Das Glas des Sisyphos

von Andreas Thamm

Würzburg, 4. April 2019. Kein sonderlich gutes Gefühl geht damit einher, sich in eine Uraufführung zu setzen, die den Titel "Sisyphos auf Silvaner" trägt. Noch dazu, wenn sie in Würzburg, Weinfranken, stattfindet. Das klingt schon sehr nach augenzwinkerndem Fernseh-Kabarett-Humor mit spitzem Ellenbogen ins Lokalkolorit. Und wenn dann, wenig später, auf der Bühne vom "laktoseintoleranten Pack" die Rede ist, dessenwegen man gar keinen Kuchen mehr backen kann und Franconia erklärt, sie sei dem Publikum schon "mindestens einen Bocksbeutel voraus", fühlt man sich in seinem Vorurteil ganz ungut bestätigt. All das gehört freilich zum Kalkül des Autors Gerasimos Bekas. Er hat, zusammen mit Regisseur Albrecht Schroeder, einen Abend gebaut, der das Schmunzelsetup einreißt. Weil unter jedem Prosit der Gemütlichkeit der Horror lauert.

Abschiedsparty mit Migrationsgesprächen

"Sisyphos auf Silvaner" entstand im Rahmen des Leonhard-Frank-Stipendiums, das Bekas 2018 erhielt und das das Schreiben von Texten fördern will, die sich spezifisch mit Würzburg auseinandersetzen. Bekas ist hier aufgewachsen – und trägt das, wie seine Recherchearbeit in der Stadt, wie die Migrationsgeschichte seines griechischen Vaters, mit in den Text.

Der Anfang ist ein Abschied. Sisyphos steht an der S-Bahn-Haltestelle, ein Kasten auf der Bühne mit Fenstern zum Publikum hin. Er will Würzburg hinter sich lassen, antío, antío, und vielleicht nach Sylt oder Kroatien, das sei so beliebt. Seinen Würzburger Freunden passt das nicht. Das sind zum einen Franconia (Lenja Schultze) zum anderen der Chor – den Anton Koelbl alleine vertritt. Ironischer Kommentar auf die Theaterrealität: "Der Intendant hat etwas von Mischkalkulation gesagt..."

SisyphosaufSilvaner1 560 Gabriela Knoch uCheers: Würzburg meets Akropolis in "Sisyphos auf Silvaner" © Gabriela Knoch

Es soll eine Abschiedsparty geben. Also hängen sie Ballons unters Dach des Kastens und – kleine Sache mit großem Partykeller-Effekt – schalten ein rauschendes Kofferradio an, auf dem Antenne Bayern läuft. Es liegt an Sisyphos und Franconia, darüber aufzuklären, warum der König von Korinth hier ist, in Würzburg, und nicht beim Fels und dem Berg: "Es war der Job seines Lebens: Klare Aufgaben, flache Hierarchien." Wir müssen uns Sisyphos… ja, ja. Athene habe diese Zufriedenheit nicht gepasst, also verbannte sie Sisy nach Würzburg, denn das ist das Gegenteil des Olymps.

Horror der Gemütlichkeit

In Würzburg gerierte sich der Grieche als erfolgreicher Recyclingunternehmer und Erfinder des Silvaners. Viele Arbeitsplätze habe er geschaffen. Bastian Beyer spielt ihn als unermüdlich zufriedenen Sisyphos – lässig, verschmitzt, coole Jacke. Aber, so weit, so niedlich, das ist nicht die Geschichte dieses Stücks, das nun seinen Aufbau zerbricht. Sisyphos hat eine neue Heimat gefunden, aber was für eine Heimat ist das? Und wer darf an Heimat teilhaben? Das referieren Franconia und der Choral in langer gebundener Sprache und bitterböse: "Das waren wir 1, 2, 3 im Nu ganz judenfrei."

SisyphosaufSilvaner4 560 Gabriela Knoch uGlücklich oder Nicht-glücklich? Bastian Beyer als Sisyphos © Gabriela Knoch

Die Pointe dieser Geschichte ist die Zerstörung Würzburgs. Aus Sisyphos wird der Eindringling, der Fremde, der Ankläger, aus den beiden Franken, Franconia und dem Chor, werden die, die sich zu verteidigen haben. Man sei ja im Widerstand gewesen. "Heimat ist da, wo es wehtut, dass einen keiner kennt", schreit Sisyphos, gar nicht mehr lässig. Die Stimmung auf seiner Feier ist im Arsch.

Geschichtswimmelbild

Und die Geschichte ist keine mehr. Der Text hangelt sich an den aufgeworfenen Fragen entlang, zerfasert immer mehr ins Anzitieren hinein, aus dem Streitgespräch wachsen assoziierte Anekdoten. Wie die von Sisys – oder Bekas'? – Vater, dem die Deutschen bei seiner Ankunft ins Maul glotzten wie einem Tier. Oder die von Klaus mit den Plastiktüten, der nach dem Krieg hinterm Rathaus Zigaretten getauscht hat. Und noch die gute Hose der HJ trug. Der Chor gibt ihm seine Stimme: "Diese Hose ist von Aldi. Aber sie passt."

Der immer wirrere Tanz um Sisyphos' Abschied steigert sich in seinen Höhepunkt, als Franconia den stellvertretenden dritten Bürgermeister zu einer Rede bittet. Der Chor mimt das Playback dieser Rede, bricht ab, die Rede läuft weiter, die unermüdlichen, bissfesten Phrasen. Bis Sisyphos aufs Technikrack kraxelt und den Stecker zieht – und selbst dann noch: "… man sieht sich immer zwei Mal im Leben. Zum Wohl!"

Reines Gewissen

In eine gute Stunde Spielzeit haben Bekas und Schroeder die Diskurse der Gegenwart hineingepresst. Es ist ein dichtes und äußerst gescheites Stück. Und trotzdem findet sich Zeit, dass man dazwischen wiederholt das herrlich unerträgliche Nichtstun der drei aushalten muss. Dazu bimmelt ein Glockenspiel. Und wie zur Figur einer solchen Rathaus-Verzierung versteinert letztlich auch Sisyphos, als er mit einer Wasserpfeife-blubbernden Off-Stimme immer wieder dieselbe Verhandlung um eine neue Heimat führen muss. Die alte, sagt er, ist kaputt. Er solle nach Österreich, sagt Gott, das habe, was Geschichte angeht, ein ganz reines Gewissen.

Sisyphos auf Silvaner
von Gerasimos Bekas
Regie: Albrecht Schroeder, Bühne und Kostüm: Susanne Hoffmann, Karlotta Matthies, Dramaturgie: Antonia Tretter, Sounddesign: Nicki Frenking.
Mit: Bastian Beyer, Lenja Schultze, Anton Koelbl, Lenja Schultze.
Premiere am 4. April 2019
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.mainfrankentheater.de

 

 
Kritikenrundschau

Das Stück "steckt voll Witz, Ironie und schräger Einfälle, die teilweise auch auf das Konto der Regie von Albrecht Schroeder gehen", berichtet Ralph Heringlehne in der Main-Post (6.4.2019). Bekas mische "skurril Zeitgeistiges" und Würzburger Geschichtsereignisse mit "Mythischem und, augenzwinkernd, mit antiker Theatertradition"; er führe "seine Anliegen anschaulich und mit oft skurriler Logik vor. Zwischendrin verzettelt sich's wegen der Themenfülle aber auch mal." Dabei arbeite der Autor "mit einer Art Zeitzünder-Effekt auf: Der Zuschauer freut sich, lacht und merkt erst später, was ihm an Themen serviert wurde und wie da manche, scheinbar feste Position infrage gestellt wurde."

Die "Lacher des Publikums" würden "schon mal im Hals stecken" bleiben, "weil mit viel Hintersinn einige dunkle Seiten fränkischer Gemütlichkeit aufgeblättert werden", schreibt Felix Röttger im Mannheimer Morgen (10.4.2019). "Einziger Nachteil des intensiven Abends, der Gemüt und Intellekt anzusprechen vermag, ist die diffus bleibende Zeichnung der Charaktere dieses abenteuerlichen Plots."

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