Vor Männerbünden gibt's kein Entkommen

von Dorothea Marcus

Koblenz, 28. April 2019. Da steht er, der neue Kanzler Angelo, frisch aus dem Männerbund gekürt vom Präsidenten Vicentio, und macht im blauen Business-Anzug ein paar Dehnübungen. Zuvor hatte sein Darsteller Frank Röder, der dem smarten österreichischen Sebastian Kurz vom Typ her ziemlich ähnlich ist, uns lässig improvisierend dazu aufgefordert, genau hinzusehen. Nicht allzu neidisch auf das Bier zu sein, das auf der Bühne beständig burschentreu geöffnet wird, und uns dennoch eins zu fühlen mit dem Bühnengeschehen.

Doch das ist gar nicht schwer nach Angelos Antrittsrede, die dem Volk vermeintlich die Macht zurückgibt – und es in die Hölle der direkten Demokratie versetzt.  "Wir sind das Volk", lässt er Archivaufnahmen vom Mauerfall 1989 abspielen. Schon bestürzend, wie sie ihre Unschuld verloren haben, seit in des 'Volkes' alltäglichen Sprachgebrauch Kampfbegriffe wie "Asyltourismus", "Überfremdung" oder "Multi-Kulti-Gutmenschenregimes" geschwappt sind, seit 'Volkes' Wille sich im Internet als Hetzjagd und Hassexzess auskotzt. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie das Referendum am Ende ausfällt, das der vom fanatischen Angelo geplanten "Reformierung des Rechtsstaats" dienen soll. In der Kneipe wird die neue Regierungshaltung jedenfalls schonmal mit übelsten Rassismen gestützt.

Shakespeare deftig

Eine deftige Überschreibung und Aktualisierung von Shakespeares "Problemstück" "Maß für Maß" hat sich der österreichische Dramatiker Stefan Wipplinger da vorgenommen. Statt Shakespeares Puritaner nimmt er einen Rechtsextremen, der in Wien sogleich die "Durchmischung der Rassen" verbietet. Statt den jungen schwarzen Claudio wegen "Unzucht" mit seiner Verlobten zu verhaften, wird er nun aus "Rassenschande" festgesetzt, als "Vergewaltiger" und "Schlepper" bezeichnet und in seiner Gefängniszelle bald brutal niedergeknüppelt – seine Verlobte Julia wird lieber gar nicht erst angehört. Nicht hingerichtet, sondern "abgeschoben" soll er danach werden. Den people of colour Claudio und seiner Schwester Isabella sind bei Wipplinger von nun an der Sex mit Weißen untersagt. Was Neukanzler Angelo allerdings nicht davon abhält, Isabella heftig sexuell zu bedrängen, als sie bei ihm für ihren Bruder um Gnade bittet.

TheaterKoblenz MassfuerMass4 560 JonaMues ReinhardRiecke StephenAppleton MarcelHOffmann IanMcMillan FrankRöder GeorgMarin KsClaudiaFelkeShakespeare im Mix mit Neurechts- und Naziterminologie © Matthias Baus

Unerschrocken – aber auch mit der ideologischen Brechstange – vermischt Wipplingers Überschreibung des Shakespeare-Stoffs Neurechts- und Naziterminologie, bis man sie kaum noch voneinander trennen kann. Ist das zielführend? Man muss schon ziemlich oft zusammenzucken, wenn auf der Bühne unverhohlen jene üblen Stammtisch-Parolen reproduziert werden, die sich immer mehr in den allgemeingesellschaftlichen Sprachgebrauch drängen.

Machtsache alter weißer Männer

Macht man sich, wenn man Worte wie "Wirtschaftsflüchtling", "knusprige Muslima" oder "rammelnde Karnickel" auf die Bühne lässt, nicht mitschuldig an der schleichenden Umwertung, dem Rechtsruck der Sprache – und der Gesellschaft? Im Programmheft reflektieren Autor Stefan Wipplinger und Regisseur Markus Dietze genau diese heiklen Fragen: Reproduziert die extreme Setzung Rassismus? Oder hilft sie lediglich dabei, ihn zu reflektieren?

Subtiler und komplexer wird es, als die #MeToo-Debatte hineinspielt. Denn die Koblenzer "Uraufführung" der Shakespeare-Überschreibung macht den gesellschaftlichen Rechtsruck zur Machtsache der alten weißen hierarchiegeilen Männer. Vor einer grauen, unüberwindbaren Wellblech-Wand drehen sich die Männerbündler auf einer mit Holztreppchen besetzten Drehbühne wie willfährige Soldaten, während sich der greise "Präsident" Vicentio, der den Kanzler Angelo erst ermächtigt hat, als noch rechtsextremer als dieser entpuppt ("Rassentrennung! Das ist so Fünfziger! Manchmal ertapp' ich mich bei dem Gedanken, wo das gute alte Präzisionsschussattentat geblieben ist.").

Vergiftete Frauenmacht

Nur durch die kluge und couragierte Isabella (Charlotte Irene Thompson) werden sie kräftig aufgemischt: In gelbem Edelmantel und blauem Nerzkragen, die Hände in den Manteltaschen wie ein Model, erscheint sie als eine Art überperfekte Amal Clooney, mehr mit der juristischen Gerechtigkeitsfrage beschäftigt als mit emotionaler Rettung ihres Bruders: eine vielleicht manchmal zu unterkühlte Gegeninterpretation zu landläufigen Frauenbildern auf der Bühne. Großartig ist, wie sie über die enge Verzahnung von Erotik und Machtmissbrauch reflektiert. Wie kann es sein, dass jene vergiftete Frauenmacht, die Erotik, sie allein in die Lage versetzt, ihren Bruder retten zu können? "Wer hat mir aufgetragen, meinen Körper wie ein Heiligtum zu schützen, und zugleich als Waffe einzusetzen?"

TheaterKoblenz MassfuerMass2 560 DavidProsenc JonaMues IanMcMillan ChristofMariaKaiser ReinhardRiecke CharlotteIreneThompsonFrauenkörper als Waffen und Heiligtümer © Matthias Baus

Als sie trotz Skrupel in Angelos Machtstube vordringt, um ihren Körper als Videofalle einzusetzen, drehen sich die beiden an weit entfernten Punkten der Drehbühne zunächst umeinander wie gleichwertige Sparring-Partner. In drei Varianten wird die Begegnung gespielt, in einer wird Isabella vergewaltigt: Der machtbesoffen selbstherrliche Angelo vergreift sich an der Luft, während sie auf einmal zitternd still an der Wand steht. Alle Eloquenz nützt nichts, wenn der Mann körperlich überlegen ist.

Ohnehin gibt es vor den Männerbünden kein Entkommen: Angelo, durch Videobeweis überführt, tritt am Ende einfach nur zurück, "um sich dem Privatleben" zu widmen, Vincentio ruft Neuwahlen aus, und geändert hat sich eigentlich nichts. Auch, wenn der Abend in Koblenz polemisch vieles undifferenziert vermischt und psychologisch oft nicht stimmig wirkt, so ist er doch hervorragend gespielt – und von der Wirklichkeit an vielen Stellen überholt.

 

Maß für Maß
Schauspiel von Stefan Wipplinger nach William Shakespeare
Uraufführung
Regie: Markus Dietze, Bühne: Bodo Demelius, Kostüme: Su Sigmund, Musik: Thomas Wolter.
Mit: Gerog Marin, Ian McMillan, Frank Röder, Jona Mues, Stephen Appleton, Charlotte Irene Thompson, Marcel Hoffmann, Ks. Claudia Felke, David Prosenc, Reinhard, Riecke, Magdalena Pircher, Christof Maria Kaiser.
Premiere am 28. April 2019
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.theater-koblenz.de

 

Kritikenrundschau

In der Rhein-Zeitung (online 29.4.2019, 16:54 Uhr) schreibt Andreas PechtI: Markus Dietze habe Wipplingers Stück als "fast spartanisches Sprechtheater" inszeniert. "Kleine Gesten und Haltungen, Positionierung der Personen im Raum, besonders aber die sprachlich fein differenzierende Ausformung des Textes" prägten das Spiel und machten es "intensiv". So werde auch das "politische Anklagen und Warnen des Textes" abgefedert, das "wir inzwischen als plakativ" empfänden, obwohl es "real ursächlich" der Populismus sei, der "den Gesellschaftsdiskurs in erbärmlicher Plakativität" ertränke. Shakespeares und Wipplingers "Maß für Maß" seien zwei verschiedene Stücke. Doch sei inhaltlich alles, was Autor, Regisseur und "das ausgezeichnet eingestellte Ensemble" ausführten, "im Grunde vor viereinhalb Jahrhunderten bereits angelegt".

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