Was Echtes spielen

Von Martin Thomas Pesl

Wien, 2. April 2019. Im Leben müsse es doch ein "Leo" geben, sagt Alexandra Sommerfeld einmal versonnen, diesen Ort beim Fangenspielen, "aus dem heraus man nicht gefangen werden kann". Wie selbstverständlich erinnert sich dieselbe Schauspielerin später an: "Früher. Als es noch Sommer war." Im Originaltext steht das kursiv als Regieanweisung da. Solch naiv poetische Weltbeschreibungen aus Kindersicht oder auch aus Sehnsucht nach der Kindersicht prägen Magdalena Schrefels "Sprengkörperballade".

Kindheitserinnerung aus dem Hobbyraum

Wer nicht weiß, dass der Text der Wiener Autorin (*1984) ein originäres Theaterstück ist, könnte die österreichische Erstaufführung am Kosmos Theater auch für die Adaption einer Perle literarischer Prosa halten. Das richtige, das "bessere" Erzählen der eigenen Geschichten und Fantasien treibt hier die Figuren an. Sie erinnern sich an die Spiele, die sie einst gespielt haben, und spielen dabei natürlich immer noch, immer wieder, immer wieder, wie Wellen, die versuchen, jedes Mal mehr vom Meeresstrand zu benetzen.

sprengkoerperballade 6871 560 bettina Frenzel u"Sprengkörperballade" mit drei Spielerinnen und einer Puppe: Veronika Glatzner, Alice Peterhans, Alexandra Sommerfeld  © Bettina Frenzel

Diese Figuren sind bei Schrefel in drei Paarungen aufgeteilt, deren Umsetzung sie sich laut Personenregister als "eine Spielerin und eine Puppe" vorstellen kann, die aber bei der Kölner Uraufführung 2017 mit sechs verschiedenen Menschen besetzt wurden. In Wien nimmt die Regisseurin Claudia Bossard den verspielten Text selbst als lose Spielanleitung und macht es wieder anders: Ihre stark gekürzte Fassung beschränkt sich – im Wesentlichen – auf drei Personen. Im Zentrum steht Zabina, gespielt von Veronika Glatzner. Alexandra Sommerfeld gibt ihre Mutter Djana, Alice Peterhans ihre Freundin Bine. Bine und Zabina haben sich im Hobbyraum kennengelernt. "Lass uns was Echtes spielen", hat Zabina mal zu ihr gesagt, und bald beinhaltete das auch Jungs-Dramen.

Böses Lächeln, schnelle Antwort

Wie diese drei mit purem Ton als Anwältinnen ihrer Figuren um erzählerisches Überwasser kämpfen, berührt. Drei Frauen, ein zeitgenössisches Stück: Diese Konstellation liegt Claudia Bossard, wie sie schon 2016 in Graz mit ihrer Inszenierung von Henriette Dushes "Lupus in fabula" bewies. Auch damals war Veronika Glatzner dabei. Die Waffen ihrer Zabina sind ein (offenbar privat mitgebrachter, dann aber offensiv zum ästhetischen Einsatz kommender) Schwangerschaftsbauch, ein böses Lächeln und schnelle Antworten. Peterhans ist für Musikalisches und ironisch überschießende Blut- und Kotzfontänen zuständig, und als Sommerfeld ihre Geschichte einmal nicht erfolgreich anbringt, geht sie lakonisch hinaus, um sich ein Mikro zu holen, mit dem sie dann lauter ist als die anderen.

sprengkoerperballade 8077 560 bettina frenzelOzeanfantasien: Veronika Glatzner und Alexandra Sommerfeld  © Bettina Frenzel

Auch Pantomime, kleine Choreografien, hier eine Ukulele und da unverhofft von der Seite hineinrauchender dramatischer Nebel sind zulässiges Spielmaterial. Vom schwarzen, leeren Raum wandelt sich die Bühne in 90 Minuten und unter Einsatz so manchen Requisits zur strahlend hellen Badezimmer-Ozeanfantasie. Auf diesem Wege erfährt man wenige Hard Facts, aber doch. Etwa dass Zabina kurz vor der Katastrophe von Tschernobyl geboren wurde, vermutlich in Ex-Jugoslawien. Der anscheinend gewalttätige Vater war wohl irgendwann weg, weil die Mutter möglicherweise eine Affäre mit einem Tierarzt hatte. All dies und noch mehr wird so subtil angedeutet, dass man es nicht als Plot-Points abspeichern möchte. Es ist stets Spiel: je unerfreulicher, desto kindlicher von den "Mädchen" in gleichgetaktete Gesten und vergnügliche Fantasien verpackt.

Atmosphäre der Verlorenheit

Diese völlige Verweigerung alles Plakativen ehrt Bossard, es zeigt die Präzision und Sensibilität, mit der sie ihr hervorragendes Ensemble durch jeden leisen Ton, jede feine Bewegung führt. Sie hat aber auch zur Folge, dass man sich nie auskennt, weil man zwar den Spielerinnen gerne zusieht, aber nie genau weiß, was eigentlich auf dem Spiel steht, wer wann wen warum verlassen hat und wen die Figuren von ihren Wahrheiten überzeugen wollen (wahrscheinlich sich selbst).

Das wird schon Absicht sein: Im Zentrum soll keine Handlung stehen, sondern eine Atmosphäre der Verlorenheit im toxisch innigen Zusammenspiel der drei. Als vermutlich eher unerwünschte Nebenwirkung – kombiniert mit der zunehmenden Wärme im Saal – verpasst ein friedlich eingelulltes Publikum womöglich die eine oder andere spielerische Feinheit. Gewissermaßen hat Claudia Bossard die "Sprengkörperballade" ins Leo gerettet. Sie darf sich jetzt in Sicherheit wiegen, sie ist nicht mehr zu fassen.

 

Sprengkörperballade
von Magdalena Schrefel
Österreichische Erstaufführung
Regie: Claudia Bossard, Ausstattung: Elisabeth Weiß
Mit: Veronika Glatzner, Alice Peterhans, Alexandra Sommerfeld.
Premiere am 2. April 2019
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.kosmostheater.at

 


Kritikenrundschau

"Es geht also um Männer und deren meist erigierte Penisse", fasst die Kritik unter dem Kürzel – wurm – im Standard (5.4.2019) zusammen und schlägt als alternativen Titel "Schwellkörperballade" vor. Eine "hysterisch heitere" Inszenierung sei Bossard gelungen. "Extrem gezeichnete Figuren und wilde Regieideen machen den abwechslungsreichen Abend trotz der thematisch schweren Kost durchaus vergnüglich. Nicht zuletzt ist das seinem bravourös spielfreudigen Damenensemble geschuldet."

 

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