Über Angst und Kommunikation im Verhältnis zwischen Intendanten und Schauspielern
Zeige deine Angst
von Axel Sichrovsky
22. April 2019. Ein Ensemble ergreift das Wort. Nicht nur auf der Bühne, sondern auch abseits. Es artikuliert seine Vorstellungen von guter Theaterleitung, von dem, wofür man in der Kunst einstehen möchte. Es formuliert sich intern und in öffentlichen Stellungnahmen. Dieser Vorgang war bis vor nicht allzu langer Zeit selten. Jetzt häufen sich die Fälle, so scheint mir. Zuletzt und mit großer Strahlkraft in Schwerin.
Von einem "Klima der Angst" lese ich in den Äußerungen des Schweriner Orchestervorstands und Schauspielensembles. Angst, abgestraft zu werden, wenn man den Mund aufmacht. Angst, die in einem langen Konflikt gewachsen ist. Die Anfänge dieses Konflikts, man erinnert sich, lagen in einem Maulkorb-Erlass der Intendanz im Januar 2018, die den Spieler*innen des Hauses untersagte, auf dem Theaterball Sponsoren und die Politik öffentlich zu kritisieren.
Wer übernimmt die Verantwortung?
Angst ist, vielleicht gefolgt von Wut und Ohnmacht, das Gefühl, von dem man am Öftesten hört, wenn es um Kämpfe am Theater geht. Angst um die eigene Position, die Existenz im weitesten Sinne. Intendanten äußern sich selten über ihre eigene Angst, viel seltener als beispielsweise Schauspieler. Das muss aber nicht heißen, dass sie seltener davon erfasst werden.
Ich war zuletzt 2016/17 als Gast in Schwerin engagiert und verfolge den Konflikt am Haus seither eher von außen, auch wenn ich viele Beteiligte schon sehr lange kenne. Bei besagtem Maulkorberlass via Aushang am Schwarzen Brett musste ich unwillkürlich an Szenen in Mittelalterfilmen denken: Ein paar bewaffnete Männer kommen in ein Dorf geritten und nageln dort ein Stück Pergament an einen Baum, auf dem die neuen Gesetze mit Androhung diverser Strafen verlautbart werden. Im Davonreiten hören sie gerade noch den aufwallenden Protest der Dorfbewohner, gegen einen fernen König, den sie nie persönlich zu Gesicht bekommen werden.
Eine krasse Übertreibung? Vielleicht nicht ganz so krass, wenn man sich die Alternativen vor Augen führt. Die Sorgen des Intendanten Lars Tietje vor dem Theaterball waren ja eventuell nicht ganz unbegründet. Sie betreffen durchaus schwierige Fragen: Öffentliche Äußerungen bei einer Festveranstaltung werden zwangsläufig von vielen als Haltung des Hauses wahrgenommen. Stimmt der Intendant diesen zu? Oder hat er sein Haus nicht mehr im Griff? Bedarf es nicht einer besonderen Legitimation, um für das ganze Haus zu sprechen? Wodurch ist zum Beispiel gerechtfertigt, dass ein Schauspieler seine Meinung im Rahmen des Theaterballes öffentlich äußern kann, eine Requisiteurin oder ein Maskenbildner aber nicht? Sollte sich ein Sponsor auf Grund der Äußerungen zurückziehen, wer übernimmt dafür die Verantwortung?
Was liegt nun aber näher als über eben diese Fragen mit dem Ensemble ins Gespräch zu kommen, eine Einladung auszusprechen, um sich offen und auf Augenhöhe darüber auseinanderzusetzen? Nicht nur um Schaden vom Haus oder der eigenen Person abzuwenden, sondern weil es um einen der wichtigsten Aspekte eines Kulturbetriebes geht, seine Haltung zu gesellschaftlich relevanten Themen. Ein Ensemble, das nicht nur einen künstlerischen, sondern auch einen starken politischen Ausdruckswillen hat, ist vor allem erst einmal ein Gewinn und ein Geschenk für ein Theater. Über die Art und Weise der Entäußerung muss man sich dann innerhalb des Hauses auseinandersetzen. Am Besten in regelmäßigen Abständen. Das ist zeitaufwendiger als ein Aushang am Schwarzen Brett, schafft aber wesentlich mehr Vertrauen und Verständnis.
Es hätte alles so einfach sein können
Als Ensemble-Sprecher habe ich vor einigen Jahren in Potsdam selbst einen Brief der Schauspieler an die Leitung mitinitiiert. Einen hausinternen Brief wohlgemerkt. An einem Punkt, an dem das Äußern von Wünschen und Kritik im direkten Gespräch in den Augen vieler Kollegen nicht mal mehr im Ansatz möglich war, erschien mir die schriftliche Form als eine Chance, Gedanken, Anliegen und Positionen kühl und sachlich an die Leitung zu kommunizieren und den Einzelnen durch die Anonymität in der Gruppe zu schützen. Ziel war es, vom Klagen und Jammern hinter verschlossenen Garderobentüren, das nur Frust und Ohnmachtsgefühle hinterließ, wieder in einen Austausch einzutreten.
Der erste Entwurf unseres Briefes, der damals durch das Sammeln und Zusammenfassen von Wünschen und Kritik des Ensembles per Mail entstanden war, wurde von uns bestimmt fünf oder sechs Mal überarbeitet. Zusammen mit zwei Kolleg*innen, die unseren Intendanten schon seit mehr als zehn Jahren kannten, habe ich jeden einzelnen Satz daraufhin überprüft, ob unsere Kritik auch konstruktiv und der Ton nicht unnötig provokativ ist. Wir wollten sichergehen, dass unser Schreiben als Dialogangebot und nicht als Angriff verstanden wird.
Mit dieser Zielsetzung sind wir, man kann es nicht anders sagen, kurzfristig komplett gescheitert. Neben dem Inhalt wurden die Form und der Vorgang an sich fast ausschließlich als Angriff, als Affront, als gezielte Provokation wahrgenommen. Nicht von allen im Leitungsteam – einige Dramaturgen haben sehr positiv reagiert. Bei unserem Intendanten aber hat das Schreiben hauptsächlich Wut und Angst ausgelöst. Diese Gefühle wurden dann zu einem guten Teil an einzelne Ensemblemitglieder weitergegeben, was zu diversen Kehrtwenden, Halswendungen und anderen gruppendynamischen Erscheinungen geführt hat, die ich niemals vergessen werde. Unser Chef fühlte sich von unserem Brief offenbar genauso überrascht und überrumpelt, wie wir von seiner Reaktion darauf. Kommunikationswissenschaftler, Psychologen und Mediatoren könnten daraus sicher einiges über das Verhältnis der beiden Parteien ableiten.
Ich möchte immer noch daran glauben, dass auch hier alles viel einfacher hätte laufen können: durch ein offenes Gespräch zwischen dem Leitungsteam und dem Ensemble.
In einer offenen Gesprächsatmosphäre braucht's keine Briefe
Zu diesem Gespräch ist es nie gekommen. Was mich bis heute irritiert ist, das unser Intendant sich bei seiner Entscheidung, lieber "Einzelgespräche" zu führen, immer wieder auf einen Rat aus dem Bühnenverein berief. Ziel war offenbar, das Ensemble als Gruppe zu spalten, Einzelne zu isolieren und Druck auszuüben, wie das auch in Schwerin versucht wurde. Sollte diese Empfehlung wirklich so vom Bühnenverein gekommen sein, so erscheint sie mir heute als der schlechteste Rat, den man unserem Intendanten damals geben konnte. Seine Folgen wurden auf diesem Portal relativ ausgiebig beleuchtet und müssen hier nicht noch einmal nachvollzogen werden.
Die Reaktionen anderer Intendanten auf das Bekanntwerden der Ereignisse in Potsdam fielen übrigens sehr unterschiedlich aus. Während manche spürbar auf Distanz gingen, weil sie mich offenbar als Troublemaker identifizierten, lud mich Florian Scholz, der Intendant des Stadttheater Klagenfurt, unter anderem zum Vorsprechen ein, "weil Sie sich so für Ihr Ensemble eingesetzt hatten". Einer von ihnen formulierte seine Sorgen im Vieraugengespräch schließlich sehr deutlich: Ein Ensemblebrief könne nur das letzte Mittel sein; man müsse unbedingt zuerst versuchen zu reden. Dem stimme ich vollkommen zu.
Ein Ensemblebrief stößt in ein kommunikatives Vakuum am Haus. Unter den etwa fünfzehn Stadt- und Staatstheatern, an denen ich bisher beschäftigt war, gab es einige wenige, an denen in hoher Regelmäßigkeit ausführliche Gespräche zwischen Ensemble und Leitung stattfanden. Vergangene Produktionen wurden ausgewertet und Entscheidungen für die Zukunft abgesprochen. Finden diese Gespräche in einer offenen und respektvollen Atmosphäre statt, ohne Angst der Schauspieler, dass geäußerte Kritik zu persönlichen Nachteilen führt, und sei es "nur" bei der Besetzung der Rollen, dann gibt es keinen Anlass für einen Brief an die Leitung. Was sollte da auch drinstehen? Alle wichtigen Anliegen wurden ja längst ausgesprochen.
Immaterielles Kulturgut der Gegenwart
Zurück nach Schwerin. Georg Kasch hat vor Kurzem die vielfältigen Konflikte am Haus beschrieben. Es lohnt zudem noch etwas Licht auf die Besonderheiten des Schweriner Schauspielensembles zu werfen. Dort ist nämlich in den letzten Jahren etwas gewachsen, dessen Wert weder die Intendanz noch die Lokalpolitik bisher in vollem Umfang zu erkennen scheint. Neben dem hohen schauspielerischen Niveau ist bemerkenswert, dass trotz oder wegen der zahlreichen Kämpfe am Haus eine Kultur der Solidarität, der Motivation und des Engagements entstanden ist. Dies reicht von der selbstorganisierten Erschließung neuer Spielstätten in der Freizeit der Schauspieler bis zum vehementen Eintreten für mehr Vorstellungen und mehr kontroverse, gesellschaftspolitisch relevante Produktionen.
Versuche, das Ensemble durch Einschüchterungsversuche zu spalten, werden in Schwerin keine Aussicht auf Erfolg haben. Ich weiß von Kollegen, die Angebote an renommierteren Häusern ausgeschlagen haben, um an diesem besonderen Ensemble-Geist teilhaben zu können. Gäbe es in Deutschland, in Anlehnung an die Unesco, den Status eines immateriellen Kulturgutes der Gegenwart, Ensembles wie das in Schwerin müsste er zuerkannt werden.
In einer Zeit, in der die Spaltung der Gesellschaft ebenso droht wie eine Verrohung des öffentlichen Diskurses, die Vereinzelung von Individuen und eine abnehmende kulturelle Teilhabe ganzer Bevölkerungsschichten, kann es sich ein Theater nicht leisten, intern nicht zu kommunizieren. Gerade angesichts dieser Entwicklungen müssten Leitung und Ensemble natürliche Verbündete sein, gemeinsam kämpfen.
Ich erinnere mich an ein großes Plakat im Büro eines meiner früheren Vorgesetzten. "DON’T SHOW YOU’RE AFRAID" stand dort in riesigen Lettern. Ein plausibler Vorsatz, wenn es um Feinde geht. Im Umgang mit Verbündeten gibt es bessere Wege.
Axel Sichrovsky, gebürtiger Österreicher, absolvierte seine Schauspielausbildung an der Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy in Leipzig. Er spielte u.a. am Schauspiel Frankfurt, Staatstheater Kassel, Staatstheater Karlsruhe, am Deutschen Nationaltheater Weimar, dem Theater Heidelberg und Schauspielhaus Wien. Für das Kino drehte er u.a. mit Wim Wenders, Roland Emmerich, Leander Haußmann und Wolfgang Peterson. Zurzeit ist er in Marie Kreutzers Kinofilm "Der Boden unter den Füßen" zu sehen, der im Rahmen der Berlinale 2019 als Wettbewerbsbeitrag präsentiert wurde. Axel Sichrovsky ist auch als Regisseur tätig. Am Theater Dessau inszenierte er "Der Kick" von Andres Veiel, "Helden wie wir" von Thomas Brussig, "Quartett" von Heiner Müller und "Das interview" von Theo von Gogh, am Landestheater Coburg Jelineks "Wut" und "4.48 Psychose" von Sarah Kane sowie David Mamets "Oleanna" am Staatstheater Augsburg.
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Chapeau lieber Kollege für diesen Text.
Stephan Schad,
Schauspieler
Hamburg
Was oft vergessen wird ist, dass auch in Schwerin nach dem sog. Maulkorberlass erst der Weg über interne Gesprächsrunden aller Mitarbeiter und der Leitung versucht wurde.
Diese Gespräche scheiterten aber auf ganzer Linie.
Daher die Briefe. Die Aushänge. Und noch weniger Vertrauen.