Keine Absicht, nur Tourette

von Georg Kasch

Frankfurt am Main, 11. April 2019. Ja, es ist möglich, die Tourette-Tics zu unterdrücken. Benjamin Jürgens demonstriert das einmal: Seine Stimme wird dünn, klingt gepresst, seine Mimik wirkt steif, unnatürlich, als hielte er die Luft an, seine Augen treten hervor. Lange hält er die Qual nicht durch – es ist, als ob er wieder atmen dürfte.

Tourette kann aber auch ziemlich witzig sein. Als im letzten Drittel des Abends der hessische SPD-Landtagsabgeordnete Bijan Kaffenberger auftritt und seine Bedingungen dafür aufzählt, bei diesem Abend mitzumachen, nennt er als ersten Punkt: "Ich will das Honorar spenden." - "Affäre" ergänzt Christian Hempel von hinten intuitiv und schneller, als man denken kann. Ein Brüller!

Chinchilla 2 560 robert schittko uDer Sound des Tics: Benjamin Jürgens, Barbara Morgenstern und Christian Hempel © Robert Schittko

Die Nervenkrankheit Tourette zwingt Menschen dazu, Bewegungen auszuführen und Geräusche zu machen, über die sie keine Kontrolle besitzen – Tics. Aber sie befähigt sie auch zu rasantem Denken, zu erhöhter Kreativität. Zugleich fühlen sie sich oft von Reizen überfordert, werden von selbstverständlichsten Dingen getriggert – Unordnung, Lautstärke, Überangebot. Einmal erzählt Jürgens von der Qual, ins Theater zu gehen: Wie er schon für die Anreise ewig brauchte, weil ihm die Bahnen zu voll waren, wie ihn das Foyer-Gewimmel überforderte. Wie ihm, trotz aller Konzentration und Anspannung, in der Aufführung dann doch irgendwann "So ein Blödsinn!" rausrutschte, der Schauspieler aus der Rolle fiel, sich im Text verhedderte. In der Pause ist Jürgens gegangen.

Jetzt steht er zusammen mit Hempel, Kaffenberger und Barbara Morgenstern auf der Bühne des Bockenheimer Depots. Gemeinsam mit Helgard Haug von Rimini-Protokoll haben sie den Abend "Chinchilla Arschloch, waswas. Nachrichten aus dem Zwischenhirn" entwickelt, eine Koproduktion von Schauspiel Frankfurt und Künstlerhaus Mousonturm. Über Tourette. Aber auch über das Theater, seine Limitierungen und Möglichkeiten. Wer schaut hier wen an? Wer ist warum die Attraktion? Lässt sich die Zuschauer-Perspektive umdrehen?

Improvisationsinseln im Rimini-Kosmos

Einerseits ist das ein typischer Rimini-Protokoll-Abend: Er ist klar gebaut mit Regeln, Abläufen, Spielen, er vertraut sehr auf seine Protagonisten und ihre autobiografischen Erzählungen von fiesen Nachbarschaftsstreits (weil diese sich beleidigt fühlen, drohen sie mit dem Jugendamt), Strategien (Hempel schickt meist ein "Keine Absicht, ist nur Tourette" vorweg) und Beobachtungen (Kaffenberger nennt den verrohenden Debattenton im Landtag durch die AfD "Parlaments-Tourette").

Andererseits arbeitet er viel stärker als etwa die Rimini-Arbeit Qualitätskontrolle von 2013 mit Improvisationsinseln und der Verabredung, dass alles auch ganz anders kommen könnte. Entsprechend scheinen die drei Männer und die Musikerin, die jedem einen Song auf den Leib geschrieben hat, den Abend immer stärker zu beherrschen. Sie tragen die Bedingungen vor, unter denen sie beim Projekt mitgewirkt haben. Sie erzählen von den Vorstellungen, die sie vom Theater allgemein und vom Abend im Besonderen haben. Sie bekommen Wünsche erfüllt.

Chinchilla 3 560 robert schittko uBijan Kaffenberger hält eine Rede © Robert Schittko

Und sie demonstrieren, welch künstlerische Energie sie entwickeln können, wenn sie Tourette nicht unterdrücken: Einmal singt Jürgens mit sehnsüchtig-markanter Stimme vom Laufen, Morgenstern treibt ihn am Flügel voran. Toller Deutschpop, der weit schwingt, berührt. Vor allem aber übernehmen sie zunehmend die Kontrolle über den Abend. Spätestens, als Kaffenberger dazukommt und seine Antrittsrede im Landtag nachspielt, scheinen sich die Tics der drei zu intensivieren. Je mehr die Protagonisten den Ton angeben, desto stärker droht er zu zerbröseln. Und das ist erstaunlich spannend.

Herausforderung an Theaterkonventionen

Darin ähnelt der Abend "Not I" von Jess Thom alias Touretteshero aus Großbritannien, die Becketts Text in gebotener rasender Geschwindigkeit performt, aber inklusive aller Tics. Drumherum sitzt, hockt, liegt das Publikum – eine relaxed performance. Wem die Eindrücke zu viel werden, kann sich jederzeit in einen Extraraum zurückziehen und ebenso unproblematisch zurückkehren.

Auch auf der Depot-Bühne gibt es so einen Raum für die Performer, und auf der Publikumstribüne stehen neben der üblichen Bestuhlung Sofas, Sessel, Liegeplattformen für alle, die es auf den starren Sitzen nicht aushalten. Zugleich merkt man von Anbeginn, welche Herausforderung Tourette an unsere Theaterkonvention ist: Der Abend hat noch nicht einmal richtig begonnen, da räuspert, ploppt, maunzt Jürgens seine nonverbalen Tics schon irritierend über die Lautsprecher. Wir sind als Theatergeher auf Dunkelheit, Stillsitzen, Ruhe konditioniert. Ist diese Konvention es wert, Menschen auszuschließen?

 

Chinchilla Arschloch, waswas.
Nachrichten aus dem Zwischenhirn
von Rimini Protokoll (Helgard Haug)
Konzept, Text und Regie: Helgard Haug, Komposition, Musik: Barbara Morgenstern, Bühne: Mascha Mazur, Video: Marc Jungreithmeier, Dramaturgie: Cornelius Puschke, Dramaturgie Künstlerhaus Mousonturm: Anna Wagner, Recherche & Künstlerische Mitarbeit: Meret Kiderlen.
Mit: Christian Hempel, Benjamin Jürgens, Bijan Kaffenberger, Barbara Morgenstern.
Premiere am 11. April 2019
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schauspielfrankfurt.de
www.mousonturm.de
www.rimini-protokoll.de

 

 

Kritikenrundschau

Im kontrollierten Rahmen des Theaterabends gebe es durch die Laute und Tics der Performer immer wieder Interventionen, aufgrund ihrer Spontaneitär entstehe auch Situationskomik, sagt Natascha Pflaumbaum bei Deutschlandfunk Kultur (11.4.2019). "Dadurch, dass theatrale Mittel mit biografischen Informationen auf eine sehr liebevolle und kluge Art und Weise verwoben sind, hat man nie den Eindruck, man ist nur der Zuschauer. Man ist immer dazwischen, immer in der Zone zwischen Realität und Fiktion", so ihr Fazit.

Mit bemerkenswert heiterer Gelassenheit erzählten die drei "Tourettes" von ihrem täglichen Kampf mit sich selber und einem System, in dem sie als störend empfunden werden, schreibt Bernd Noack auf Spiegel Online (12.4.2019). Die Gefahr des Voyeurismus sei groß bei dieser theatralischen Aktion, doch Haug und ihre drei Performer drehten den Spieß einfach um: "Sie jonglieren mit unseren Vorurteilen und den Zweifeln daran, was da echt und welcher Tic nur gespielt ist", so Noack, "die Provokationen schlagen munter Purzelbäume, bis sie sich als herbe Kritik an der saturierten Anständigkeit entpuppen". So werde "im Theater aus dem Theater, das nach seinen eigenen Regeln funktioniert, ein Spiel über Aufrichtigkeit und falsches Mitleid, über Mut und die Kraft, von den eigenen Unzulänglichkeiten zu sprechen".

Auf Deutschlandfunk (12.4.2019) setzt sich Shirin Sojitrawalla mit dem Vorwurf "Freak Show", wenn "Menschen mit Behinderung auf Theaterbühnen stehen", auseinander. Der "Vorwurf, sie würden ausgestellt und vorgeführt" sei dann, "nie weit". – "Der Altenpfleger Benjamin Jürgens etwa, der zu Anfang" von "Chinchilla Arschloch" im "Scheinwerferkegel im Publikum sitzt, zuckt immer wieder mit dem Kopf, stößt Miaulaute und Räusperer hervor – im Alltag verstörend, im Theater ein Hingucker." In 28 Szenen stelle der "ebenso vielschichtige wie kurzweilige" Abend die Männer mit Tourette vor – und konfrontiere "gleichzeitig die Zuschauerinnen und Zuschauer mit sich selbst, indem er das Zuschauen zum Thema macht: Ist das Tourette oder Absicht? Ist das noch Zuschauen oder schon Gaffen? Tic oder Timing? Krankheit oder Kunst?" Entlang dieser Fragen entwickele der Abend seine "überwiegend komischen Szenen". Hier "lachen nicht die einen über die anderen, sondern alle miteinander". Trotzdem blieben Fragen nach "Ursachen, Folgen und Alltäglichkeiten" offen.

Sabine Mahr sagte auf Südwestrundfunk (online 12.4.2019, 15:16 Uhr) nicht immer verfange die Idee Stücks, die Krankheit als Ausdruck eines Gesellschaftsphänomens zu verallgemeinern", trotzdem gelinge es der Produktion "in 90 Minuten einen anderen Blick zu generieren, einen auf Augenhöhe". 

"Jeder Abend dürfte ein Unikat sein, je nachdem, was Tourette daraus macht", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (13.4.2019). "Die Losung des Abends wird früh ausgegeben: 'Dort draußen bin ich eine Störung, hier drinnen bin ich eine Attraktion.' Dass man sich gegenseitig zuschauen könnte und vielleicht mal was fragen: eine aufregende Option."

"Chinchilla Arschloch, waswas" sei "insofern ein ganz spezieller Abend, als es nicht nur um das Tourette-Syndrom, sondern auch um all die Verabredungen und Kontrollmechanismen geht, die Theater erst ermöglichen", schreibt Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (24.4.2019). Es gehe an diesem Abend "um Kontrollverlust und Selbstbestimmung mit Experten des Alltags, denen es am besten geht, wenn sie gelassen und selbstverständlich mit ihren Tics umgehen".

 

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