Für die Kunstfreiheit
Keine Kriminalisierung kritischer Kunst!

Berlin, 11. April 2019. Gegen das "Zentrum für politische Schönheit" ist wegen "Bildung einer kriminellen Vereinigung" ermittelt worden. Das ist ein bedrohlicher Angriff auf die Meinungs- und Kunstfreiheit. Wir protestieren!

Mit Fassungslosigkeit mussten wir Anfang April zur Kenntnis nehmen, dass die thüringischen Straf- und Ermittlungsbehörden seit Ende November 2017 auf Antrag der Staatsanwaltschaft Gera gegen das "Zentrum für politische Schönheit" (ZPS) nach § 129 StGB mit Blick auf den Verdacht zur "Bildung einer kriminellen Vereinigung" ermitteln. Das Ermittlungsverfahren wurde eine Woche nach Veröffentlichung der ZPS-Aktion "Deine Stele", dem Bau einer Kopie des Holocaust-Mahnmals gegenüber des Wohnhauses von MdL Björn Höcke, eingeleitet. Die Kunstaktion "Deine Stele" wurde im Rahmen des 3. Berliner Herbstsalons des Maxim Gorki Theaters präsentiert.

Der § 129 StGB ist bekannt als sog. "Schnüffelparagraf", der eigentlich nur für besonders schwere Straftaten wie Terrorismus und Bandenkriminalität angewandt wird. Demnach wird "mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer eine Vereinigung gründet oder sich an einer Vereinigung als Mitglied beteiligt, deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind." Eine "Vereinigung" im Sinne dieser Vorschrift "ist ein auf längere Dauer angelegter, von einer Festlegung von Rollen der Mitglieder, der Kontinuität der Mitgliedschaft und der Ausprägung der Struktur unabhängiger organisierter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses." Ermittlungen schließen daher die weitgehende Einschränkung von Grundrechten wie das Brief- und Telekommunikationsgeheimnis und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein (Online-Überwachung, Staatstrojaner). Sie ermöglichen also die Überwachung im Sinne des sogenannten "Großen" und auch "Kleinen Lauschangriffs".

Ein derartiges Ermittlungsverfahren – das bestätigen Jurist*innen – ist bisher noch nie gegen Künstler*innen zum Einsatz gekommen. Die Staatsgewalt greift massiv in die Grundrechte von Künstler*innen ein. Wie konnte es zu diesem skandalösen Vorgehen kommen?

  • November 2017: Unmittelbar nach Beginn der Kunstaktion – von Beginn an durch das Zentrum für politische Schönheit als solche kenntlich gemacht – bezeichnet der Fraktionsvorsitzende der AfD im Thüringer Landtag auf einer Veranstaltung das "Zentrum für politische Schönheit" als "kriminelle" und "terroristische Vereinigung".
    In öffentlicher Sitzung erklärt - ebenfalls kurz nach der Aktion - der Präsident des Thüringer Landtags Christian Carius: "… ich habe daher den Innenminister gebeten, in einem Telefonat, dringend dafür zu sorgen, dass (…) erforderliche Ermittlungen eingeleitet werden."

  • Daraufhin leitet der zuständige Staatsanwalt, Martin Zschächner, Ermittlungen nach § 129 StGB ein.

  • Im Februar 2018 urteilt das Landgericht Köln, dass die Aktion in allen wesentlichen Teilen von der Kunstfreiheit gedeckt ist. Das Ermittlungsverfahren wurde dessen ungeachtet nicht eingestellt.

  • Erst durch eine Anfrage der Fraktion DIE LINKE im Landtag wird im März 2019 öffentlich, dass das Ermittlungsverfahren noch läuft.

  • Anfang April bestätigt der Sprecher der Staatsanwaltschaft Gera dies. Bei diesem Sprecher handelt es sich um: Martin Zschächner. Investigative Recherchen von ZEIT und Süddeutscher Zeitung ergeben eine politische Nähe des Juristen zur AfD und legen nahe, dass er seine private politische Meinung nicht von seinen Entscheidungen als Jurist und leitendem Beamten einer exekutiven Behörde zu trennen vermag.

  • Der zuständige Justizminister Dieter Lauinger (Bündnis 90/Die Grünen) stellt sich hinter den Staatsanwalt und rechtfertigt das Vorgehen salopp: das Zentrum habe sich selbst der Straftat bezichtigt.

In Art. 5 Absatz 3 des Grundgesetzes ist die Freiheit der Kunst garantiert. Fraglos sind die Aktionen des "Zentrums für politische Schönheit" – bewusst – provokant, bisweilen wohl für einige auch "geschmacklos", jedenfalls "grenzwertig". Das Merkmal eines funktionierenden Rechtsstaates ist es aber, dass diese Grenzen am Ende von den Gerichten festgelegt werden, wie im vorliegenden Fall durch das Urteil des Landgerichts Köln geschehen. Was bedeutet es, wenn – dessen ungeachtet – der Staatsanwalt hier meint, der "Zweck und Tätigkeit" dieser Gruppe sei "auf die dauerhafte Begehung von Straftaten" gerichtet? Es hätte neben dem bereits laufenden zivilrechtlichen Verfahren ausreichende andere strafrechtliche Möglichkeiten gegeben, die Rechtmäßigkeit der Aktion – so man diese in Zweifel zieht – angemessen zu überprüfen. Stattdessen wurde ermittlungstechnisch das schärfste Mittel gewählt, das der Kriminalitätsbekämpfung zur Verfügung steht. Welche Straftat, "die (…) mit einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht ist" wurde hier angenommen bzw. sollte vorgelegen haben? Das allein ist ein unerträglicher und unzulässiger Vorgang der Kriminalisierung von Kunst! Wenn aber die Kette der Ereignisse eine politische Entscheidung zur Ausforschung und Einschüchterung von Künstler*innen nahelegt, muss dies zutiefst alarmieren. Denn was ist die Botschaft, die an die Gesellschaft und an Künstler*innen gesendet wird? Sollen wir eingeschüchtert werden? Müssen wir in Zukunft davon ausgehen, dass Staatsanwälte mittelbar auch die Kommunikation von Theatern und Kulturinstitutionen untereinander überwachen, weil auch Kontaktpersonen im Zusammenhang mit § 129 StGB ausgehorcht werden dürfen. Soll ein Exempel statuiert werden, das kritische Kunst als gemeinwohlgefährdend denunziert?

Gerade vor dem Hintergrund, dass sich diese Vorgänge in einem Bundesland abspielen, in dem die – vorsichtig formuliert – nachlässige Ermittlungsarbeit es nicht rechtzeitig verhinderte, dass eine echte "kriminelle Vereinigung" wie die des mörderischen "NSU" Rechtsterror-Netzwerks gefasst wird (bis heute sind die Vorgänge um den "NSU" nicht vollständig aufgeklärt), ist der politisch motivierte An- und Eingriff in die Kunstfreiheit ein fatales Zeichen für die gesamte Zivilgesellschaft. Schließlich lebt eine offene Gesellschaft, eine liberale wie lebhafte und auch wehrhafte Demokratie nicht zuletzt von jenen Künstler*innen, die Politik und Gesellschaft den Spiegel vor Augen halten, selbst wenn das für einige "geschmacklos" oder unbequem sein mag. Die Ignoranz, mit der Justizminister Lauinger – als Aufsichtsbehörde – meint, die Künstlergruppe sei quasi "selber schuld", weil sie sich "selbst einer Straftat bezichtigt" habe, macht in diesem Zusammenhang sprachlos.

Dass wir mit der Einschätzung als "alarmierenden Vorgang" nicht alleine stehen, bezeugen die Aussagen des zuständigen Ministerpräsidenten und vieler anderer Politiker*innen, aber eben auch vieler namhafter Jurist*innen, die das Ermittlungsverfahren sehr scharf kritisiert haben, weil auch sie befürchten, dass hier ein Staatsanwalt auf Geheiß der AfD im Gewande des einschüchternden Strafrechts kulturpolitisch agiert.

Wir fordern daher den Landesjustizminister Dieter Lauinger dazu auf, seine Kontrollpflicht rascher wahrzunehmen und dafür zu sorgen, dass solche Ermittlungen künftig erst überhaupt nicht erhoben werden. Selbst wenn das Verfahren just Anfang der Woche – d.h. nach 16 Monaten Ermittlungstätigkeit (!) sowie der Ablehnung des Akteneinsichtsrechts noch vor einer Woche mit dem Hinweis auf die "laufenden Ermittlungen" (!) – eingestellt wurde, muss der Zeitpunkt, aber noch mehr die Begründung verwundern, weil sie nach wie vor von der Richtigkeit bzw. Rechtmäßigkeit ausgeht, was unerträglich ist. Uns scheint, dass die Verantwortlichen sich vor ihrer politischen Verantwortung drücken, nachdem es von allen Seiten starke bis drastische Kritik hagelte.

Daher fordern wir eine offizielle Entschuldigung der politisch Verantwortlichen sowie eine Erklärung, dass strafrechtliche Ermittlungen, die offensichtlich den Kernbereich der Kunstfreiheit berühren, in Zukunft unterbleiben! Der bzw. die Verantwortliche(n) sind zur vollen Verantwortung zu ziehen und ihre Verbindungen zu politischen Akteuren bzw. Parteien sind offenzulegen. Diese peinliche Politik-Posse muss umgehend umfassend untersucht werden!

Abseits dessen sind alle in diesem Zusammenhang gesammelten Daten sofort zu löschen und die Betroffenen zu benachrichten!

Wir rufen die Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft dazu auf, lautstark zu protestieren, wenn unsere Grundrechte angegriffen oder sogar ausgehebelt werden. Wir sind zwar fassungslos, aber nicht verfassungslos! Wir wenden und wehren uns in aller Form gegen eine das Gemeinwesen und die freiheitlich demokratische Grundordnung gefährdende Tendenz zur politisch-ideologischen Kriminalisierung von Kunst und gegen eine gesinnungsgeleitete Instrumentalisierung des Strafrechts.

zur Petition auf change.org

Erstunterzeichner:

Shermin Langhoff, Intendantin Maxim Gorki Theater
Herbert Grönemeyer, Musiker
Jan Böhmermann, Satiriker
Saša Stanišić, Schriftsteller
Deniz Yücel, Journalist
Prof. Dr. Harald Welzer, Professor für Sozialpsychologie
Lea Rosh, Initiatorin des Holocaust Mahnmals in Berlin
Can Dündar, Journalist
Peter Steudtner, Menschenrechtler
Dani Levy, Regisseur
Robert Menasse, Schriftsteller
Sibylle Berg, Schriftstellerin
Matthias Lilienthal, Intendant Münchner Kammerspiele
Bela B Felsenheimer, Musiker
Daniel Richter, Künstler
Prof. Dr. Naika Foroutan, Sozialwissenschaftlerin
Fahri Yardim, Schauspieler
Prof. Dr. Herfried Münkler, Politikwissenschaftler
Clemens Schick, Schauspieler
Katja Riemann, Schauspielerin
Samuel Finzi, Schauspieler
Marc-Uwe Kling, Schriftsteller und Kabarettist
Prof. Dr. Peter Raue, Rechtsanwalt
Klaus Lederer, Kultur- und Europasenator von Berlin
Tim Göbel, Geschäftsführender Vorstand Schöpflin Stiftung
Esra Küçük, Geschäftsführung Allianz Kulturstiftung
Johannes Kahrs, MdB SPD
Jakob Augstein, Journalist
Falk Richter, Regisseur
Suse Marquardt, Casting Director
Margarete Stokowski, Schriftstellerin und Kolumnistin
Fabian Haslob, agentur players, Berlin
Mechthild Holter, agentur players, Berlin
Sasha Marianna Salzmann, Schriftsteller*in
Edgar Selge, Schauspieler
Kathrin Röggla, Schriftstellerin, Viezepräsidentin der Akademie der Künste
Kevin Kühnert, Bundesvorsitzender der Jusos
Katja Kipping, Parteivorsitzende DIE LINKE
Martina Renner, stellv. Parteivorsitzende DIE LINKE
Sevim Dağdelen, stellv. Vorsitzende DIE LINKE im Bundestag
Cem Özdemir, MdB Die Grünen
Canan Bayram, MdB Die Grünen
Jo Schück, Moderator und Journalist
Florian Schröder, Kabarettist
Deichkind, Musiker
Eva Mattes, Schauspielerin
Anna Thalbach, Schauspielerin
Arno Frank, Schriftsteller
Friedrich Küppersbusch, Journalist
Amelie Deuflhard, Intendantin Kampnagel Hamburg
Marcel Klett, Geschäftsführender Direktor Maxim Gorki Theater
Joachim Klement, Intendant Staatsschauspiel Dresden
Annemie Vanackere, Intendanz, und das Team des HAU Hebbel am Ufer
Ansgar Haag, Intendant Meininger Staatstheater
Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates
Holger Bergmann, DIE VIELEN e.V. Vorsitzende*r
Carl Hegemann, Dramaturg
Ludwig Haugk, Leitender Dramaturg Maxim Gorki Theater
Sebastian Nübling, Theaterregisseur
Ersan Mondtag, Theaterregisseur
Milo Rau, Theaterregisseur
İdil Baydar, Kabarettistin
Hans Werner Kroesinger, Theaterregisseur
Prof. Joseph Vogl, Literaturwissenschaftler
Prof. Bernhard Pörksen, Medienwissenschaftler
Rat für die Künste Berlin
Johanna Adorján, Schriftstellerin
Daniel Knorr, Künstler
Yassin, Rapper/Musiker
Elisabeth Ruge, Lektorin
Oliver Polak, Komiker
Sonia Seymour Mikich, Journalistin und Chefredakteurin des WDR
Sophie Passmann, Schriftstellerin
Steffen Mensching, Intendant Thüringer Landestheater Rudolstadt
Ali Can, Aktivist
Robert Schindel, Lyriker
Samira El Ouassil, Schriftstellerin
Ulrike Guérot, Publizistin
Martin Sonneborn, Gutmensch und Politiker
Ruben Neugebauer, Sea Watch
Elias Perabo, Adopt a Revolution
Olli Schulz, Musiker
Feine Sahne Fischfilet, Musiker
Prof Dr. Kader Konuk, Uni Duisburg-Essen
Jens Hillje, Co-Intendant Maxim Gorki Theater
Mitarbeiter*innen des Residenztheaters München
Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt am Main GmbH
Janina Benduski, Vorsitzende BFDK Bundesverband Freie Darstellende Künste
Dr. Steffen Haug, The Warburg Institute London
Thomas Kilpper, Künstler
Max Czollek, Schriftsteller
Regine Dura, Dramaturgin
Christian Weise, Theaterregisseur
Benny Claessens, Schauspieler
Mitarbeiter*innen des Theaterhauses Jena
Natascha Sadr Haghighian, Künstlerin
Prof. Michael Diers, Professor für Kunst- und Bildgeschichte
Julian Rosefeldt, Filmkünstler
Katharina König-Preuss, Thüringer Landtagsabgeordnete DIE LINKE
Heike Hänsel, stellv. Vorsitzende DIE LINKE im Bundestag
Anke Domscheit-Berg, MdB DIE LINKE
Ulla Jelpke, MdB
Antje Stahl, Journalistin
Nora Bossong, Schriftstellerin
Dr. Thomas Engel, Direktor ITI Zentrum Deutschland
Chris Dercon, Kurator
Dieter und Peer Ripberger, Intendanz ITZ im Zimmertheater Tübingen
Nevin Aladağ, Künstlerin
Prof. Dr. Nikolaus Müller-Schöll, Goethe-Universität Frankfurt
Thomas Helbig, HU Berlin
Mehmet Ateşçi, Schauspieler
Emre Aksızoğlu, Schauspieler
Mareike Beykirch, Schauspielerin
Falilou Seck, Schauspieler
Mehmet Yılmaz, Schauspieler
Broilers, Musiker
Felizitas Stilleke, Dramaturgin / Kuratorin
Henrike Naumann, Künstlerin
Tobias Zielony, Künstler
Aram Tafreshian, Schauspieler
Taner Şahintürk, Schauspieler
Hanh Mai Thi Tran, Schauspielerin
Priya Basil, Schriftstellerin
Çağla Ilk, Kuratorin
Aelrun Goette, Regisseurin
Jana Petersen, Journalistin
Friederike Heller, Theaterregisseurin
Christina Clemm, Rechtsanwältin
Svenja Leiber, Schriftstellerin
Lanna Idriss, Kulturmanagerin
Ruth Reinecke, Schauspielerin
Therese Dörr, Schauspielerin
Sophie Zeitz, Literaturübersetzerin
Elena Schmidt, Schauspielerin
Sina Martens, Schauspielerin
Marco Massafra, Schauspieler
Götz Schubert, Schauspieler
Fabian Busch, Schauspieler
Mathias Werth, Journalist
Andreas Döhler, Schauspieler

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 Mehr dazu:

Zeit Online, 5. April 2019, Zentrum für politische Schönheit: Der Rechts-Staatsanwalt

Tagesspiegel, 4. April 2019, Ramelow kritisiert Ermittlungen gegen Künstlergruppe

Deutschlandfunk Kultur, 4. April 2019, Gespräch mit Anwalt Peter Raue

Süddeutsche Zeitung, 7. April 2019, Prantls Blick: Es riecht nach Rechtsbeugung aus politischen Gründen

Deutschlandfunk Kultur, 8. April 2019, Zur Einstellung der Ermittlungen gegen das ZPS

Deutschlandfunk, 8. April 2019, Gespräch mit Heribert Prantl

Tagesspiegel, 10. April 2019, Ein Staatsanwalt aus Gera und seine Nähe zur AfD

 

 

 

 

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