Abtanzer und Aufräumer

von Steffen Becker

Tübingen, 11. April 2019. Würden Sie lieber in einer amoralischen oder in einer hypermoralischen Gesellschaft leben? Kommt wahrscheinlich auf die Perspektive an – als Mitglied einer privilegierten Oberschicht, die ungehemmt nehmen kann, was sie will, hat Variante 1 sicher ihre Vorteile. Die Protagonisten der Shakespeare’schen Dark Comedy "Maß für Maß" genießen sie auf der Bühne des Landestheater Tübingen jedenfalls in vollen Zügen. Sie drücken ihre Latex-Bodies und Fake-Brüste in die Kamera. Die projiziert die Kopulationen in Großaufnahme.

Ihre Köpfe verschwinden allerdings unter überdimensionierten Spaßmasken; diese sind sowohl Folge als auch Verhöhnung von Gesetzen, die das Treiben eigentlich verbieten. Dem Herrscher dämmert, dass diese Ausschweifungen Konsequenzen haben. Zwar lobt ihn das Volk für sein Engagement für uneheliche Kinder, aber die Kosten wachsen ihm langsam über den Kopf. Also verlässt er die Stadt und überträgt die Verantwortung seinem tugendhaften Stellvertreter Angelo – als Testballon fürs Aufräumen und Blitzableiter für den Ärger, den das verursacht.

 MfM 3 560 Martin Sigmund uDas Beil auf der Brust: Daniel Holzberg, Nicolai Gonther © Martin Sigmund

Von dem gibt es auch im realen Tübingen genug. Deutschlands bekanntester Provinz-OB Boris Palmer hat als Inbegriff des Klischees vom rechthaberischen Oberspießer mehrere "Auftritte" in der Inszenierung von Nick Hartnagel. Der etwas tumbe Wachtmeister (Jens Lamprecht) parodiert bei der Verfolgung einer Dirne den Palmer‘schen Versuch, die Personalien eines missliebigen Studenten aufzunehmen ("Ich bin Leiter der örtlichen Polizeibehörde!"). Später wird ein Besen geköpft, den "Die Partei" als Gegenkandidat zu Palmer aufbauen wollte. Arg viel politischer wird es allerdings nicht auf der Bühne. Die schwankt zwischen einer Ausstattung als Western Saloon (Recht des Stärkeren!) und einem cleanen Sci-Fi-Look der Hauptfiguren (Recht und Ordnung!).

Blutleerer Hardliner

Das will nicht so ganz passen zur Gegenüberstellung eines alten dekadenten Systems und einer als zwar rigiden, aber willkürlich dargestellten Alternative. Auch einen Link zur aktuellen politischen Lage mag die Inszenierung nicht in Shakespeare hineinlesen. Das Programmheft betont zwar die Sehnsucht nach einem "starken Mann" als Bezugspunkt. Doch der Hardliner Angelo wird von Nicolai Gonther als ein auf blutleer geschminkter, gehemmter Pedant gezeigt, der schnell an den eigenen Ansprüchen scheitert – und gerade nicht als Macho-Berserker, als den sich Populisten heute inszenieren. Die #Metoo-Anspielungen machen in einer Welt, in der Männer Macht (und am Ende auch Frauen) verteilen, durchaus Sinn. Sie bleiben in der Inszenierung aber nicht mehr als bloßes Zitat.

MfM 2 560 Martin Sigmund uLisan Lantin, Daniel Holzberg, Stephan Weber, Florenze Schüssler, Rolf Kindermann, Gilbert Mieroph © Martin Sigmund

Weit weniger oberflächlich bleibt "Maß für Maß" in der Charakterzeichnung. Die Komödie hätte auch Knallchargen hergegeben (und es gibt sie in Tübingen auch). Aber gerade die Figur des Herrschers gelingt Gilbert Mieroph bei allem Klamauk überraschend vielschichtig. Gewandet in goldene Leggings und Vokuhila-Perücke ist er sympathisch und widerwärtig, einfühlsam und rücksichtslos – der Inbegriff eines Manipulators. Funktioniert auch in Richtung Publikum: Er setzt die Stimmung der Szenen.

Gegen den historischen Strich bürstet die Inszenierung die weibliche Hauptfigur Isabella. Statt einer naiven Novizin, die um das Leben ihres Bruders bitten muss, steht da eine abgeklärte Frau, die sich eigentlich angewidert von dieser Gesellschaft abwenden wollte. Florenze Schüssler spielt sie mit der Lakonie einer Frau, die ahnt, dass die Männergesellschaft sie am Ende übervorteilen wird. In den Nebenrollen stechen hervor: Rolf Kindermann als Escalus, Mann der zweiten Reihe, der souverän zeigt, wie man politisch immer irgendwie durchkommt. Sowie Lisan Lantin, die als verstoßene Fastfrau des Angelo eine Inkarnation von Nina Hagen zum Besten gibt. Als Abend für Schauspieler*innen funktioniert "Maß für Maß" durchaus. Aber als Polit-Stück wird es wahrscheinlich nur dann zünden, wenn Boris Palmer sich darüber auf seiner Facebook-Seite aufregt.

 

Maß für Maß
Deutsch von Thomas Brasch
Inszenierung: Nick Hartnagel, Bühne & Kostüme: Tine Becker Musik: Lukas Lonski, Live-Kamera: Daniel Holzberg, Dramaturgie: Laura Guhl
Mit: Florenze Schüssler, Lisan Lantin, Gilbert Mieroph, Nicolai Gonther,Rolf Kindermann, Stephan Weber, Rinaldo Steller, Daniel Holzberg, Jens Lamprecht.
Premiere: 11. April 2019
Dauer: 2 Stunden, 45 Minuten, eine Pause

www.landestheater-tuebingen.de

 

Kritikenrundschau

"Alle diese Figuren sind grell gezeichnet und verpackt, tragen Kostüme aus Kunststoff und Latex, turnen herum in gefälliger Obszönität inmitten eines seltsamen Vergnügungsparks", schreibt Thomas Morawitzky vom Reutlinger General-Anzeiger (13.4.2019). "Nick Hartnagel inszeniert 'Maß für Maß', eine böse Komödie, mit einem deutlichen Übermaß an Klamauk." Gilbert Mieroph spiele Vincentio windig, flüssig, fabelhaft. Ihm und Florenze Schüssler verdanke der oft etwas zu alberne Sündenzirkus seine lohnenden Momente.

"Das LTT inszeniert das Spiel mit der Doppelmoral blendend und mit viel Situationskomik, während es das Psychogramm und die Mechanismen von Macht und Verführbarkeit ausleuchtet", so Peter Ertle vom Schwäbischen Tagblatt (13.4.2019). Er sieht deutliche, teils überdeutliche politische Bezüge zu "ungeduldigen Aufräumer(n) rechts wie links". Das sei aber auch schon die einzige Kritik an dieser Inszenierung Nick Hartnagels, "die ein Leander Haußmann nicht besser hätte auf die Bühne stellen können". Ertle lobt: "Ein Ensemble mit ungebremster, aber auf den Punkt kommender Schauspiellust, eine Inszenierung, die diese Punkte zu setzen weiß. Und die auch mit der zweiten Ebene, dem Video, klug umgeht."

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