Alter Traum vom Aufstieg

von Jürgen Reuss

Leipzig, 6. April 2019. Wenn Bühnenbild und Kostüme den Grundgedanken der Regie auf den ersten Blick sichtbar machen, darf man wohl zu einer geglückten Zusammenarbeit im Leitungsteam einer Inszenierung gratulieren. So geschehen bei der Premiere von Tennessee Williams' "Süßer Vogel Jugend" am Schauspiel Leipzig. Die Art, in der alle Akteure in den karikaturhaft überzeichneten Kostümen von Vanessa Rust auf dem Bühnenrund von Andreas Auerbach in fast ständiger gleichzeitiger Präsenz verteilt sind, vermittelt dem Publikum von Beginn an, dass Regisseurin Claudia Bauer weniger Ambitionen hat, dem Autor bei der gnadenlosen Rupfung jenes süßen Vogels in einem sich verdichtenden Spannungsbogen zu folgen, als vielmehr: das Geschehen in einem zeitlosem Tableau auszuwalzen.

Rieselnde Gefühle

Die Inszenierung ist ein bisschen so, als würde eine Schneekugel aufgeschüttelt, der man nun zusehen darf, wie alles wieder an den gewohnten Platz zurückfällt. Dazu passt, dass die ersten Worte zwar auf der Bühne gesprochen werden, die Sprechenden sich aber für das Publikum nur in der Projektion auf große, weiße, von der Decke hängende Kugeln zu erkennen geben.

suesser vogel jugend 3 560 RolfArnold uKugeln als große Köpfe und Träume, die wie Seifenblasen platzen in Claudia Bauers "Süßer Vogel Jugend" © Rolf Arnold

Wie ist das also, wenn ein Stück aus den späten Fünfzigern über eine alternde Diva, die ihren Provinzbeau in sein miefig-rassistisches Heimatkaff begleitet, heute wieder aufgeschüttelt wird? Das Mädchen, in das er verliebt war, ruinierte er einst, indem er sie mit einer fiesen Geschlechtskrankheit ansteckte. Was soll von der imaginierten Rückkehr des strahlenden Helden, der sein Mädchen nun doch noch rettet, anderes bleiben, als das erneute Zerschellen des Traums vom Aufstieg. Zumal das Ticket der Unwiderstehlichkeit der Jugend, mit dem der nun nicht mehr ganz so unwiderstehlich junge Chance Wayne einst Zukunftsluft schnupperte, deutlich abzulaufen beginnt?

Rückkehr eines Sündenbocks

Für die zurückgebliebene Provinz ist seine Rückkehr unverzeihlich. Für die einen ist er derjenige, der das alltägliche Zerstörungswerk an der Tochter oder der Schwester damals so offenkundig gemacht hat, dass er als Sündenbock kastriert werden muss, um die Herrschaft des rassistischen Patriarchen nicht anzukratzen. Den anderen, die ihn aus der Ferne für seinen geglückte Flucht bewundert haben, führt er vor Augen, dass auch dieser Traum nur eine Seifenblase war. Da auch die Diva den Trost des jungen Lovers weniger nötig hat, da ihr Comeback gelang, gibt es eigentlich für niemanden einen Grund zu mitfühlender Kommunikation.

suesser vogel jugend 2 560 RolfArnold uDas Comeback gelingt zumindest der Diva, v.l.nr: Andreas Dyszewski, Anita Vulesica, Florian Steffens © Rolf Arnold

Auch diesen Punkt macht die Regie von Beginn an klar. Die Akteure sprechen nicht miteinander, sie schreien sich ständig in Eskalationsstufen an. Diese Überzeichnung gibt den Schauspielerinnen viel Raum, sich auszutoben. Mit einem Faible für Holzhammertheater wird man reich beschenkt, etwa mit Anita Vulesicas Diva, die wie eine alternde Elisabeth Taylor letztlich nur mit auf sie gerichteten Scheinwerfern kommuniziert. Oder auch die Kleinstrolle des "schwarzen Butlers", der seinem Minimaltext ähnlich Nachdruck verleiht wie Klaus Kinski in den Edgar-Wallace-Verfilmungen.

Repräsentative Zukunftlosigkeit

Einzig Florian Steffens als Chance Wayne hat es schwer. Seinem schmierigen Kleinstadtcasanova müsste er Psychologie einhauchen, um die Sentimentalität nachvollziehbar zu machen, aus der heraus er überhaupt in seine Heimat zurückkehren will. Eine Aufgabe, an der er strukturell scheitern muss, weil die Regie keine Psychologisierung vorsieht, aber er überspielt das angenehm locker.

Dann gibt es da noch die Stimme, die in all dem Geschrei angenehm ruhig und scheinbar vernünftig ertönt. Dass ist die von Boss Tom Finley, den Michael Pempelforth Alexander-Gauland-artig anlegt. Und damit ist man beim politischen Moment der Inszenierung, der Punkt, der auch nachvollziehen lässt, warum man Tennessee Williams' Schneekugel heute durchaus noch mal aufschütteln kann. Wenn sich das Gefühl oder auch die Diagnose als Versager abgehängt zu sein empathie- und zukunftslos zum allgemeinen Geschrei aufschaukelt, wird schnell mal irgendwo – wie am Anfang erzählt – einfach so ein Schwarzer Mensch kastriert, die Frustration wegprojiziert und draufgeschlagen.

Groteske Farce

Und wenn dann einer wie Boss Finley in all dem Gekreisch mit ruhiger Stimme sagt, dass er die Tat verurteile, man aber die Täter auch verstehen müsse, wirkt er plötzlich wie die Stimme der Vernunft. Aber diese Art von Vernunft schlägt im tiefen Loch, in dem der schwarze Vorhangtrichter das Bühnengeschehen am Ende verortet, auch noch die letzten Fluchtwege ins Offene zu. Wer den Fünfzigerjahre-Mief heute aufschüttelt, sollte sich bewusst sein, damit eine groteske Farce aufzuführen. Im Theater mag das aus therapeutischen Gründen eine gute Idee sein, auch wenn man hoffen mag, dass für die meisten diese Art der Therapie unnötig sein möge. Am Ende großer Applaus eines gut und intelligent unterhaltenen Publikums.

Süßer Vogel Jugend
von Tennessee Williams, Deutsch von Nina Adler
Regie: Claudia Bauer, Bühne: Andreas Auerbach, Kostüme: Vanessa Rust, Musik: Roman Kanonik, Dramaturgie: Katja Herlemann, Licht: Veit-Rüdiger Griess.
Mit: Florian Steffens, Anita Vulesica, Michael Pempelforth, Roman Kanonik, Julia Preuß, Annett Sawallisch, Sophie Hottinger, Andreas Dyszewski, Thomas Braungardt, Brian Völkner.
Premiere 6. April 2019
Dauer 2 Stunden, keine Pause

www.schauspiel-leipzig.de

 

Kritikenrundschau

"Hält man sich die gesellschaftlichen Realitäten vor Augen, unter denen Tennessee Williams sein Drama schrieb, könnte man zu dem Schluss kommen, das Stück habe wenig mit der aktuellen Bundesrepublik zu tun. Hat es aber – das arbeitet Regisseurin Claudia Bauer in ihrer Inszenierung am Schauspiel Leipzig heraus", lobt Dimo Rieß in der Leipziger Volkszeitung (7.4.2019). Claudia Bauer zaubere "wunderbar atmosphärisch aufgeladene Bilder, zeigt mit ihrem Arrangement auf den ersten Blick die Vereinzelung der Figuren". Nur beraube sich die Inszenierung mitunter ihrer Intensität und ihres Rhythmus "mit einem Hang zu ironischen Einsprengseln in Erzählpassagen, übertourt gespielten Konflikten oder plakativen Gags. Bewusste Überspitzungen, auf die das schauspielerisch gut aufgelegte Ensemble nicht angewiesen ist, um aus Williams 50er-Jahre-Charakteren zeitlose Figuren herauszuarbeiten", so Rieß: "Herausragend interpretiert Anita Vulesica ihre del Lago, die die eigenen Niederlagen nur erträgt, in dem sie Chance erniedrigt."

"Manege frei für ein abgehalftertes Stück: Regie und Ensemble mühen sich redlich, Tennessee Williams' 'Süßer Vogel Jugend' zu reanimieren. Beide leisten großes, um im schwarzen Zirkuszelt das Drama auf Trab zu bringen. Allein, der Stoff ist verstaubt", schreibt Tobias Prüwer in der Freien Presse (7.4.2019). "Was der Gigolo Chance Wayne, die rassistische Sippe seine Jugendliebe oder die exaltierte Filmdiva mit dem Heute zu tun haben, erschließt sich in keiner Szene des dennoch schönen Spiels. Sicherlich, es geht um den Jahrmarkt der Eitelkeiten, der immer noch Saison hat. Nur ist er in der gezeigten Form so weit weg von der Gegenwart, dass diese einfach nicht berührt." Deshalb habe die Regie wohl versucht, das Drama nicht realistisch, sondern als Farce aufzuführen. "Doch auch dieser Dreh ins Groteske reicht nicht zur Wiederbelebung des toten Stoffs – von ein paar netten Bildern abgesehen. Es ist, wie einen alten Film schauen, von dem man weiß, dass er mal ein Blockbuster war."

Claudia Bauer habe Tennessee Williams "aus dezidiert weiblicher Sicht inszeniert", und das gelingt nach Ansicht von Anna Fastabend von der Süddeutschen Zeitung (10.4.2019) ganz hervorragend. Bauer "siedelt ihre bitterkomische Interpretation in einem Müllsack an", für sie sei "der American Dream endgültig ausgeträumt, nein, mehr noch, für sie gehört diese zerstörende Ideologie auf den Abfallhaufen der Geschichte". Viel Lob erhält Anita Vulesica für ihre Auftritte als "Matriarchin in goldenen Dessous und Puschelsandaletten".

 

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