Die Herren hängen in den Seilen

von Christian Rakow

Berlin, 29. März 2019. Wenn beim Schlussapplaus die Augen der Zuschauer immer wieder von den Darstellern weghuschen (obwohl die das Freudestrahlen nun allemal verdient hätten) und kräftig ins Parkett, Reihe 6 Mitte, gelinst wird, dann ist an dieser Premiere etwas anders als sonst. Dieses also: Bundeskanzlerin Angela Merkel war da, vielleicht weil sie Molière-Fan ist, vielleicht weil ein Freitagabend am Deutschen Theater eh eine gute Option ist, vielleicht aber auch, weil Merkels lieber Bekannter Ulrich Matthes auf der Bühne stand. Jedenfalls hat die Kanzlerin sich, ihrem Applaus nach zu urteilen (ja, auch ich habe gelinst), gut amüsiert.

Von der obersten Frau an der Macht zur Frau an der Macht bei Molière. Dessen Komödie (von 1666) heißt zwar "Der Menschenfeind" und erzählt von dem missmutigen, aller gesellschaftlichen Etikette abschwörenden Eiferer und Kritikaster Alceste. Aber es ist auch – und das lernt man in dieser Inszenierung von Anne Lenk eindrucksvoll – genauso gut ein Stück über eine höchst unabhängige, wendige Frau. Célimène heißt sie, ist jung verwitwet, und wird nun von einer ganzen Heerschar von Galanen, unter ihnen Alceste, umschwirrt.

Wie eine schwarze Sonne beherrscht Franziska Machens als Célimène die Szene, pariert Avancen und zerwitzelt lässig alle ehrenrührigen Anwürfe ihres Umfelds. Sie ist zugewandt und unnahbar zugleich. Denn Célimène kostet ihre neu gewonnene Freiheit weidlich aus, hält ihre Verehrer bei Laune und also möglichst viele Eisen im Feuer. Nur sind diese Eisen natürlich alles andere als heiß. Sonst wäre es ja keine Komödie.

menschenfeind 1 560 Arno Declair uUlrich Matthes (links) in der Titelrolle, rechts von ihm: Manuel Harder, Lisa Hrdina, Franziska Machens, Jeremy Mockridge, Elias Arens © Arno Declair

Da flattern sie also wie Motten ums dunkle Licht: das fabulös eitle, kopftrübe Elitesöhnchen-Duo Acaste (mit herrlich verzärtelter Collegenote: Jeremy Mockridge) und Clitandre (als täppischer Glamrock-Spross: Elias Arens). Oder der Poet von minderen Gnaden Oronte (schön vernebelt, als ob Metal-Ikone Ozzy Osbourne auf Präraffaelit machen will: Timo Weisschnur). Und natürlich der Titelheld Alceste, der Célimène so gern in die Einsiedelei weit abseits der Menschen lotsen würde, aber sich leider in narzisstischen Besitzvorstellungen und Eifersüchtelei verfängt.

Am liebsten breitet sich dieser Alceste bei seinem Freund Philinte aus, über die klägliche Doppelmoral seiner Zeit, über falsche Höflichkeit und dergleichen. Sein Credo: "Man unterlässt die Heuchelei. / Man redet, was man denkt, / damit das Herz die Worte lenkt." So sagt es Alceste in der glänzend gereimten Übersetzung von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens. Und so räsonieren sie also: Ulrich Matthes als Alceste und Manuel Harder als unvermutet düsterer Philinte. Es wirkt, als würden die beiden sich schon für das Doppel Faust/ Mephisto warmlaufen (der "Faust" dürfte am DT ja bald mal wieder fällig sein). Jedenfalls legen sie diesen Molière eine ganze Ecke tiefer, geben sich introvertierter, eher um Gott und die Welt besorgt als um das Gockeln und das Gelten.

menschenfeind 2 280 Arno Declair uEine schwierige Beziehung: Ulrich Matthes, Franziska Machens © Arno Declair Der Alceste von Matthes ist kein Fanatiker, der die Gesellschaft im Furor fliehen will, eher doch ein Gründler, der vorsichtig nach ihr tastet. In vielen Momenten erscheint er geradezu anrührend, man vernimmt seinen Herzschlag lauter als seinen spitzen Zungenschlag. Der Kontrast ist reizvoll, wenn dieser Alceste in seiner leisen Weltvorsicht auf die ansonsten humorprallen Gestalten trifft, die in wohltemperierter Schrillheit ihren Mann stehen wollen (aber meist nur hängen), oder aber spröde an ihm rumbaggern, wie das wonnige Mauerblümchen Éliante (mit wachem Hintersinn: Lisa Hrdina) und die intrigante Arsinoé (elegant als gouvernantengesichtige Erotomanin: Judith Hofmann). In den Begegnungen mit der verehrten Célimène aber gewinnt Matthes’ Alceste die Schärfe der Verzweiflung: "Wir Menschen gelten als vernünftige Wesen, / wer das behauptet, ist nie Mensch gewesen."

Anne Lenk inszeniert das Drama mit fast altmeisterlicher Kühle und Präzision. In einem schwarzsilbrigen Bühnenkasten, dessen Wände aus dicht gehängten, elastischen Seilen bestehen; man zwängt sich hindurch, baumelt auch mal darin (Bühne: Florian Lösche). Ein Hang zur Abstraktion bestimmt diese Bildwelt. Natürlich lässt sich vorstellen, dass man das Molière’sche Motiv des gesellschaftskritischen Eiferertums in unseren Tagen anschwellender Twitterhysterien auch einen Ticken prononcierter und aktueller aufbereiten könnte.

Ab ins Männerpensionat

Aber Lenk punktet subkutan, mit diskreten Umwertungen, mit sinnfälligen Verzögerungen im Reimfluss, mit wissendem Stirnrunzeln. Wenn Franziska Machens‘ Gothic-Queen Célimène ein ums andere Mal ihre Verehrer und Richtenden ins Leere laufen lässt, wenn sie ihre Selbstbestimmtheit gegen marode Sittlichkeitsideale behauptet, dann wird die Akzentuierung dieser Geschichte deutlich: vom Menschenfeind zum Männerfriedhof – oder wenigstens zum Männerpensionat. Man sieht sie förmlich rausstolpern, die Hingehaltenen und reihum Abgewiesenen. Und trägt einen der schönsten Dialoge dieses Abends im Ohr nach Hause: Alceste so: "Es gibt auf der Welt viele Ratten, / aber deine Bosheit stellt alles in den Schatten." Und sie so: "Das ist ja ein reizender Empfang."

 

Der Menschenfeind
von Molière
Übersetzung in gereimten Versen von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens
Regie: Anne Lenk, Bühne: Florian Lösche, Kostüme: Sibylle Wallum, Musik: Camill Jammal, Licht: Matthias Vogel, Dramaturgie: Sonja Anders.
Mit: Ulrich Matthes, Manuel Harder, Franziska Machens, Lisa Hrdina, Judith Hofmann, Timo Weisschnur, Jeremy Mockridge, Elias Arens.
Premiere am 29. März 2019
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Es ist eine leidvolle Komödie mit Ulrich Matthes als zerrissenem Menschenfeind und der selbstbewussten Franziska Machens als Célimène. Aber auch die Verehrer, allen voran Timo Weisschnur, sind hervorragend und von Regisseurin Anne Lenk nicht immer eindeutig heterosexuell angelegt, was dem Balzen um eine junge Frau eine spannende Ebene hinzufügt“, so Magdalena Bienert vom RBB (30.3.2019). Die Inszenierung sei niemals altmodisch. "Im Gegenteil. Das Bühnenbild, treibende Clubmusik und das Licht als Requisit saugen die Zuschauer in das Geschehen."

Der Abend sei "ästhetisch übersichtlich" und vertraue auf die Kraft der Sprache, so Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (30.3.2019). "Alles in dieser farblosen Leere steht und fällt mit dem durchaus eher flachen Humor der Mitinsassen." Und weiter: "Ulrich Matthes tut, wofür man ihn sonst feiert, also alles, um seine Figur nicht für ein paar Pointen zu denunzieren. Diese Art, mit der er dem leicht zu habenden Humor ausweicht, um der Figur Wahrhaftigkeit zu verleihen, erhebt ihn auf eine moralisch höhere Stufe der schauspielerischen Eitelkeit: sehr löblich und passend zum Spielverderber Alceste – aber eben doch Spielverderberei."

"In klug gereimten Versen schlägt ein Argument das andere, trickst eine Formulierung die andere aus“, schreibt Katrin Ullmann in der taz (1.4.2019). "Spielerisch, spöttelnd und unterhaltsam perlt diese Inszenierung durch Moralisches und Menschliches, durch Gedichtetes und Gefühltes. Unbestritten gelingt Anne Lenk ein klug austarierter, kurzweiliger Abend mit grandiosen Schauspielern und rasanten Wortgefechten, dessen einziger Makel darin bestehen mag, dass er in den Wänden seiner eigenen Gummizelle stecken bleibt." Ulrich Matthes spiele seine Figur mit großer Genauigkeit, vor allem aber mit großer Zurückhaltung. Die fantastische Franziska Machens sei die eigentliche Protagonistin.

"Lenk in­sze­niert Mo­lières 'Mis­an­throp' als ei­ne sprü­hen­de, un­ter­halt­sa­me Ge­sell­schafts­ko­mö­die, die ih­re iden­ti­fi­ka­to­ri­sche Wir­kung über die Epo­chen hin­weg ent­fal­tet." Her­aus­ra­gend in Sze­ne ge­setzt sei das Frau­en­du­ell zwi­schen Célimène und ih­rer Kon­kur­ren­tin Ar­si­noé, die Ju­dith Hof­mann als in die prü­den Jah­re ge­kom­me­ne Ma­tro­ne mit gro­ßer Gran­dez­za gebe, schreibt Simon Strauß in der FAZ (1.4.2019).

Célimène schiebe sich zusehends ins Zentrum dieser Inszenierung. Franziska Machens spiele sie maximal frei von gekünstelter Koketterie; "mit einer Art tiefenentspanntem Authentizitätscharme", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (30.3.2019). "In den Verbalkämpfen mit dieser Frau, seiner Angebeteten, löst sich die schöne Ambivalenz des wahrheitssuchenden Charakters Alceste denn auch vollends auf: Er entlarvt sich – Anne Lenk akzentuiert dieses Thema stark – als besitzergreifender Macho. Da bleibt keine Frage offen."

Peter Laudenbach schreibt in der Süddeutschen Zeitung (online 1.4.2019, 19:40 Uhr): Die Aufführung sei in ihrer "Leichtigkeit, Intelligenz und schnörkellosen Klarheit" ein "Vergnügen". Lenks Vertrauen auf den Klassiker, ihre "Konzentration auf die Sprache und ihre Raffinessen" sei "wohltuend". Die Schauspieler müssten sich nicht als "Diskurskommentatoren verrenken", sondern dürften machen, "was sie am besten können, nämlich spielen". Indem Ulrich Matthes "seine Figur und ihre Gespreiztheiten leichtfüßig und ohne falschen Tiefsinn ernst nimmt", entfalte sie ihre unfreiwillige Komik. Das funktioniere nur, weil die Gegenseite "mindestens genauso komisch", aber "nicht unbedingt unsympathisch" sei. Franziska Machens als Célimène sei in "ihren Selbstgenussspielen … hinreißend".

 

 

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