Die Ewigkeit des Dazwischen

von Sascha Westphal

Amsterdam, 17. März 2019. Am Anfang ist der Lärm. Ein Grollen wie von Donnerschlägen oder Explosionen, infernalisch anschwellend. Dazu werden Worte auf die obere Hälfte des zur Leinwand gewordenen Vorhangs projiziert. Die ersten Sätze von Don DeLillos Roman "Falling Man": "Es war keine Straße mehr, sondern eine Welt, Zeit und Raum aus fallender Asche und nahezu Nacht ..." Dann erscheinen unter ihnen Bilder in Schwarzweiß, ein Film, der noch keine klare Richtung hat: Er zeigt, wie Gegenstände hin und her geschoben werden. Die Kamera bewegt sich zwischen den Menschen, die die Bühne aufbauen. Irgendwann kommt sie beim Schauspieler Eelco Smits an, der geschminkt wird. Aus dem Schminkpuder wird im düsteren Schwarzweiß der Filmbilder jener Ascheregen, den DeLillo beschreibt; Smits verwandelt sich in Keith Neudecker, den Anwalt, der am Morgen des 11. September 2001 den Nordturm des World Trade Centers noch verlassen konnte, verletzt und verstört. Zu dunklen, fast sakral beschwörenden Klängen wankt er über die hinter der Leinwand liegende Bühne.

Gleich in diesen ersten Momenten von Julien Gosselins De Lillo-Inszenierung im Internationaal Theater Amsterdam eröffnet sich ein verschobener Blick auf den Stoff. DeLillos apokalyptische Beschreibungen der Stunden direkt nach dem Anschlag auf das World Trade Center werden zugleich als Schöpfungsgeschichte lesbar. Etwas ist untergegangen. Zugleich entsteht etwas, das sich aber in seiner Gänze nicht fassen lässt. Eigentlich müsste Gosselins Bearbeitung DeLillos Titel "Falling World" heißen. Denn nicht nur der Performance-Künstler, der im Roman als geisterhafte Erscheinung fortwährend überall in New York auftaucht, um an unsichtbaren Drähten hängend das berühmte Foto von dem Mann nachzustellen, der aus einem der Türme gesprungen ist und dessen Fall der Fotograf Richard Dew festgehalten hat, scheint in einer eingefrorenen Pose zwischen Himmel und Erde, Leben und Tod zu hängen. Die Welt selbst fällt und fällt, aber sie schlägt nicht auf.

Live-Film, schwarz-weiß

Als sich der Vorhang nach einigen Minuten zur Hälfte hebt, wird eine Reihe von Räumen sichtbar. Diese neben- und hintereinander angeordneten Filmsets ermöglichen es Gosselin, übergangslos zwischen den Schauplätzen des Romans hin und her zu springen, zu denen neben der Wohnung von Keiths Ex-Frau Lianne auch das Apartment von deren Mutter Nina, ein angedeutetes Großraumbüro, ein Betreuungscenter für Alzheimer-Erkrankte und die Wohnung einer anderen Überlebenden gehören. Zwei Kameramänner filmen live die Szenen, die dann auf die über dem Set hängende Leinwand projiziert werden. So weit sind einem die Ästhetik und die Methode vertraut, derer sich Gosselin bedient. Namen wie Katie Mitchell oder Kay Voges fallen einem sofort ein, und doch verbietet sich jeder Vergleich.

VallendeMan4 560 Jan Versweyveld xIn Teil zwei sieht man das Set und das Filmbild. © Jan Versweyveld

Die Kameras kommen den Spielenden extrem nah. Ihre schwarzweißen Aufnahmen von Menschen, denen ihr Leben entgleitet, die krampfhaft, verzweifelt Halt aneinander suchen und doch dazu verdammt sind, alleine zu fallen, sind nicht mehr Theater, aber auch kein Film. Selbst im dritten, nach der Pause gespielten Teil der Inszenierung, in dem der Vorhang ganz unten bleibt und nur die Projektionen zu sehen sind, hält Gosselin diesen einzigartigen Schwebezustand aufrecht. In der zauberischsten aller Szenen dieser an zauberischen Momenten wahrhaft reichen Inszenierung führen Keith und seine von Maria Kraakman gespielte Ex-Frau ein langes Telefonat. Er liegt in einem Hotelbett in Las Vegas. Sie steht in einem Ausstellungsraum des MoMa im Raum mit Gerhard Richters RAF-Zyklus. Irgendwann steht Eelco Smits auf und tritt in das Museumssetting hinein. Nun sind sie, die sich gerade erneut trennen, die einander und sich selbst verloren haben, in einer Aufnahme vereint. Ihre Köpfe berühren sich fast, aber ihre Blicke treffen sich nicht. Wie Smits und Kraakman in diesem Augenblick zugleich Nähe und Ferne verkörpern, wie sie die Möglichkeit von Intimität andeuten und doch ausschließen, das ist herzzereißend. Natürlich könnten sie diese Szene auch so auf einer Bühne spielen, aber die schwarzweißen Bilder, die den Moment entrücken, vervielfachen seine Wirkung.

Ende ohne Anfang, Anfang ohne Ende

Wie DeLillos Roman, der im Kreis fließt und mit der Situation endet, mit der er begonnen hat, Keith auf der Straße nach dem Zusammensturz der Türme, fügt sich auch Gosselins Inszenierung nicht zu einer linearen Erzählung. Es gibt keine Handlung, die der Nacherzählung lohnen würde. Aber dafür gibt es Momente von schmerzlicher Leichtigkeit, wenn Keith und Lianne in Splitscreen-Projektionen über ihren kleinen Sohn sprechen und kurz emotional zueinanderfinden, oder von melancholischer Schönheit, wenn Lianne ihrer von Chris Nietvelt gespielten Mutter eine Art Lebensbeichte abringt und sie dabei zum Weinen bringt. Nietvelts Tränen sind befreiend. Endlich brechen sich einmal all die Trauer und Unsicherheit bahn, die DeLillos Figuren in sich eingeschlossen haben.

VallendeMan19 560 c Henri Verhoef xVerzweiflung, Verzweiflungen © Henri Verhoef

Zwischen die New Yorker Szenen rund um Keith, Lianne und die anderen schieben sich dann noch Momentaufnahmen aus dem Leben des Irakers Hammad, der als einer der Terroristen an dem Anschlag beteiligt war. Majd Mardo spielt ihn jenseits aller Klischees als Spiegelbild der anderen. Auch er ist einer, der fällt und sich unbedingt festhalten will. Zum Schluss, wenn sich der Vorhang doch noch einmal hebt, sitzt er alleine auf einem Stuhl auf der leeren Bühne. Die Kamera, die vor ihm steht, überträgt nichts mehr. Ein Ende ohne Anfang, ein Anfang ohne Ende. Etwas Geisterhaftes liegt über Gosselins Inszenierung, die von einer Leere erzählt, die kein Schöpfungsmythos und keine apokalyptische Vision füllen kann.

Vallende Man
nach dem Roman "Falling Man" von Don DeLillo
Regie: Julien Gosselin, Dramaturgie: Peter van Kraaij, Bühne: Hubert Colas, Licht: Nicolas Joubert, Video: Jérémie Bernaert (Kamera), Pierre Martin (Videodesign), Jordi Wolswijk (Technik), Musik: Guillaume Bachelé, Maxence Vandevelde, Sounddesign: Timo Merkies, Kostüme: Caroline Tavernier, Live-Camera: Boris de Ruijter.
Mit: Stacyian Jackson, Hans Kesting, Maria Kraakman, Majd Mardo, Chris Nietvelt, Urmie Plein, Harm Duco Schut, Eelco Smits, Sidar Toksöz.
Dauer: 3 Stunde 10 Minuten, eine Pause

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