Vom Leben mit und ohne Schwanz

von Christian Rakow

Berlin, 25. April 2019. Ein wenig darf man an diesem Abend schon bedauern, dass man als Kritiker die Premierenparty verpasst. Schon weil das Publikum strahlte wie selten und es eine ganze Reihe Leute locker mit dem glamourösen Style auf der Bühne aufnehmen konnte. Und weil das Produktionsteam um Regisseur Bastian Kraft (im super Mini) selbst angemessen gewagte Outfits zur Schau stellte und überhaupt alles vom Start weg bis zu den Standing Ovations vermuten ließ, dass diese knapp zweistündige Sause an den DT Kammerspielen vielleicht doch nur die Hälfte des Spaßes war.

Ähnlich erlebte ich das zuletzt vor Jahresfrist, als das queere Kulturmagazin Die Siegessäule auch schon Medienpartner war und die denkwürdige Produktion "Jeder Idiot hat eine Oma, nur ich nicht" zum 75. Geburtstag von Rosa von Praunheim über die Bretter ging – ein autobiographischer Abend, der in puncto Bissigkeit, Humor und Lässigkeit im Umgang mit der schwulen Emanzipationsgeschichte die Messlatte hochgehängt hat.

ugly duckling 560 arno declair uVorbereitung für den großen Auftritt: Judy LaDivina, Caner Sunar © Arno Declair

Bastian Kraft schaute 2014 mit seinem Schernikau-Abend Die Schönheit von Ost-Berlin ins schwule Herz der Hauptstadt. Mit "Ugly Duckling" blickt er nunmehr auf die gegenwärtige Drag-Szene in Berlin. Und er hat starke Protagonist*innen aufgetan: Jade Pearl Baker, Judy LaDivina und Gérôme Castell sind Performer*innen ersten Ranges. Jade Pearl Baker, mit der Aura einer Nicole Kidman, besticht mit Songs in bluesiger Gedämpftheit. Judy LaDivina, gebürtig aus Tel Aviv, choreographiert sich szenenapplausumrankte Playback-Performances. Und Gérôme Castell, die in den 1980ern schon auf Partys mit Madonna und Grace Jones ein queeres Catwalk-Dasein feierte, umspielt ihr Mehr an Lebensjahren mit eleganter Selbstironie.

Märchen eines großen Außenseiters

Kraft bringt die drei Drag Queens mit Helmut Mooshammer, Caner Sunar und Regine Zimmermann aus dem Ensemble des DT zusammen und schickt sie durch eine Stückentwicklung, die autobiographische Erzählstücke mit Motiven aus den Kunstmärchen "Das hässliche Entlein" (engl. The Ugly Duckling) und "Die kleine Meerjungfrau" von Hans Christian Andersen mischt. Es sind Märchen eines großen Außenseiters, die der psychoanalytischen Forschung als Zeugnisse der unterdrückten Homosexualität von Andersen gelten: die Geschichte des falschen Entleins, das vom Mehrheitsgeflügel angefeindet wird, bis es sich als Schwan erweist, und die Erzählung der tragisch liebenden Meerjungfrau, die ihre Schwanzflosse und ihre bezaubernde Stimme wegtauscht, in der Hoffnung, so ihrem Traumprinzen nahezukommen. An diesem Abend werden sie deutlich als Drag-Fantasien markiert: als Erzählungen vom Leben mit Schwanz und ohne.

ugly duckling 2 280 arno declair uVorne: Caner Sunar © Arno Declair Aber trotz der dramaturgisch sinnfälligen Anlage und trotz der versammelten performativen Qualität hebt der Abend nicht in allerhöchste Höhen ab. Erst spät vertraut Kraft auf das Revuemoment, die Musikalität und den burlesken Charme der Unternehmung. Lange richten sich die Akteure etwas statisch zu Drag Queens her, an der Garderobe, die Peter Baur ins Bühnenzentrum gebaut hat, samt Perücken, Schminkutensilien und Fotos einschlägiger Ikonen von Hildegard Knef und Maria Callas bis Boy George. Die reihum absolvierten Ich-Erzählungen übers Coming Out, über heteronormative Zwänge, über die Freiheit in der Verkleidung etc. wirken seltsam angestrengt und erklärbärlich. Da ist man von vergleichbaren Empowerment-Abenden am Gorki Theater oder eben aus Rosa von Praunheims Geburtstagsstück weitaus mehr Selbstverständlichkeit gewohnt. Kraft ist als Regisseur bisher auch weniger als Stückentwickler aufgefallen denn mit videoästhetisch formstrengen bis kühlen Aneignungen moderner Prosaklassiker.

"Das Happy End gibt’s nur bei Disney! Lies das Original!", ruft Regine Zimmermann einmal aus, als sie über die "Kleine Meerjungfrau" sprechen. Tatsächlich hat Kraft selbst ein wenig die Härten rausgenommen. Wer die dunkle Abgründigkeit der Andersen’schen Fiktionen sucht, ist hier falsch. Der Abend will die Epiphanie des Schwans feiern, den Zauber der Verwandlung, die Macht, die eigene Identität zu gestalten, das Happy End eben. Bis hin zum Gruppenbild mit rauschenden Kleidern und Prachtperücken (Kostüme: Jelena Miletić). Und wo Gefahr ist, wächst der rettende Humor. In einer der eindringlichsten Schilderungen kurz vor dem Finale erinnert sich Gérôme Castell, wie sie 2013 in Charlottenburg Opfer einer homophoben Attacke wurde, fast das Augenlicht rechts verlor, später lange mit Depressionen zu kämpfen hatte. "Wenn man so hell strahlt, dann gibt es immer Schattenwesen, die einem das Licht ausschalten wollen", sagt sie heute. Soll heißen: C'est la vie. Ein Schwan, dem nicht die Flügel gebrochen sind, kann immer zum Himmel aufsteigen.

 

Ugly Duckling
von Bastian Kraft und Ensemble nach Hans Christian Andersen
Regie: Bastian Kraft, Bühne und Video: Peter Baur, Kostüme: Jelena Miletić, Musik: Romain Frequency, Licht: Thomas Langguth, Dramaturgie: Ulrich Beck.
Mit: Jade Pearl Baker, Gérôme Castell, Judy LaDivina, Helmut Mooshammer, Caner Sunar, Regine Zimmermann.
Premiere am 25. April 2019
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Mehr dazu: bewegte Bilder der Inszenierung gibt es von 3sat, hier.


Kritikenrundschau

"So gut ist die Stimmung im Theater selten", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (27.4.2019) und würdigt die "Qualität der Show Acts" an diesem Abend. In seiner Gänze sei die Unternehmung "nett", "aber oft auch harmlos" und "mit leicht didaktischen Anflügen". Am überzeugendsten findet die Kritikerin den Umgang mit dem Motiv der verlorenen Stimme in Andersens "Die kleine Meerjungfrau" und wie in der Inszenierung "in den besten Momenten aus ganz verschiedenen Perspektiven über Sprech- und Benennungsakte, Ohnmacht und Selbstermächtigung nachgedacht" werde.

Die Begegnung der Drag Stars mit den DT-Schauspieler*innen "schlägt teils helle Funken", schreibt Georg Kasch in der Morgenpost (online 26.4.2019). "Besonders stark wird der Abend immer dann, wenn er zu Glitter, Glamour und Revue steht (…)". In den an die Märchenvorlagen angelehnten Erzählungen "von Ablehnung, Ausgrenzung, Selbstfindungsschwierigkeiten, vom langen Weg, sich selbst zu akzeptieren" hänge der Abend "auch mal durch, wirkt unfertig, didaktisch". Dennoch: "Die starken Momente überwiegen."

Einen "Idealfall eines performativen Abends" hat André Mumot für "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (25.4.2019) gesehen, "wo das Theater sich ein kleines bisschen zurückhält". Es gäbe keine typischen Theatereffekte, "auch mit den Märchen wird sparsam umgegangen". Der Kritiker nennt diese Anlage "angenehm zurückhaltend". Die Anverwandlung der Rollen von Drag Queens durch die DT-Spieler*innen sei "ein sehr, sehr schöner, amüsanter und berührender Aspekt" dieser Aufführung. Eine "tollere Drag Show" werde man "in naher Zukunft in Berlin nicht zu sehen kriegen", weil der "Mehrwert der Reflexion hinzukommt über das Leben dieser Menschen, dieser Künstler und Künstlerinnen".

Die Verbindung von Drag und Lebensrettung werde "nie dringlich an diesem semi-dokumentarischen Maskenreport zwischen Märchen und Show", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (29.4.2019). "Am ehesten funktioniert es noch, wenn die DT-Schauspieler Helmut Mooshammer, Regine Zimmermann und Caner Sunar ihre eher dilettantischen Drag-Fantasien zum Besten geben".

 

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