Allein unter Lemuren

von Harald Raab

Mannheim, 30. März 2019. Ein dickes gelbes Entchen im Maxiformat mit rotem Schnabel und roten Watschelfüßen begrüßt das Publikum. Das possierliche Wesen unternimmt tollpatschige Versuche, auf die Bühne zu gelangen. Es gelingt ihm nach einigen missglückten Versuchen endlich. Aus dem Wuschelkostüm schält sich der Clown – Hauptfigur eines Theaterabends, den man so schnell nicht vergessen wird.

Zauberhaft und alptraumhaft

Der russische Regisseur Maxim Didenko und die Bühnen- und Kostümbildnerin Maria Tregubova haben am Nationaltheater Mannheim im Verein mit der Choreographin Dina Kuseyn Heinrich Bölls Romanstoff "Ansichten eines Clowns" für die Bühne adaptiert. Textfassung von Valery Pecheykin. Da wird nicht einfach nur die Erzählung über die Wirtschaftswunderjahre bebildert. Das kreative Produktionsteam entführt in eine Zauberwelt mit grellbunten Träumen und düsteren Alpträumen. Liebe hat hier keine Überlebenschance. Um ihr Scheitern unter gesellschaftlich unwirtlichen Bedingungen geht es im Roman wie im Stück.

AnsichteneinesClowns1 560 Christian Kleiner uDie heilige Familie und ihr missratener Spross: Das Mannheimer Ensemble spielt im Bühnenbild von Maria Tregubova
© Christian Kleiner

Der Clown, Hans, missratener Spross eines Kohlebarons, liebt Marie (Sophie Arbeiter), Tochter des stadtbekannten Kommunisten Derkum. Einige Jahre sind die beiden ein Paar ohne Trauschein, in der Nachkriegs-BRD skandalös. Zumal Marie eine fromme Katholikin ist. Sie will im Segen der Kirche Kinder kriegen und sie zu frommen Schäflein erziehen. Weil Hans, evangelisch und obendrein Atheist, nicht in dieses Schema passt, heiratet Marie ihren alten Jungvolk-Schwarm Heribert Zipfner. Das bricht dem Clown das Herz. Er säuft, verliert seine Engagements und schließt sich zuletzt in seiner Bonner Wohnung ein. Dort quälen ihn die Furien seiner Erinnerung, an der wir teilhaben dürfen.

Unter der Zuchtrute der katholischen Kirche

Die Geschichte Bölls über die reale Zwangsgesellschaft der Bundesrepublik in den Adenauerjahren kommt in Mannheim als clowneske Karikatur daher. Pantomimisch, mit marionettenhaft mechanischen, manchmal gar tänzerischen Bewegungen agieren die Figuren, stereotyp überzeichnete Charaktere, Lemuren gesellschaftlicher Verlogenheit. Alle stehen sie unter der Zuchtrute der katholischen Kirche, in einem von oben verordneten System einer bürgerlichen Wohlanständigkeit, die ihre ziemlich aktive Rolle in der Nazibarbarei vergessen machen soll. Besonders dreist treibt es die Mutter des Clowns (Johanna Eiworth), die ihre Tochter für Führer, Volk und Vaterland geopfert hat. Sie meiert jetzt als Präsidentin der "Gesellschaft zur Versöhnung rassischer Gegensätze" herum.

AnsichteneinesClowns4 560 Christian Kleiner uEin Ritter von der traurigen Gestalt: Christoph Bornmüller spielt den Clown Hans Schnier © Christian Kleiner

Wesentlichen Anteil an der Faszination dieser Romanadaption hat der Video- und Lichteinsatz (Oleg Mykhaylov und Damian Chmielarz). Die ganzen Szenen werden von dramatischen Bildfolgen überzogen. Farbmuster konturieren das Geschehen. Rot wie Blut färben sich Fotos von HJ-Aufmärschen. Besonders beklemmend ist eine Videosequenz. Der Clown erschießt seine Plagegeister in einer imaginierten Orgie des lustvollen Tötens. Er filmt seine Opfer mit der Handkamera, wie sie sterbend zusammenbrechen.

Das surreale Geschehen wird zum Veitstanz auf einem Kinderspielplatz. Der Papst pfeift ein Ballspiel und reitet auf einem Schaukelpferd. Auf einer Wippe messen Hans und sein Vater (Boris Koneczny) die Gewichtigkeit ihrer Argumente. Subtile Gags allenthalben. Wenn Hans aus seiner Flasche trinkt, wird er schwerer, und Papas Seite schwebt nach oben.

Der weise Narr in bigotter Welt

Eindrucksvolle Schlussapotheose: Der Clown legt eine Puppe seiner selbst in einen Sarg. Alle ziehen vorbei und werfen einige Münzen hinein. Nur seine als Flakhelferin umgekommene Schwester Henriette (Lorena Handschin), die immer wieder als Geist auftaucht, streichelt ihm den Kopf und legt ihm ein Telefon auf die Brust – für einen guten Draht zu dem dort oben.

Christoph Bornmüllers Clown ist eine Ausnahmeleistung. Varianten- und nuancenreich präsentiert er einen Ritter von der traurigen Gestalt, mehr melancholischer Beobachter seiner selbst als anarchischer Rebell. Ironie ist sein Schutz vor seelischen Zumutungen. Er macht aber auch aus seiner Verbitterung keinen Hehl, ätzt gegen Gott und die Welt. Die kirchliche Zwangsmoral hat ihm seine Marie entrissen. Er hat als Individuum ein Recht darauf, empört zu sein, über die Arroganz der Vertreter der öffentlichen Moral. Bornmüller gibt den weisen Narren und ist auch akrobatisch gut drauf.

AnsichteneinesClowns2 560 Christian Kleiner uDie blutigen Zeiten sind nicht vorüber: Christoph Bornmüller taumelt als Clown durchs Nachkriegswestdeutschland
© Christian Kleiner

Heinrich Bölls Clown-Thema als Reimport aus russischer Bühnenkultur kommt wohl nicht von ungefähr. Das Werk des Nobelpreisträgers ist in Putin-Land aktueller als bei uns. Er wird mehr gelesen. Die unheilige Allianz von Staat und orthodoxer Popen-Klerisei feiert weihrauchgeschwängerte mystisch-pompöse Urstände. Das Individuum hat zu kuschen. Da ist eine solche investigativ-widerständige Literatur gefragt.

In Mannheim erlebt man eine eindrucksvolle Wiederentdeckung. Weniger wegen der alten, bei uns geschlagenen Schlachten, sondern wegen der erzählerischen Qualität Bölls. Ein faszinierender Theaterabend mit großer Bildmagie und gesellschaftskritischen Widerhaken. Selten ist so ein kraftvolles, höchst intelligentes Theater geboten.

 

Ansichten eines Clowns
frei nach dem Roman von Heinrich Böll
Regie: Maxim Didenko, Bühne und Kostüme: Maria Tregubova, Choreografie: Dina Khuseyn, Musik und Komposition: Vladimir Rannev, Video: Oleg Mykhaylov, Licht: Damian Chmielarz,  Dramaturgie: Valery Pecheykin / Ouldooz Pirniya.
Mit: Sophie Arbeiter, Christoph Bornmüller, Rocco Brück, Johanna Eiworth, Lorena Handschin, Boris Koneczny, Robin Krakowski, Viktoria Miknevich, Patrick Schnicke.
Premiere am 30. März 2019
Dauer: 1 Stunden 45 Minuten, keine Pause

www.nationaltheater-mannheim.de

 

Kritikenrundschau

Die Figuren behrrschen das ritualisierte Formenspiel entschieden besser als ihre eigene Psyche, so Alfred Huber im Mannheimer Morgen (1.4.2019). "Jedenfalls zeigt Maxim Didenko nur selten, dass sich hinter den mechanischen Auftritten der Menschen und ihrem Gruppenverhalten eine extreme Angst verbirgt." Mit der Vielfalt seiner Einfälle könnte der Regisseur vermutlich mehrere Inszenierungen bedienen. "Hat man sich erst einmal auf die Vitalität dieser explosiven Theaterform eingestellt, auf all die Videobilder, dynamischen Abläufe, auf den expressiven Druck, dann spürt man auch die Unbedingtheit und Notwendigkeit dieser Anstrengungen."

Didenko inszeniere flott und bildgewaltig mit viel Slapsticks, Slowmotions und vielen guten Einfällen, so Marie-Dominique Wetzel von SWR2 (1.4.2019). Beeindruckend sei auch das Bühnenbild, es passe aber leider nur in den wenigstens Fällen wirklich. Die Blümchentapete etwa sei einfach "zu luftig-fröhlich, als dass sie den spezifischen Mief der 50er Jahre transportieren könnte". Aber nur darum gehe es in der Vorlage. Auch Regisseur Didenko scheine mit dieser Zeit und Bölls Kritik daran nicht allzu viel anfangen zu können. Dennoch sei es auch trotz mancher Längen ein unterhaltsamer, bildgewaltiger Abend mit einer ganz eigenen, betörenden Bühnenästhetik.

Von Nicole Sperk schreibt in der Rheinpfalz (1.4.2019): Maxim Didenko beweise mit seiner "bildgewaltigen Inszenierung, dass man Bölls Klassiker heute noch lesen sollte. Eigentlich halte sich Didenkos Inszenierung "streng an die literarische Vorlage". Eine eigene Geschichte erzähle er "vor allem visuell". Mithilfe von "Video, Licht und elektronischer Musik" entstüneden "gewaltige Bilder, laute, grelle, auch anstrengende". Die Bühne sei auch eine Zirkusmanege, in "der sich alle mit Lust austoben dürfen".

Dies ist "eine Inszenierung, von der man noch viel hören wird", prognostiziert Christian Gampert im Deutschlandfunk (1.4.2019). Die Totenerscheinungen und Abendmahl-Szenen seien "einfach surreal – und gar nicht so betulich, wie es bei Böll manchmal klingt". Maxim Didenko übersetze "das rheinisch-katholische Tugend-Regime in einen theatralen Alptraum, in dem Nachbarn, Eltern und sogenannte Freunde aus allen Schubladen, Fenstern und Zimmertüren kriechen und dem Clown Hans Schnier zugucken".

 

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