Erinnerungen an ein deutsches Selbstbild

von Gerhard Preußer

Aachen, 16. März 2019. "So soll Europa stehen in Flammen bei der Germanen Untergang" – das grölen die Burgunderkönige in der Aachener Inszenierung von Friedrich Hebbels "Nibelungen", als sie eingeschlossen in die Halle des Hunnenkönigs Etzel auf Befehl Kriemhilds in den Flammen sterben. Dieser Slogan des heldischen Pessimismus, diese weltzerstörende Untergangsverklärung ist nicht Teil von Hebbels Drama. Er stammt aber auch nicht von Hanns Johst oder einem anderen Nazidichter der letzten Monate des zweiten Weltkriegs. Er wurde 1859, zur gleichen Zeit also wie Hebbels Drama, vom Romanautor Felix Dahn geschrieben.

Gehäkelte Halskrausen, toupierte Locken

Der Nibelungen-Mythos hat über einen sehr langen Zeitraum in Deutschland eine erhebliche identifikatorische Kraft entfaltet. Hebbels Drama war Teil dieses fatalen Prozesses der Verklärung von hochfahrendem Selbstmitleid zu Heldentum, aber nicht der schlimmste Teil. Diese Zeit ist vorbei. Heute kann man mit Distanz auf die familiären Intrigen und die blutigen Schlächtereien und den bornierten Starrsinn des burgundischen Herrscherpersonals blicken. Heute kann man sich dabei ein wenig gruseln und lachen wie über William Shakespeares Splatter-Drama "Titus Andronicus".

Nibelungen1 560 Marie Luise Manthei Theater Aachen uHorrorbösewichte oder Witzfiguren? Melina Pyschny und Torsten Borm © Marie Luise Manthei / Theater Aachen

So distanziert greift Christina Rasts Inszenierung den Stoff auf. Kalt scheint es in Burgund zu sein. Das dortige Herrscherhaus erstickt fast in seinen selbstgestrickten Wollpullovern und sieht vor sich hin dösend zum x-ten Mal im Fernseher das Fußballweltmeisterspiel zwischen England und Deutschland von 1966. König Gunther (Julian Koechlin) ist der tumbeste von allen, ein feiger Schwächling mit waagerecht tupierten Locken. Schafsmäßig blöde reagieren sie auf den großspurigeren Neuankömmling Siegfried (Tommy Wiesner) aus den Niederlanden. Der trägt leichthändig ein Schwert, das größer als er selbst ist. Nur Hagen (Benedikt Voellmy), ein rothaariger Fiesling, dessen Kopf halslos zwischen riesigen Schultern steckt wie bei jedem Horrorbösewicht, warnt vor ihm. Kriemhild (Stefanie Rösler) scheint vom Wollwäschezwang befreit und verknallt sich in den jungen Helden, der aber auch nur knapp über seine gehäkelte Halskrause hinausblicken kann.

Aus Fantasy-Filmen gespeist

Isenland, wo Brunhild wohnt, die Gunter in ahnungsloser Vermessenheit als Braut gewählt hat, ist eine kleine Insel, um die eine komisch zottelige Alte tobt (Frigga: Torsten Borm) und auf der ein Monster mit Insektenkopf und einem riesigen Maul in Bauchhöhe haust (Brunhild: Melina Pyschny). Der Kampf zwischen Brunhild und Gunter, den dieser nur mit unsichtbarer Hilfe Siegfrieds gewinnt, wird auf der großen Projektionsfläche zu einem Fight mit einem übermächtigen Godzilla. Die Inszenierung zitiert fleißig aus der Bildwelt der Fantasy-Filme. Gunter darf sich dann völlig entkleiden, während Siegfried die in ein hautenges Overall gezwängte Brunhild von unten auf dem Bett festhält, und sich nackt auf die superstarke Braut legen. So wird auch das Problem der Hochzeitsnacht erledigt.

Dass Hebbels "Nibelungen" aber weder mit "Herr der Ringe" noch mit dem "Ring des Nibelungen" gleichzusetzen sind, wird spätestens nach der Pause deutlich. Über die Bühnenbreite erstreckt sich eine Festtafel, an der die burgundischen Gäste König Etzels und Kriemhilds sitzen. Die einzelnen Gänge des Festmahls werden angesagt und jeweils durch ein Lied eingeleitet. Franz Schuberts "Winterreise" muss einmal wieder als Assoziationsmaterial für deutsche "machtgeschützte Innerlichkeit" herhalten.

Nibelungen2 560 Marie Luise Manthei Theater Aachen uRasende Schwächlinge: Benedikt Voellmy, Melina Pyschny, Tommy Wiesner, Julian Koechlin © Marie Luise Manthei / Theater Aachen

Aber der Inszenierung gelingt es so und durch die Hintergrundgrundmusik des Gitarristen (Malcolm Kemp), unterstützt durch ein ständiges, sich steigerndes Klopfen und Stampfen des gesamten Ensembles, trotz aller Komik der riesigen Schlabberlätzchen, der absurden Ansagen der Gänge ("4. Gang: Braten") und des eimerweise vergossenen Kunstblutes eine Spannung aufzubauen, die bis zum Ende trägt.

Schubertlieder und Schlachtgesänge

Die sanften Schubertlieder werden kontrastiert durch Felix Dahns "Deutsche Lieder" von 1859, als Schlachtgesänge im Chor geschmettert. Und als 7. Gang und süßes Dessert gibt's dann noch Hagens Tod: Kriemhild erschlägt ihn mit Siegfrieds Riesenschwert, während er mit zarter Stimme "Des Baches Wiegenlied" aus Schuberts "Schöner Müllerin" singt. Kriemhild legt sich nur noch neben ihn auf den Tisch. Fehlt hier der Käsegang? Kein Dietrich von Bern in Sicht, der die rasende Rächerin ersticht und christliche Milde fordert.

Unterhaltung und Belehrung, Genuss und Nutzen, Komik und Schrecken sind in dieser Inszenierung gut gemischt. So verzerrt, als Erinnerung an ein früheres Selbstbild, als Warnung davor, bleiben die "Nibelungen" Teil des deutschen symbolischen Gedächtnisses.

 

Die Nibelungen
von Friedrich Hebbel
Regie: Christina Rast, Bühne: Franziska Rast, Kostüme: Sarah Borchardt, Edda Wielert, Musik: Malcolm Kemp, Dramaturgie: Inge Zeppenfeld
Mit: Julian Koechlin, Elisabeth Ebeling, Thomas Hamm, Malcolm Kemp, Petya Alabozova, Bettina Scheuritzel, Tommy Wiesner, Benedikt Voellmy, Stefanie Rösner, Melina Pyschny, Torsten Borm.
Premiere am 16. März 2019
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.theateraachen.de

 

Kritikenrundschau

"Der opulente Stoff um Liebe, Verrat, Rache und vermeintliche Helden wird spannend umgesetzt. Christina Rast kehrt das Innere der Figuren nach außen", schreibt Sabine Rother in der Aachener Zeitung (18.3.2019). "Die Inszenierung ist ein Fest für die Sinne und zudem eine psychologisch scharfgeschliffene Analyse. Männerbünde zerstören alles. Die beiden jungen Frauen sind Opfer und werden Täterinnen." Wenn im zweiten Teil "noch rasch die politische Instrumentalisierung des Nibelungen-Stoffs als Fundgrube für nationalistische und nationalsozialistische Parolen" untergebracht werde solle, begleitet von Schuberts "Winterreise", werde es zuviel, so Rother: "Damit wird die Inszenierung überfrachtet. (...) Dennoch kräftiger Applaus für eine ausgefeilte Regie, die beweist: Hebbels Werk 'Die Nibelungen' gibt aktuell zu denken."

 

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