"Ignaz, hast du den bestellt?“

von Wolfgang Behrens

9. April 2019. Vor fünf Wochen erschien an dieser Stelle eine Kolumne, die von störenden Zwischenrufern im Theater handelte (und auch von den – wenngleich signifikant selteneren – Zwischenruferinnen). Auf der nach oben offenen Störungsskala ist mit ihnen allerdings noch lange kein Spitzenwert erreicht, denn es gibt noch die zwar raren, aber umso eindrücklicheren Störer, die handfest ins Geschehen eingreifen, indem sie uneingeladen in den Bühnenbereich eindringen: sozusagen die (aus Sportveranstaltungen sattsam bekannten) Flitzer des Theaters.

Der Clou mit dem Probentonfall

Mein erster Theaterflitzer begegnete mir beim Berliner Theatertreffen 1998 (meiner bescheidenen Ansicht nach war das übrigens eine Art Jahrhundert-Jahrgang). Gert Voss und Ignaz Kirchner waren in einer Burgtheater-Inszenierung von George Tabori mit Becketts "Fin de Partie" an der Freien Volksbühne Berlin zu Gast. Bei einer der Aufführungen erklomm für alle überraschend ein Zuschauer die Bühne, der offensichtlich so etwas wie eine Resolution zu verlesen beabsichtigte. Voss und Kirchner behielten auf bewunderungswürdige Weise die Ruhe. Ein Clou dieser Produktion bestand darin, dass die beiden Schauspieler ihr eigentliches Spiel auf der Bühne zuerst aus einer vermeintlichen und nahezu privat anmutenden Probensituation heraus entwickelten – in diesen Probentonfall fielen sie nun einfach wieder zurück. Nach ersten verdutzten Blicken in Richtung des Zuschauers fragte Voss trocken und mit leichtem Voss'schen Singsang: "Ignaz, hast du den bestellt?" Kirchner darauf: "Nein, du?"

kolumne 2p behrensWie genau sich die Sache auflöste und wie der überengagierte Zuschauer wieder ins Parkett verfrachtet wurde, ist mir leider entfallen. Ich meine mich jedenfalls zu erinnern, dass es nicht zur Verlesung der politischen Botschaft kam – über weitere Hinweise zur Auffrischung meines Gedächtnisses wäre ich jedoch jederzeit dankbar.

Man kann eine solche Form der Störung ja durchaus witzig finden, weil sie die Spontaneität der Schauspieler testet und entfesseln kann – aus der Perspektive der Darsteller sieht sich das allerdings entschieden anders aus. Eine Münchner Schauspielerin und Regisseurin erzählte mir kürzlich, dass ihr am Residenztheater einmal Vergleichbares passiert sei: Plötzlich habe sich ein junger Mann auf die Bühne geschwungen und sei schnurstracks auf sie zugesteuert. Witz und Spontaneität fielen in diesem Augenblick gänzlich von ihr ab, stattdessen setzte eine Art Schockstarre ein: Sie habe schlicht Angst gehabt, dass ihr gleich ein Wahnsinniger auf offener Szene etwas antun würde. Der junge Mann freilich marschierte fröhlich an ihr vorbei und entschwand in den Kulissen, um dort vom Theaterpersonal in Gewahrsam genommen zu werden. Er hatte – wie sich später herausstellte – auf diese Weise eine Wette gewonnen.

Aus Wut, aus Mitleid, aus Protest

Auch bei den Eindringlingen in die Bühnenrealität gibt es natürlich Grenzfälle, bei denen man ihrem Handeln eine gewisse Berechtigung zuzusprechen geneigt ist. Beim Theatertreffen 2012 etwa reagierte Vegard Vinge in seiner 12-stündigen "John Gabriel Borkman"-Performance auf eine Steilvorlage der Sarah-Kane-Eröffnungsinszenierung von Johan Simons, in der – radikal, radikal! – einmal bis 52 gezählt wurde. In der ersten "Borkman"-Vorstellung im Rahmen des Theatertreffens ließ Vinge daraufhin zwei Stunden bis 1.332 zählen, bei der zweiten wollte er gar die 10.000 erreichen. Nach fünf Stunden und irgendwo in den Dreitausendern wurde er durch die Rebellion einiger Zuschauer gestoppt, die lärmend empfindliche Bereiche des Vinge'schen Bühnenuniversums zu entern drohten, um die eigentliche Kunstperformance zu erzwingen. Wer wollte es ihnen verdenken?

Grundsätzlicher noch ging es bei Oliver Frljićs "Balkan macht frei" am Münchner Residenztheater zur Sache: Der Schauspieler Franz Pätzold wurde darin von seinen Mitspielern aufs Übelste per Waterboarding traktiert – und die Realität des Vorgangs ließ schnell die Frage virulent werden, inwiefern das noch Spiel war oder bereits echte Folter. Meiner Kenntnis nach sind bei jeder einzelnen Vorstellung Zuschauer auf die Bühne geklettert, um die Quälerei abzubrechen – und man darf durchaus vermuten, dass diese Reaktion einkalkuliert war.

Ganz und gar nicht einkalkuliert waren indes die ca. 30 Zuschauer*innen, die am 31. Oktober 1985 die Bühne des Frankfurter Kammerspiels besetzten. Sie störten mit dieser Aktion die an diesem Abend geplante Aufführung auf recht empfindliche Weise, sie verhinderten sie nämlich komplett. Es ging damals um die Frage, ob das uraufzuführende Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" von Rainer Werner Fassbinder antisemitisch sei, was das künstlerische Team und die Theaterleitung heftig verneinten, zumindest 1.000 Demonstranten samt den 30 Zuschauer*innen auf der Bühne jedoch bejahten.

Ob die Vorwürfe an Fassbinders Stück und an das Frankfurter Theater nun berechtigt waren oder nicht – die Diskussion, die aus den damaligen Vorgängen erwuchs, war wichtig. Und so erweist sich das Theater auch bei seinen Störern und Flitzern als Spiegelbild der äußeren Welt: Manche Störungen sind einfach nur lästig, albern oder überflüssig. Manche aber sind gesellschaftlich geboten. Weswegen so manchem Flitzer unsre Sympathie gehört, selbst an dieser Stätte, wo er – stört.

 

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit der Spielzeit 2017/18 Dramaturg am Staatstheater Wiesbaden. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er u.a. in seinem reichen Theateranekdotenschatz.

 

Zuletzt widmete sich Wolfgang Behrens in seiner Kolumne den Missfallensbekundungen aus dem Publikum.

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Kommentare  
Kolumne Behrens: Korrektur
Franz Pätzold heißt der Schauspieler aus Balkan macht frei

(Danke, ist korrigiert, d. Red.)
Kolumne Behrens: The Show must go on
Legendär und peinlich schon die Bühnenflitzer bei "The Show must go on" von Jerome Bel ...
Kolumne Behrens: Theater und Tabu
@ Wolfgang Behrens,
Fassbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“ ist m.E. nicht bloß einer von vielen Fällen in der Typologie der Theaterstörer.

Für mich ist das Stück ein Markstein in der modernsten Theatergeschichte, der 1985 einen neuen Zeitabschnitt einläutete. Seither waren und sind ja allerlei Garstigkeiten und Konventionsbrüche auf der deutschsprachigen Bühne möglich, aber nicht die unangebrachte Berührung der jüdischen Befindlichkeit, und von einer unnötigen Irritation der Moslems durch ein Bühnenstück ist wohl auch abzuraten.

Sie sagen, Herr Behrens, die Diskussion, die um Fassbinders Stück erwuchs, „war wichtig“. Ja. So vergewissern wir uns gegenseitig, dass wir uns augenscheinlich noch im 20. Jhdt. befinden. Das ist orientierungsstiftend.
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