Stop-Motion-Hausbesetzung

von Janis El-Bira

Berlin, 4. April 2019. Den Leuten geht's wieder gut. Kaum glimmt das Licht zur Pause auf, da steht das Publikum an diesem Vorsommerabend auch schon in Saalstärke auf dem Rosa-Luxemburg-Platz. Späti-Wein wird geköpft, Bierflaschen klappern. Das Räuberrad wirft wie eh und je seinen langen Schatten über die qualmende Menge, drinnen gibt es längst wieder Streichholzschachteln zum Mitnehmen. Es ist warm, es ist Berlin, es ist Volksbühne. Gerade so, als sei nie was gewesen. Das sanfte Retro-Feeling dürfte auch damit zu tun haben, dass im Haus selbst die schleichende Rückeroberung nun eingeläutet scheint.

Denn nach dem Regisseur Leander Haußmann kehren an diesem Abend mit der Choreographin Constanza Macras und der Schauspielerin Anne Ratte-Polle zwei weitere Akteurinnen zurück, denen zumindest ein gewisser Bezug zu dem nachgesagt werden kann, was berlinweit längst unter dem Begriff der "alten Volksbühne" musealisiert wird. Spätestens aber, als kurz vor Schluss auch noch Gob Squad-Mitglied Bastian Trost und die streng orthodoxe Alt-Volksbühnlerin Carolin Mylord verhuschte Cameo-Auftritte hinlegten, dürfte jedem klargeworden sein: Diese Uraufführung genoss die Duldung, wenn nicht gar den Segen des versprengten Zentralkomitees.

Let's Dance again

Doch auch mit anderem Personal wäre der Anhauch, ach was: das Anbrüllen!, alter Zeiten spürbar gewesen. Das fing schon damit an, dass wie zu besten Volksbühnen-Tagen einfach nicht drin sein wollte, was draufstand. Ging damit weiter, dass Sollen, Können und Wollen der Performerinnen dem alten Volksbühnen-Gesetz gehorchten, demzufolge man nicht unbedingt können muss, was man soll, aber wollen muss, was man kann. Und endete schließlich bei der klassischen Volksbühnen-Ökonomie, die vorsieht, dass auf eine eher kompakte erste unbedingt eine äußerst langfransige, mit vielen Trugschlüssen gespickte zweite Hälfte folgen muss.

DerPalast4 560 Thomas Aurin uSing me a song and dance with me: Anne Ratte-Polle in "Der Palast" © Thomas Aurin

All das fand sich hier wieder. Macras' "Der Palast" hatte im Programmheft einen Abend zur Gentrifizierungs- und urbanen Verdrängungsthematik am Berlin-Mitte-Beispiel und entlang von Arbeiten des britischen Fotografen Tom Hunter versprochen.

Glitzervorhang-Hommage

Das aber war bestenfalls die grobe Rahmung für ein zumeist klotzendes, selten kleckerndes Kinetik-Gewitter, lediglich behelfsmäßig verbunden durch Erzählungen über schimmelnde Altbauwände, ausgetauschte Nachbarschaften und Miethaie, die ihren Bewohnern 750 Euro für eine kaputte Badezimmerkachel aus dem Ärmel leiern. Relativ egal ist einem das, wenn man staunend eine gut halbstündige, sagenhaft beherrschte Stop-Motion-Hausbesetzung zu live produzierter Drone-Musik verfolgt.

Oder wenn Anne Ratte-Polle unter all diesen Meister-Tänzerinnen und -Tänzern mitglänzt, als habe sie nie etwas Anderes getan. Oder auch, wenn zwischenzeitlich ein Bert-Neumann-Glitzervorhang schön wie ein Kometenschweif vom Himmel kommt – eine großartige Hommage der Bühnenbildnerin Alissa Kolbusch. In diesen Momenten ist "Der Palast" ein Volksbühnen-klassisches Show-off schieren Talents: Mit Atzen-Perücken und falschen Gebissen gilt freie Fahrt bis zum Peinlichkeitshorizont und weit darüber hinaus.

DerPalast2 560 Thomas Aurin uFreie Fahrt für falsche Gebisse, bunte Kostüme, aber echte Gefühle © Thomas Aurin

Die andere Seite dieses Abends, genauer: die andere Hälfte, lässt demgegenüber den Wortanteil steigen. Und weil an diesem Ort eben doch kein René Pollesch oder Herbert Fritsch mehr die Worte drehen, beäugen und umschubsen, übernehmen schnell auch die Klischees. Die US-Tanzshow "So You Think You Can Dance" wird auf die Bühne gehievt. Mieter tanzen um ihre Wohnungen. Luc Guiol führt als maximal selbstoptimierter Moderator durchs Phrasenbuch des Neoliberalismus. Die Jury verteilt Punkte, Anne Ratte-Polle fläzt sich theaterlangweilig im Sessel.

Hoher Ton

Am Ende – und das ist dann doch fast wieder ein bisschen wie bei Pollesch – bekommt man noch etwas Pop-Kultur und -Theorie verbraten. "Homeland" Staffel 5, "The Queer Eye", Lacan, Žižek. Doch da weiß der Abend schon selbst gar nicht mehr, was er eigentlich damit soll. Caroline Mylord sagt mit bebender Stimme ihr Sprüchlein von der zukünftigen "aterritorialen Bürgerschaft", ein Klagechor des Ensembles versammelt alptraumhafte Mietererlebnisse – dann regnet es bunten Flitter.

Am hohen Ton, den die "alte Volksbühne" nur selten suchte, aber manchmal sehr berührend traf, zielen ihre Wiederbeleber an diesem Abend noch ein gutes Stück weit vorbei. Was also bleibt, ist ein weiterer Versuch der Hausgeisterbeschwörung am Rosa-Luxemburg-Platz. Und man weiß ja noch: Es beginnt erst bei drei.

 

Der Palast
Von Constanza Macras / DorkyPark
Regie und Choreographie: Constanza Macras, Visual Artist: Tom Hunter, Komposition: Robert Lippok, Bühne: Alissa Kolbusch, Kostüme: Roman Handt, Lichtdesign: Sergio de Carvalho Pessanha, Ton: Stephan Wöhrmann, Dramaturgie: Carmen Mehnert, Produktionsmanagement: Alisa Golomzina, Xiao Yu, Keiko Tominaga, Regieassistenz: Helena Casas, Live-Musik: Santiago Blaum, Kristina Lösche-Löwensen, Jacob Thein.
Von und mit: Adaya Berkovich, Emil Bordás, Chia-Ying Chiang, Fernanda Farah, Yuya Fujinami, Luc Guiol, Ronni Maciel, Thulani Lord Mgidi, Anne Ratte-Polle, Miki Shoji.
Premiere am 4. April 2019
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.volksbuehne.berlin

 


Kritikenrundschau

Besonders die erste Hälfte dieses Abends sei "eine Ansage" und "große Kunst", schreibt Michaela Schlagenwerth in der Berliner Zeitung (6.4.2019), denn hier sehe man das "ziemlich großartige Zusammenspiel von Tanz, Musik und Fotografie", das dann "in der Wut und im Widerstand gegen die Auswüchse der Gentrifizierung ins Rutschen" gerate. In der zweiten Hälfte des Abends "wird das Surrogat-Leben in den Bildern der Casting-Shows zwar mit viel Witz und einigen überraschenden Wendungen, aber doch leider auch viel zu ausgedehnt durchdekliniert".

Als "Hochdruckchoreografin", die "immer so atemlos und aufgeregt wie eine Megacity inszeniert", stellt Astrid Kaminski in der taz (6.4.2019) Constanza Macras vor. Ihr Volksbühnen-Abend besitze trashige Selbstkritik, "anarchischen" Witz, "Kritik queer-feministischer Selbsterbauungsrhetorik", und all das gehe gut auf. Gleichwohl sei der Abend zu lang geraten und biete eine "handwerkliche Glanzleistung, die so ambitiös wie leer ist".

"Die fein austarierte Mehrdeutigkeit des ersten Teils" weiche in der zweiten Hälfte "einem nur leidlich witzigen Gentrifikantenstadl", schreibt Fabian Wallmeier für rbb 24 (6.4.2019).

"In einer künstlich überzeichneten Inszenierung, untermalt von wabernden Techno-Sounds, gerät die Stadt zum Spielfeld von Gentrifizierung", sagt Barbara Wiegand vom Inforadio des rbb (5.4.2019). Beeindruckend sei vor allem der Anfang, bald werde es "zäh und bemüht". In der zweiten Hälfte nehme das geschehen "schräge Fahrt auf, wenn die Dance Show immer mehr aus dem Ruder läuft". Doch auch hier gehe der "ironische Biss" dem Abend "bald wieder verloren".

"Macras mobilisiert alle Kräfte, die Inszenierung hat über weite Strecken einen enormen Drive", schreibt Sandra Luzina im Tagesspiegel (8.4.2019). "Wut, Widerstand und Witz: Macras gelingen Schlaglichter auf die Neuberliner Realitäten." Jedoch: "Im zweiten Teil müssen die Tänzer in einer dämlichen Castingshow ihre Haut zu Markte tragen." Macras benutze das Format des Reality TV, um die Kommerzialisierung anzuprangern. "Doch auch wenn die Showeinlagen teilweise zum Schreien komisch sind: Sie taugen nicht dazu, um über Globalisierung und Gentrifizierung nachzudenken."

Dorion Weickmann von der Süddeutschen Zeitung (9.4.2019) lobt die "famose Spielerschar", "fabelhafte Musiker" und "das szenische und dramaturgische Design". "Das Tolle an dieser 'Palast'-Revolte ist die Penetranz, mit der Macras ihre Beobachtungen so lange zwischen Kopf und Bauch hin und her schaukelt, bis uns die eigene Ambivalenz ins Gesicht springt. Ob Heidi Klums Topmodel-Mimikry oder Bachelor-Budenzauber: All das wird analytisch verdammt und dennoch klammheimlich konsumiert."

 

Kommentare  
Palast, Berlin: schlecht gebaut
Schöner Text, der so menschenfreundlich bleibt und doch so direkt benennt, wie überfordert das alles vor allem nach hinten bedeutet, in das verlorene Paradies, das es so nie gab. Nach Haußmann schon die zweite Produktion der Intensivstation, die sich die tote Intendanz rituell wieder aneignen will, und sich des Applauses so sicher zu sein scheint, dass sowas wie Dramaturgie keine Rolle mehr spielt. Gibt es schlechter gebaute Theaterabende auf vergleichbaren Berliner Bühnen zur Zeit?
Palast, Berlin: drei Stunden zu lang
Dieser Abend ist mindestens drei Stunden zu lang. Bisschen Möchtegernpolitik für einfallsloses Getanze.
Palast, Berlin: Geister sind noch zu virulent
wenn man es weniger freundlich formulieren möchte, bestätigt sich die erkenntnis, dass nach der tragödie im 2. aufguss nur die farce bleibt. vielleicht sollte herr dörr hier nur leute inszenieren lassen, die auf keinen fall mit der 'alten mannschaft' zu tun hatten. die geister scheinen noch zu virulent zu sein, als dass da etwas relevantes für die jetztzeit entsteht. unmotivierte nacktheit, irgendwie mieterfreundich, irgenwie uninteressant zynisch. und der irrglaube, tv formate wie lets dance zu zitieren macht irgend einen sinn, ausser dass man sich fragt, warum man dann nicht gleich in den friedrichstadtpalast gegangen ist. schön wäre in dieser causa gewesen, die 11 taenzerInnen (inklusive frau ratte-polle) würden, da sie ja alle mieterInnen in dieser stadt sind, den spiess umdrehen und frau macras und frau mehnert inszenieren, dann wäre eventuel ein überraschender abend enstanden. (...)
Palast, Berlin: mäandernd, aber passend
Einen überbordenden und ausfransenden, mit drei Stunden deutlich zu langen Abend bieten Constanza Macras und ihre Compagnie DorkyPark bei ihrer ersten Arbeit an der Berliner Volksbühne. Ihr wichtiges Anliegen, den Finger in die Wunde der enormen Gentrifizierungs- und Verdrängungsprozesse zu legen, drohen sie immer wieder aus den Augen zu verlieren. Irgendwie schaffen Macras und ihre Dramaturgin Carmen Mehnert es aber doch, die Kurve zu kriegen und nach allen Spielereien und Exkursen zum Kern zurückzufinden.

„Der Palast“ erzählt in seinen stärkeren Momenten mit tänzerischem Drive und kabarettistischer Schärfe sehr anschaulich von den Menschen, die nach Jahrzehnten aus ihren Wohnungen vertrieben werden. Die brutalen Methoden, mit denen Mieter rausgeekelt werden, werden hier deutlich angesprochen: Das Tageslicht wird durch Planen ausgesperrt, das Wasser abgedreht, durch Bauarbeiten so viel Chaos und Dreck verursacht, dass die Ratten durchs Haus spazieren. Das Unwesen der Briefkastenfirmen in Zossen wird anschaulich beschrieben und als die Cayman Islands von Brandenburg karikiert.

In den schwächeren Passagen mäandert „Der Palast“ orientierungslos dahin und verliert sich in Längen. Damit steht Macras in bester Volksbühnen-Tradition, braucht allerdings nur halb so lang wie der ehemalige Hausherr Frank Castorf. Mit dieser mangelnden Erzählökonomie passt Macras auch gut zu den überbordenden Bilderwelten, in die der neue Schauspieldirektor Thorbjörn Arnarsson in seiner „Edda“ eintauchte.

Ganz zum Schluss treten noch einige Überraschungsgäste auf, die im Programmheft gar nicht aufgeführt sind. Für die geplagte Seele der Volksbühnen-Nostalgiker kommt Carolin Mylord zu einem ebenso kurzen wie rätselhaften Monolog auf die Bühne. Als Special Guest trat gestern auch der deutsch-libanesische Schauspieler und Tänzer Hassan Akkouch auf, der in Neukölln aufwuchs und als Jugendlicher mit Breakdance-Einlagen in Stücken von Constanza Macras dabei war, bevor er mit postmigrantischen Inszenierungen wie „Verrücktes Blut“ am Ballhaus Naunynstraße und am Gorki Theater bekannt wurde. Humorvoll erzählt er von einem doppelten Kulturschock: Zunächst zog er von Neukölln in die Münchner Maxvorstadt, wo er an der Otto-Falckenberg-Schule studierte und später in Matthias Lilienthals Kammerspiele-Ensemble spielte. Dort wunderte er sich über saubere Grünflächen, auf denen er wirklich sitzen konnte, ohne sich um Hundekacke und Drogenspritzen Sorgen machen zu müssen. Jetzt zog es ihn zurück nach Neukölln, das er kaum mehr wiedererkennt. Da er keine passende 3-4-Zimmer-Wohnung zu erschwinglichen Preisen findet, gibt er dem Theaterpublikum seine Handy-Nummer und ist für Angebote dankbar.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/04/15/der-palast-constanza-macras-volksbuhne-kritik/
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