegs in die Tierseele hinter der dünnen Tünche der Zivilisation etwas über Gut und Böse, über Moral und Unmoral herauszufinden. Sex gibt es aber reichlich, und Voges hat eine diebische Freude daran, diesen zu zeigen. Beispielsweise während einer Vergewaltigungsszene, Oralsex in Nahaufnahme in HD auf eine riesige Leinwand projiziert.

Blut und Scheiße

Die Geschichte geht so: In einer Stadt greift plötzlich Blindheit um sich, die Betroffenen sehen nur noch einen weißen Nebel. Die Blindheit scheint ansteckend zu sein, deshalb werden die Betroffenen in Quarantäne gesperrt – die Geschichte konzentriert sich auf eine kleine Gruppe, die in einer verlassenen Irrenanstalt eingesperrt wird, abgesichert vom Militär.

Bei Voges ist das ein zweistöckiges Haus hinter einem Bauzaun mit Stacheldraht, das sich auf der Bühne dreht und so aus unterschiedlichen Perspektiven einsehbar ist, dazu sind mehre Leinwände daran angebracht, auf denen Live-Bilder aus dem Haus gezeigt werden.

StadtderBlinden1 560 Marcel Urlaub uVideoüberblendungen auf Pia Maria Mackerts Bühnenbild für "Die Stadt der Blinden" in Hamburg  © Marcel Urlaub

Unter den Blinden im Haus geht die Zivilisation bald flöten: Es gibt nicht genug Essen, Körperhygiene ist nicht möglich, die Wasseranschlüsse funktionieren nicht. Die Kloschüssel zu treffen ist auch nicht leicht, wenn man noch nicht so lange blind ist und wer fliehen will, wird erschossen. So wälzen sich die 21 Schauspieler und Schauspielerinnen auf der Bühne bald in einer Mischung aus Scheiße und Blut, überall liegt beschmutztes Klopapier, und die Kameras halten genüßlich drauf, während das Haus sich dreht und die Apokalypse ihren Lauf nimmt.

Wie die Tiere

"Die Angst da draußen ist so groß, dass die Sehenden die Blinden töten", berichtet einmal ein Neuankömmling denjenigen, die schon länger im Haus sind. Je weiter alles fortschreitet, desto mehr werden die verdreckten, blinden Hausbewohner zu Tieren, bis sich schließlich Riivalitäten zwischen dem oberen und dem unteren Teil des Hauses entwickeln, weil vom Militär keine Essenslieferungen mehr kommen. Die Frauen aus dem unteren Teil des Hauses prostituieren sich schließlich widerwillig für den oberen Teil, um Essen zu besorgen.

StadtderBlinden2 560 Marcel Urlaub uSandra Gerling als einzig Sehende unter den Blinden, die sich von der besorgten Ehefrau zu einem verzweifelten Racheengel und dann zur Führerin einer Gruppe entwickelt © Marcel Urlaub

Die einzige Sehende in der Gruppe, die ihre Blindheit nur vorgetäuscht hat, um ihrem erblindetem Mann beizustehen, beobachtet den Abstieg der anderen. "Wir sind wie eine andere Rasse. Hunde. Wir erkennen uns am Bellen", sagt sie während einem ihrer Zwischenmonologe. "Es wäre wirklich besser, blind zu sein" während eines anderen. Schließlich ersticht sie die Vergewaltiger, das Haus brennt ab, und die Überlebenden fliehen in Standardsituationen der Postapokalypse (Essen suchen, überall Leichen) etwa 20 Minuten lang, während unregelmäßiges weißes, sehr helles Licht aufblitzt, sodass ihre Nachbilder dem Publikum auf der Netzhaut bleiben, so lange, bis alle – inklusive Publikum – wieder sehen können.

Einfache Metapher

Saramagos Geschichte basiert auf einer einfachen Metapher: Da die Blinden nicht "sehen", was Recht und Unrecht ist, fallen sie auf das Niveau von Tieren zurück. Bei Voges tasten die Blinden sich, verschmutzt, geisterhaft, durch das immer schäbiger werdene Haus, kacken und kotzen auf den Boden, pissen in die Ecken, vergewaltigen, stehlen, betrügen – und die Sehende ist dazu verdammt, sich das anzuschauen und eine lange Zeit lang ihren Zustand zu verbergen, aus Angst, erschossen zu werden oder von ihrem Mann gerennt zu werden. Verdammt dazu, kaum helfen zu können aus Angst, entdeckt zu werden.

Verschachteltes Labyrinth

An Kay Voges "Stadt der Blinden" ist vieles beeindruckend. Der Schnitt und die sanfte, aber effektive Lenkung des Zuschauerblicks durch die Bilder der Kameras. Die Arbeit mit den Projektionen, auf dem Bühnenbild die – bei der "Stadt der Blinden" durchaus angemessen – hell, dunkel, gedoppelt, manchmal in Fehlfarben über die Leinwände oder gleich das ganze Bühnenbild flackern. Das Bühnenbild, das als sichtbehindertes, verschachteltes Labyrinth vertrackte Blickwinkel und Bilder erlaubt. Die klaustrophobische Engführung zur Verwahrlosung.

Die kompromisslose Drastik, die absolute Abgefucktheit der Bilder. Das Ensemble, das – mit Ausnahme der Sehenden – gute zwei Stunden lang nicht nur blind spielt, sondern ständig in Bewegung und Aktion ist und sich dabei dem Dreck, dem Kunstblut, den drastischen Szenen Oralsex – aussetzt und dabei gerne mal nackt oder halbnackt ist. Sandra Gerling als die Sehende, die eine faszinierende Transformation von besorgter Ehefrau zu verzweifeltem Racheengel bis zur Führerin der Gruppe hinlegt. Der Nachbildeffekt am Ende, auch, wenn der zeitlich um die Hälfte hätte gekürzt werden können.

Formal kompromisslos

Mit Voges ist jemand jemand am Werk, der schauen möchte, was auf einer Theaterbühne geht und was nicht, der vermutlich auch provozieren will. Einige – allerdings nicht viele – Zuschauer verlassen auch den Saal. Denn Saramagos Roman ist auf seine Art nicht weniger drastisch, wenn, dann mehr, weil er den Abstieg langsamer erzählt und mindestens ebenso gnadenlos. Er ist auch formal nicht weniger kompromisslos – größtenteils ist der Romane eine Textfläche, die kaum durch Absätze und gar nicht durch Anführungszeichen bei wörtlicher Rede stukturiert wird.

Voges Umsetzung davon sind einerseits die Nachbilder am Ende, andererseits aber die ständigen Aktionen, die überall im Haus passieren – eine installative Handlungs- oder Aktionsfläche, wenn man so will. So gelingt Voges mit seiner postapokalyptischen Hausparty der Körperflüssigkeiten eine kluge Übertragung – mit einem Ensemble, das viel erdulden muss, aber eine beindruckende Leistung dabei hinbekommt.


Stadt der Blinden
von José Saramago
Regie: Kay Voges, Kostüme: Mona Ulrich, Bühne: Pia Maria Mackert, Bühnenbildmitarbeit: Mara Henni Klimek, Director of Photography: Voxi Bärenklau, Videoart: Robi Voigt, Komposition: Paul Wallfisch, Live-Kamera: Philip Jestädt, Marcel Urlaub, Live-Videoschnitt: Martin Langhof, Live-Grading: Severin Renke, Video: Alexander Grasseck, Peter Stein, Antje Haubenreisser, Soundsampling: Dominik Wegmann, Ton: Shorty Gerriets, André Bouchekir, Christian Jahnke, Dramaturgie: Bastian Lomsché.
Mit: Ali Ahmad, Irene Benedict, Patrick Berg, Muriel Bielenberg, Antonia Dreeßen, Ralf Drexler, Carlotta Freyer, Sandra Gerling, Josefine Großkinsky, Rosemary Hardy, Jonas Hien, Christoph Jöde, Markus John, Matti Krause, Philipp Kronenberg, Greg Liakopoulos, Jannik Nowak, Maximilian Scheidt, Julia Schubert, Jakob Walser, Michael Weber.
Nur im Film: Andreas Beck, Linda Zervakis.
Premiere am 16. März 2019
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.de

 

 

Kritikenrundschau

Voges inszeniere den Abend "mit einer wilden, bisweilen auch fragwürdigen Entschlossenheit, das Grauen wirklich bis in alle Winkel auszuleuchten", so Maike Schiller im Hamburger Abendblatt (18.3.2019). "Fäkalien, Blut und Kotze überall, auf den Körpern, auf den Böden. Die mit vorgestreckten Armen Umhertastenden erinnern an eine Horde Zombies." Theater als Live-Film, alles passiere parallel und im Moment. Voges spiele gekonnt mit der Überwältigung und Überforderung der Sehenden. Das Ensemble gehe an Grenzen, beeindrucke nicht nur emotional, sondern auch logistisch. "Der Abend ist konzentriert, handwerklich enorm präzise und formal nahezu perfekt gebaut." Allerdings scheine sich die Inszenierung an der Drastik der Vergewaltigungsszene zu weiden.

"Voges hat sich entschieden, für die Höllenfahrt großes Kino zu zeigen als Vergrößerung und Vergröberung dessen, was die Schauspieler auf der Bühne verhandeln", schreibt in der Welt (18.3.2019). Saramago sei in seinem Roman ja auch nicht zimperlich.

Kay Voges gelinge etwas Erstaunliches: "Er schafft es, in der Erzählung dieser apokalyptischen Parabel Schönheit und Grauen zugleich zu erfassen", schreibt Katrin Ullmann in der taz (19.3.2019). "Mitten im um sich greifenden Elend, mitten im Schmutz und Hass, der sich in der Gefangenschaft jener Blinden grausam schnell ausbreitet, hält Voges die Kamera zwar auf die dreckige, menschliche Realität, schafft aber zugleich auch alptraumhaft schöne Tableaux vivants." Zumindest im ersten Teil des Abends funktionierten die Romanerzählung und der Live-Film. Später verhake sich Voges leider in überflüssigen Ausführlichkeiten.

Gespielt werde mit immenser Einfühlung, mit viel Schweiß, Emotion und Tränen. "Denn dem enormen technischen Aufwand und dem expressiven Soundteppich von Paul Wallfisch zum Trotz feiert ein ausgeprägt drastischer Naturalismus fröhliche Urständ", schreibt Irene Bazinger in der FAZ (20.3.2019). "Der multimediale Bilderrausch ist von Kay Voges kalkuliert ekelhaft inszeniert, aber konsequent gedacht." Voges zeige eindrucksvoll spannendes, spektakulär ausgebautes Überwältigungstheater.

Was Voges den Zuschauern an Gewalt zumute, sei getragen vom Zorn eines Propheten, "der den Menschen ein schlimmes Schicksal zeigt, um sie vom rechten Glauben an die Menschlichkeit zu überzeugen", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (20.3.2019). "Man mag Voges' Schock-Pädagogik und die wenig komplexe Moral seiner Botschaft, dass Menschen auch unter schlimmsten Umständen ihre Würde wahren sollten, als Holzhammermethode ablehnen." Aber seine Überwältigungsregie sei überzeugend konsequent und schlüssig in ihren anstrengenden Mitteln. "Sie macht die Grausamkeit realer Politik, an die man sich als abstrakte mediale Normalität aus Syrien, dem Kongo oder China zu gewöhnen droht, in einem Maße nachvollziehbar, wie es selten zu erleben ist im Theater."

 

Kommentare  
Stadt der Blinden, HH: Grenze des Sag- und Vorzeigbaren
Kay Voges inszeniert am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg „Die Stadt der Blinden“ des linken portugiesischen Schriftstellers José Saramago, einem Meister des apokalyptischen, politischen Romans. Der Roman ist eine gewalttätige Endzeitparabel über unsere Gesellschaft. Der allgemeine Verlust des Augenlichts wird zur Allegorie für die gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese fiktionale Verfremdung der Wirklichkeit soll eine Warnung erteilen. Sie handelt von einer unaufhaltsamen Blindheitsepidemie und der Unfähigkeit der Opfer, solidarisch zu handeln. Abgeschoben in eine leerstehende Irrenanstalt, bilden sie eine Notgemeinschaft, die bald zu einer bestialischen Gesellschaft entartet. Kay Voges inszeniert „Die Stadt der Blinden“ im Stil seines Manifestes „Dogma 20_13“, indem es um die Verzahnung zwischen Live-Bühnen-Film und Theater geht. Diese Inszenierung ist kein psychologisches Seelendrama einzelner Personen, sondernd das Drama einer Gesellschaft, die immer tiefer in die Katastrophe hinabrutscht. Sie zeigt wie Menschen in Krisensituationen ihren primitivsten Instinkten folgen und diese sie geradewegs in die Asozialität und Inhumanität führen. Dieser Part ist Herzstück der Inszenierung und intensivste Vision der humanitären Verwahrlosung und Verrohung und wird mittels eines extrem bildgewaltigen düsteren und beklemmenden Alptraums auf die Bühne gebracht. Voges geht an die Grenze des Sag- und Vorzeigbaren und folgt konsequent Saramagos Schreckensvision. Dies gelingt ihm durch das exzellente Filmteam: Voxi Bärenklau (Director of Photography), Robi Voigt (Videoart), Paul Wallfisch (Komposition), Philip Jestädt, Marcel Urlaub (Live-Kamera), Martin Langhof (Live-Videoschnitt), Severin Renke (Live-Grading) und Alexander Grasseck, Peter Stein, Antje Haubenreisser (Video). Die Bilder, die dieses Team liefert erinnern mich an Fellini-Filme und haben eine eigene bisher nicht erfahrene Bilderkraft. Für mich das Stärkste und Beeindruckendste in dieser Inszenierung. Trotz dieser drastischen, bedrohlichen Bilder entfaltet Voges auch Humor – schwarzen Humor und Sarkasmus – um die drastischen Bilder die kaum erträglich sind, auszuhalten. Auch wenn „Die Stadt der Blinden“ kein Seelendrama ist avanciert die Frau des Arztes (Sandra Gerling) zum tragischen Fluchtpunkt für den Zuschauer. Inmitten von Menschen, die sich in der Not nicht helfen, noch verbünden, sondern niederträchtig den eigenen Vorteil nutzen und von Gier getrieben sind, hadert sie mit ihrem Schicksal und verharrt zu lange, mit sich selbst ringend, da auch sie von Egoismus und Charakterschwächen nicht frei ist. Sandra Gerling ermöglicht dem Zuschauer sich auf diese Gefühlslagen einzulassen. Dann kommen zum Schluss die schwierigsten zwanzig Minuten des Stückes. Folgt Voges dem Autor Saramago und macht aus der Dystopie noch eine Utopie, da Hoffnung aufleuchtet: „ein bisschen Hoffnung. Vielleicht überleben wir ja unseren eigenen Untergang.“ Die letzten Szenen der Blinden spielen im Wechsel zwischen Dunkelheit und einer gleißenden, aufdringlichen Helligkeit, die klares Sehen nahezu unmöglich macht, als Versuch Sehende zu Blinden zu machen. Ein Konzept, das in meinen Augen nicht emotional stark genug greift. In der Konzentration auf die zur Stärke gereiften Frau des Arztes und doch so tief verletzte Protagonistin, die am Ende blind wird, wenn alle anderen wiedersehend werden hält Voges aber die Ambivalenz zwischen Dystopie und Utopie. Voges ist es gelungen zu zeigen auf welch wackeligen Beinen die Errungenschaften der Zivilisation stehen und wie schnell kultivierte Menschen zu Bestien werden. Kay Voges hat José Saramagos Intention „Ich glaube nicht, dass wir blind geworden sind. Ich glaube, wir waren schon immer blind. Blind, und doch sehend. Menschen, die sehen können, aber nichts sehen.“ überzeugend umgesetzt und eine beeindruckende Inszenierung geschaffen. Das Regiekonzept „Dogma 20_13“ gibt dieser Inszenierung die nötige Kraft für diese Schreckensvision.
Stadt der Blinden, Hamburg: Pressespiegel
"Die Spannung war schon vorher spürbar. Jeder, der sich mit Theater auskennt, hatte diese Premiere ganz oben auf seinem Zettel." So leitet Susanne Oehmsen ihre Premierenkritik im Flensburger Tageblatt vom 18.3.2019 ein und kommt im Verlauf dieser zu einer Wertung, welche der Nachtkritik, der Kritik in der Süddeutschen, der taz und der WELT hinsichtlich der Konsequenz (und Umsetzung) des Unternehmens und in seinen wesentlich positiven Zügen entspricht, auch wenn sie gleichsam ihre eigenen Worte zu dem Topos "Überwältigungstheater" findet, in ihrem Fazit, das wie folgt lautet: "Mit dieser Technik und einem 18-köpfigen Ensemble schafft Voges konsequent eine neue Form von Realismus, der das Geschehen mit seinen Bilderfluten illustriert, der den Zuschauer aber auch zuballert und ihm keinen Raum zur eigenen Deutung, keine Sekunde zum Nachdenken gönnt. Das Unaushaltbare der Romanvorlage übersetzt sich direkt in den Theaterraum. Das kann man mögen oder ablehnen. Kalt läßt diese Inszenierung niemanden. Viel Beifall und viel Gesprächsbedarf."

Nun ja, "das kann man mögen oder ablehnen" klingt zunächst nach einer bloßen Geschmacksfrage, zum Beispiel, wie man es mit der Explizitheit der Bilder , ua. bei den Gewaltdarstellungen, hält (einige Kritiken, so vor allem Maike Schiller, von der sich im übrigen (Hamburger Abendblatt vom 13.3.2019) noch ein Vorpremiereninterview mit dem Regisseur finden läßt, thematisieren dies -auch im Zusammenhang mit dem einen oder anderen Fall des vorzeitigen Verlassens der Vorstellung seitens des Publikums-), die Behauptung des zweiten Teils
ihrer Schlußaussage zur Inszenierung , "Kalt läßt diese Inszenierung niemanden", durch Susanne Oehmsen geht da um einige Grade drüber hinaus und bildet mit dem oben vorangestellten, ebenfalls behauptenden !, Einleitungssatz letztlich den Rahmen einer positiven, sogar eigentlich im Ergebnis sehr positiven Kritik, denn hören wir es wirklich so oft aus einer Kritik heraus, daß viel Gesprächsbedarf bestehe, sich auftue ?? Lese ich den Einleitungssatz zum Pressespiegel, den Nachtkritik hier zusammengestellt hat, so kommt mir dieser eigentlich auch so vor, als gingen die einzelnen KritikerInnenstimmen an dieser Stelle (produktiv oder nicht) recht weit auseinander; in der Konsequenz lese ich aber darunter keinen Verriß und vielmehr ziemlich ähnliche, letztlich durchweg positiv konnotierte Quintessenzen, und beziehe ich mich nochmals auf obigen Einleitungssatz Susanne Oehmsens muß ich darüberhinaus feststellen,
daß es scheinbar dann doch nicht so war, daß diese Premiere ganz oben auf den Zetteln der TheaterkennerInnen gestanden ist bzw. solche nicht die Redaktionsarbeit beispielsweise der Kieler Nachrichten oder Lübecker Nachrichten bestimmen durften, denn, was einen SH-Pressespiegel angeht, finde ich lediglich die hier umrissene Oehmsen-Kritik und einen NDR-Vorbericht (Landesprogramm) vom 15.3.2019, bislang jedenfalls, und auch überregional fehlen da noch einige Stimmen (Deutschlandfunk, Deutschlandradio Kultur, Frankfurter Rundschau etcpp.). Zu meinen eigenen Erfahrungen mit diesem Abend dann später; soviel aber kann ich sehr wohl an dieser Stelle schon anmerken, daß man sehr wohl Gelegenheiten hat an diesem Abend, wie ich finde, und nicht minder, wenn dieser sich in einem so zu setzen beginnt, anhand dieses Abends, allerlei (teilweise sehr unterschiedlich gelagerte) Erfahrungen zu machen, die im Ansatz jenes Diktum vom "Gesprächsbedarf" verständlich werden läßt, wenn auch wohl als "Gesprächsmöglichkeit", denn, so wenig Spielraum diese Inszenierung dem Publikum geben mag im Zuge der schnurrenden Maschinerie des laufenden Abends, so viel Spielraum dürfte es für phänomenologisch grundierten Erlebnis- bzw. Erfahrungsaustausch danach geben, ob ich den Abend (selbst) nun sonderlich mochte oder nicht (mich ließ er zunehmend erkalten und garnicht sonderlich anders empfinden als bei "Die Übriggebliebenen").
Stadt der Blinden, Hamburg: Steine im Weg
Um etwas von diesen Erfahrungen zu illustrieren bemühe ich mich an dieser Stelle um so etwas wie "Schlaglichter" vom Anfang, von der Mitte, vom Ende der Inszenierung her. Zu diesen "drei Akten" fallen mir jeweils Fragen oder Aussagen meinerseits ein, die ein wenig veranschaulichen helfen könnten, wie vielfältig das ist, was durch diesen Abend angeregt wird.
Was fällt mir zum Anfang ein ?
Naja, ich erinnerte mich zunächst noch lebendig an eine Kritikerinnenstimme zur Inszenierung von Tracy Letts ("Eine Familie",
23.2.19, Thalia-HH) bezüglich des Vorhanges, und ich fand einen solchen (mit dem Schriftzug "Stadt der Blinden") auch hier, allerdings vor diesem Vorhang noch einen hohen Drahtzaun, wie er wohl geschlossene Anstalten, Kasernen, Gefängnisse, kurzum: für die Öffentlichkeit nicht bestimmte Areale umgibt. Sollte im späteren Verlauf wegen des Lärms, der "Hystrerie", der Aufmerksamkeitslenkung
durch die Kamera und sehr bald auch durch die in der Tat zuballernde
Ladung an Schauwerten zu auch ansonsten durchwirkender Beschallung, die Beobachtung den Saal verlassender Personen, es waren auch im 2. Oberrang einige, nicht sehr viele, trat noch hinzu, die Reflektion des Geschehens oder gar V-Effekt-(zeit-)adäquate "Interpretation" des Erlebten gen Unmöglichkeit gehen, so bestand zum Anfang noch alle Muße, sich mit diesem "Zaunsymbol" auseinanderzusetzen, wenngleich freilich ohne irgendeine Anschauung dessen, was einen so erwarten würde. Insofern wundere ich mich, wie das gelegentlich so geht, zunächst ein erstes Mal darüber, von dieser ersten Verunsicherung in den Kritiken nichts zu lesen. Eine 4. Wand, die das Publikum vom Geschehen auf der Bühne trennt, nun ja, das kennt man wohl, aber ein Zaun, hinter dem erst gespielt wird, gar von Schauspielern, die quasi durch uns in Haft genommen scheinen, scheint etwas Anderes zu sein. Leistet sich unsere Gesellschaft Schauspielende in einer gewissen Analogie zur Quarantäne ? oder symbolisiert dieser Zaun irgendwie auch den Charakter der Unternehmung, als "Auftragswerk" "Die Stadt der Blinden" in Bühnenrealität zu übersetzen, der offenbart möglicherweise, daß auch jenem Dogma 2013 hier Grenzen , Zäune, mindestens offene Ausforschungsnotwendigkeiten, mithin "Probleme" genannt, wie Steine im Weg liegen mögen. Zwar wird dieses Dogma in verschiedenen Kritiken (dankenswerterweise !) genannt, aber dabei irgendwie auch unterschlagen, in wie vielen Punkten diese Inszenierung eklatant gegen diese "Regeln" verstößt: von wegen, zB. Paragraph 4, daß ein Kameramann der größte Feind dieses neuen Kino-Theaters wäre (und eine Zufallskamera geboten, fast so, als müßte man als eigentlichen DOGMA-Film "Lisbon Story" von Wenders betrachten, ein Film, der bislang kaum als Wendersches Meisterwerk gelten durfte), oder nur Livemusik begleiten dürfe, und auch einen vorher abgedrehten Film, die Nachrichtensendung zum Anfang, können wir finden, der ebenfalls das besagte "Keuschheitsgelübde" verletzt !
Nun ja, diese Regeln so 1:1 ernst zu nehmen, fällt wohl ohnehin den wenigsten ein, und die besagten "Steine" im Weg fordern wohl den einen oder anderen Kompromiß. Aber, zweifach nach Goethe, auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man etwas schönes bauen (zitiert nach der Cafeteria im Cafe-Turm der "Psychatrie" in Gehlsdorf -Rostock-, wo dieser Spruch an der Wand prangt), wenn man nur auf der Bühne nicht spart an großem und kleinen Himmelslicht, Donnerschlag und Gewittereffekten. Das Ragout heißt dann etwa "Im Ergebnis zeigen wir das, was der Roman auch zeigt, und vergleichbar schonungslos !" Und dieses Ragout wird kritikerseits allgemein goutiert, als konsequent übersetzt, wobei die Frage danach, wie man so zu besagten Ergebnissen gelangt ist, seltsam unterbelichtet bleibt. Und was fällt mir zur "Mitte" des Stückes ein ? Eine Frage vor allem: "Wo habe ich bloß die ganze Zeit hingesehen, auf welchem Wege ist das hier plötzlich alles so schmutzig und unrein geworden ??"
Stadt der Blinden, Hamburg: Anfang-Mitte-Ende
Zugegeben, diese Frage stellte sich mir erst so richtig, als dieser Abend sich bei mir zu setzen begann; aber, daß ich mir sie nun tatsächlich stellen muß, rechne ich den Abend mindestens als Verdienst an; irgendwie hat er halt geschafft, mich auf der einen Seite bei der Stange zu halten und offenbar auf der anderen irgendwie "auszutricksen", zu blenden, so daß -wie es Voges im Vorinterview auch "ankündigt"- ein zweiter Besuch der Veranstaltung möglicherweise auf diese Frage konzentrieren würde und, möglicherweise dazu auch noch im Parkett sitzend, ein völlig anderer Abend dabei herausschauen könnte, im Rahmen des Zaunes, versteht sich. Der Nachtkritiker spricht auch von (möglicher) "Installativität". Diese ist der Hintergrund für das Prä eines phänomenologischen Inszenierungsverständnisses, das ich in meinem ersten Kommentar ansprach (bei SIGNA-Installationen ist dieser Aspekt natürlich viel stärker ausgeprägt, und die Filmdateien aus "Das halbe Leid" dürften , "Auszüge" davon ließen sich Ende Januar auf der Kampnagel-Konferenz "Together Text" (Referentin -die ehemalige Chefdramaturgin und Initiatorin von "Flächenbrand" und "Feuertaufe" vom Kieler Schauspielhaus- : Karin Nissen-Rizvani; aber, ein wenig war ich an diesem Abend auch auf meinen Beobachtungsstand ("Das halbe Leid") unterhalb der "Frauentreppe", der Hochetage meines Sheriff 2-Dobbelbettes zurückgekehrt; auch Jan Fischers Titel "Haus der Hunde" tippte ja zusätzlich jene anderen Hundehäuser an, in der Wiener Faßziehergasse bzw. in der Kölner Herkulesstraße) sehen). Doch ich schweife ab. Die Mitte also: "Wo kommt plötzlich der ganze Dreck her ?" Und das Gefühl jetzt ganz ähnlich jenem "Kontrolltick"-Gefühl, das Lars von Trier desletzt nach dem 2. Mord Jacks in "The House that Jack built" ausmalte, nur, daß der Dreck ja wirklich da ist. Und, wo ich schon von "Phänomenologie" sprach; was mich zu meiner Zeit als Student der Philosophie und auch späterhin bei den Phänomenologen immer wieder anregte, war diese Atmosphäre aus Ruhe, Sachlichkeit und Neugier; und genau diese Atmosphäre fand ich irgendwie auch im 2.Oberrang vor (und auch diese halte ich der Inszenierung zugute, die mich keineswegs vollends überzeugte, dazu hoffentlich später), selbst
jene Personen, die gingen, schienen weniger beleidigt, erbost, gekränkt als es sonst der Fall ist, so nahm ich das wahr jedenfalls, und auch das Unmutsstöhnen bei den "Gewaltszenen" war kaum zu vernehmen, nichts "Borniertes" in dieser Hinsicht (die, die gingen, hatten schlicht genug gesehen; was mir mitunter ja sehr verständlich war, so daß ich mich kurz auf ihren Abgang besinnen konnte).
Und das Ende ? Was ist meine Frage, mein Statement zum Ende ?? Eigentlich dies: Es wäre überwältigend (schön) gewesen und für meine Begriffe irgendwie genau meiner Stimmung entsprechend, hätte das Publikum dann die Ruhe im Saal ausgreifen lassen, um dann still, gesetzt, auf sich verwiesen den Saal wie nach dem Abspann eines Kinofilmes beifallslos zu verlassen; leider machten sich viele, der Konvention folgend, klatschend "frei", aber der Zaun war ja auch zuvor eingerissen worden..
Stadt der Blinden, Hamburg: Hingehen!
Die Lektüre der diversen Kritiken zu Die Stadt der Blinden bewirkten vor der von mir besuchten Aufführung am 21. 3. ein Unwohlsein angesichts von Beschreibungen wie „Blut und Scheiße“, „suhle sich geradezu in Bildern von Vergewaltigungen, Oralsex, Fäkalien“. Selbst wenn man diese Inszenierung so sehen will, es wird etwas wesentliches ausgeblendet: es ist Theater, die eingesetzten Mittel deuten etwas an und es gibt keine sichtbare Vergewaltigung sondern der Zuschauer wird in die fatale Lage versetzt, wie reagiere ich selbst als Zeuge dieser Seelenpein; oder Oralsex: für ca. 1,5 sec ist am unteren Bildrand etwas zu sehen, was mit viel Phantasie als Penis interpretiert werden könnte, warum ist das für eine Kritik so wichtig, andere Inhalte werden aber links liegen gelassen. Bei mir hat diese Vorstellung nicht Ekel oder Abwehr bewirkt sondern Empathie mit den betroffenen Menschen.

Es ist richtig, der zivile Umgang leidet angesichts der sinnlichen Einschränkungen und der von außen kommenden Reglementierung, das ist logisch und in mancher realen sozialen Konstellation erwartbar und zu beobachten. Auch die Spaltung in Machtgruppen, die oben und die unten, ist zwar ein vereinfachtes Gut-Böse-Schema, aber nicht nur hier eine immer wieder verwendete Konstellation.

Anstatt vordergründig auf fragwürdig einseitige Sprache zu setzen und so manchen von dem Besuch dieses herausragenden Stückes abzuschrecken wäre es meiner Meinung nach angemessener, herauszustellen, wie sich in der unteren Gruppe in entscheidenden Situationen ein humaner Widerstand Bahn bricht: Eine der Frauen stirb in Folge der Vergewaltigung und wird in einer zärtlichen Handlung von den anderen Frauen gewaschen oder: als das Essen von oben von einem Freiwilligen geholt wurde, ist der erste Impuls einiger Männer, zu nehmen was sie kriegen können, durch eine einzige Ansage, die „Frauen essen zuerst“ eingedämmt. Der Hoffnungsschimmer entfaltet sich also nicht erst in der Schlussszene.
Für mich ist Die Stadt der Blinden die eindeutig in Form und Inhalt stimmigste und in seinem politischen und humanitären Gehalt wichtigste Inszenierung am Schauspielhaus in dieser Spielzeit, der ich eine umfassende Wirkung (nach einer guten pädagogischen Vorbereitung auch bei älteren Schülern) wünsche.
Den etwas müden Aplaus in meiner Vorstellung führe ich auf den noch unverarbeiteten Eindruck beim Publikum nach diesen zweieinhalb intensiven Stunden zurück. Ich schicke dem auf diesem Wege ein lautes Bravo hinterher.
Stadt der Blinden, Hamburg: Im Rang
Ich sass 2.Rang-1.Reihe =grandios: Direkt gegenüber gleiche Höhe riesige Videowand auf der das ganze Geschehen ablief. Gleichzeitig konnte ich bis in den hintersten Winkel des sich dauernd drehenden wunderschönen Krankenhauses blicken und alle Darsteller beobachten und vor allem die beiden Kameramänner,die ja ununterbrochen durch das Haus schleichen mussten um die gerade aktiv agierenden Darsteller aufzunehmen -immer!Für die Darsteller ebenso schwierig,da sie ja auch immer (blind spielend)an anderen Ecken auftauchen mussten. Die Geschichte als solche hat mich garnicht mehr interessiert,war mir auch zu naiv in den Aussagen,aber das Gesammtgeschehen zu beobachten - lohnend! Auf in den 2.Rang!!!
Stadt der Blinden, Hamburg: Plädoyer?
Der Zuschauende Lieneweg beschreibt sehr eindrucksvoll in wenigen Zeilen worin sein Vergnügen am Theater bestanden hat. Mit dem Blick aus dem zweiten Rang! Eine Geschichte und etwa ein sensibles, differenziertes Spiel der Schauspieler haben ihn nicht interessiert, aber alles andere, also der äußere Aufwand.
Das liest sich wie ein Plädoyer für die Abschaffung des (Schauspiel-)Theaters?
Peter Ibrik
Stadt der Blinden, Hamburg: abgelenkt
Antwort auf #7. Der Lieneweg ist eine sie und das was ich schrieb ist eigentlich ein Plädoyer FÜR das Schauspieltheater! Ich war so abgelenkt durch all das was ich vom Rang aus sah,was mit dem Schauspiel,das ich sehen wollte,nicht mehr viel zu tun hatte.Und es stellt sich mir die Frage an die Zuschauer - deshalb der Ruf "auf in den zweiten Rang"- "Was will ich im Theater? Will ich Schauspieler sehen oder will ich sehen,was alles an Möglichkeiten gegeben werden kann?!
Stadt der Blinden, Hamburg: schwere Kost
Nach einer Stunde mussten wir den Saal verlassen. Nicht auszuhalten, hat nichts mit einem schönen tollen Samstagabend Tgeaterbesuch zu tun. Sicherlich tolles Bühnenbild, sehr gute Schauspieler, aber sehr schwere Kost
Stadt der Blinden, Hamburg: Schauspielertheater
Zweifellos verdienen die von Poster "Wolf" (Nr. 5) genannten Szenen, die ich auch sah, inhaltlich Erwähnung; sie machen in etwa den Kern dessen aus, was wir in der Kritik Till Brieglebs als "wenig komplexe Moral" (und mit dem Holzhammer beigebracht) -auch für meine Begriffe ein wenig unter Wert- bezeichnet finden können; ich sehe nicht so recht den Zwang, diese Szenen nun auf einen moralischen Appell reduzieren zu müssen, und ich finde es vom Setting her folgerichtiger im Grunde, daß das (vermeintlich) Gute an dieser Stelle nicht ähnlich gespenstisch automatisch geradezu vor sich gehen würde wie das Böse (oder Schlechte ?!) zuvor; freilich wird jener einseitigen und für meine
Begriffe -hier teile ich wohl die Richtung des Briegleb-Einwandes-
unterkomplexen Moral-Lesart irgendwie auch Vorschub geleistet
durch die Art und Weise, wie die auf Bildproduktion fixierte Regie
teilweise empfindlich das Spielerische , das Schauspiel(er)theater einkassiert bzw. verunmöglicht und schauspielerische Energien auf vorausgedachte Bildmomente verdünnt, so daß auch von der zwangsläufigen Entwicklung der Romanvorlage im Sinne einer irgendwie stringenten Entwicklung , geschweige denn von "Spannungsbögen", kaum etwas übrig bleibt; der Regisseur nimmt sich von Bildeinfall zu Bildeinfall das von seinen Akteuren, was er braucht, und gibt dem Haus immer mehr etwas von einem Puppenhaus (wer das Dogma 2013 liest, findet diesen Regiestil und diese Form der Kameraführung gerade als den worst case dargestellt im Grunde; auch verträgt sich das Diktum
des neunten Dogmaparagraphen explizit nicht mit der entschiedenen Mikrokosmik des Romanes - zumindestens Kritiken, die an dieser Stelle das Dogma bemühen, sollten darauf eingehen, auch wenn, wie gesagt, die Paragraphen sich eher wie ein Scherz ausnehmen). Was der "Morallesart" leider auch zuarbeitet, ist tatsächlich jene sehr zeitgeistige Präsentation des Bösen als etwas, was hier offensichtlich den Männern vorbehalten ist; zudem ist der V-Effekt hier eher Verwässerungsefffekt: der Naturalismus , den Irene Bazinger beinahe moniert, beißt sich immer wieder empfindlich mit willkürlichen Setzungen, worüber die eine oder andere Figur plötzlich nachzusinnen in der Lage ist , von einer Sekunde vom Panik- in den Selbstanalysemodus wechselnd und zurück, ohne irgendeine Phase durch "Grautöne" zu gewähren; geradezu Gebrauchsnaturalismus und Antipsychologie wechseln, auch das Individuelle letztlich garnicht aufkommen lassend für das Gefühl.
Und, "Wolf", die Frage ist doch letztlich schon, worin am Ende jene "Hoffnung" bestehen soll; eine Blinde bleibt unter wieder Sehenden,
und diese mag auch nur so einer Art "Marienerscheinungsdynamik" gefolgt sein, überall Leichenberge und Verwesungsgestank, Theodizee und Anthropodizee negativ bis recht negativ beantwortet ?.. post scriptum: Ich lese letztlich aus keiner Kritik das heraus, lieber "Wolf", was Sie letztlich abgeschreckt haben hätte können aus den Kritiken, sondern sehe ziemlich durchweg positive Quintessenzen der Kritikerbewertungen des Abends (verstand deswegen ja auch das geteilte Echo in der Pressespiegeleinleitung bei der Verlinkung durch nk nicht), auch bei Maike Schiller und Till Briegleb.?
Stadt der Blinden, Hamburg: Was soll das?
Kann mir jemand erklären, warum die einzig Sehende, die, die sich aufgeopfert hat, die Heldin, am Ende blind wird? Ist das nicht ein totaler Widerspruch, den auch J. Saramago in seinem Buch nicht auflöst ... und die Blinden werden wieder sehend? Als 'Belohnung' wofür?
Was soll denn dann das Ganze (Theater)? Das gegen Ende tatsächlich sich zu lang hinzog und, als endlich Schluss war, sich eine gewisse Heiterkeit bei den jungen Leuten, hier im ersten Rang zumindest, einstellte. Warum auch immer. Eine Art von Gegenreaktion, gespeist vom Unglauben an das, was sie gesehen hatten? Oder einfach nur die Befriedigung, mal wieder mit dabei gewesen zu sein, bei etwas, das, zumindest in den diversen Kritiken, als spektakulär und überwältigend bezeichnet wird.
Hinaus in die kühle Hamburger Nacht!
Stadt der Blinden, Hamburg: Stille im Köcher
Nun ja, liebe Fragende, zu diesem Kniff am Ende kann ich natürlich auch nur mutmaßen. Ich denke, es geht schon darum, die didaktische Wirkung der Inszenierung (was bei Briegleb halt die "unterkomplexe Moral" wäre)
gewissermaßen einzudämmen, indem man dem (sehenden, wie alle anderen bis auf jene "Heldin" sehenden) Publikum die Identifikation mit der
Augenarztgattin (welche, frei nach Kafkas "Die Forschungen eines Hundes", dem Volkskreis entzogen ist, oder , wie es im Mahler-Lied der Inszenierung heißt, der Welt abhanden gekommen) verwährt. Das Publikum soll an dieser Stelle, denke ich, mit der dystopisch-kritischen Masse jetzt und hier ineins fallen, die Frage, ob wir nicht "solche Sehenden", quasi die eigentlich Blinden, schon hier und heute und aktuell sind, ob nicht auch der "Sonderfallcharakter einer Dystopie" uns davon ablenken, uns blenden könnte bezüglich dessen, war wir an der kühlen Hamburger Luft und im Alltag so treiben mögen. Bei der Premiere hat das Ende für eine lange Sekunde eine Stille im Köcher gehabt, welche ich zB. letztlich auch dafür ursächlich sehe, warum Herr Briegleb letztlich zu seiner Positivbesprechung des Abends kommt, eine Stille, die ich gerne länger (gesehen ?, gehört ??) hätte, zumal: wann wird im Kino schon geklatscht ??
Stadt der Blinden, Hamburg: am Ziel vorbei
Stadt der Blinden hat am Ziel vorbei geschossen. Technisch zwar beeindruckend inszeniert, jedoch auf Kosten der Nahrbarkeit zu den Figuren; alles zu videolastig. Zu dem hat die Regie es auf intellektueller Ebene nicht geschafft die Essenz der Geschichte auf die Bretter zu bringen.
Wir alle sind Seher in einer Welt voller Blinder, so kommt es uns zumindest vor. Aber was machen wir aus den Erkenntnissen im Alltagskampf. Werden wir politisch aktiv, helfen wir unseren Nächsten? Zeigen wir Verantwortung?
Im Stück wird dies nur in Dialogen oder als die große Metapher, auf die man gefälligst selber stößt, behandelt. Die ureigene Qualität des Theaters, gespielte Figuren unmittelbar zu machen, für die Effekthaschei und für die Flucht ins binldgewaltige verspielt.
Der Konflikt geht leidig unter. Stattdessen will uns das Theaterstück zeigen, dass es gegen Filme konkurrieren kann. Kann es aber nicht. Es muss wieder der Mensch in den Fokus, weg mit der Dekoration.I
Stadt der Blinden, Hamburg: vom Verlöschen
(...)Denn auch das ist dieser Abend: eine Übung im neu, im hin und im weg Schauen. Die Blindheit der Protagonist*innen spiegelt sich in ihrem Gegenteil, der Vervielfachung der Bilder, der Multiplizierung des Zuschauerblicks. Und am Ende eben in seiner Auslöschung und Neuentstehung. Die Welt, die hier entsteht, ist eine, zu der jeder Zuschauer seinen eigenen Zugang, seinen Blick, seine Perspektive suchen und finden muss. Wo sieht man hin, wo weg, was sind die Grenzen des Zumutbaren, wo endet das Sichtbare, wo beginnt der (Alb)Traum? Und so transformiert Kay Voges am Ende die so einfach erscheinende Parabel über die Alltäglichkeit und so leichte Herstellbarkeit des Bösen in eine Reflexion über die Anschauung der Welt, ihre Formung durch den Blick auf sie, ihr Verlöschen, wenn er versagt. Am Schluss erblindet die einzig sehende, während alle Anderen ihr Augenlicht wiederfinden. Wie sehen wir und was, wenn wir in die Welt blicken? Und kann das Theater diesen Blick schärfen, hinterfragen, bewusst machen? Kay Voges wird nicht müde, es zu versuchen. Mit Die Stadt der Blinden gelingt ihm ein weiterer fesselnder und sich – buchstäblich – in die – visuelle – Erinnerung des Publikums einbrennender Versuch.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/06/03/eingebrannte-bilder/
Stadt der Blinden, Hamburg: stringent
Ein Abend starker Bilder mit Live-Video-Großaufnahmen, der von überzeugenden Hauptdarstellern (Sandra Gerling als Sehende unter den Blinden und Maximilian Scheidt als Anführer der Terror-Gang) und dem hervorragenden Saramago-Text getragen wird.

Eine für Kay Voges ungewöhnlich stringente Arbeit, deren konzentrierter Plot einer klaren Eskalationslogik folgt und mich mehr überzeugte als frühere Arbeiten, die philosophische und soziologische Fragmente sampelten und mit ihrer bewussten Reizüberflutung ihre Inhaltsleere schlecht kaschierten.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/06/15/die-stadt-der-blinden-kay-voges-schauspielhaus-hamburg-kritik/
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