Laudatio anlässlich der Vergabe des 3sat-Preises im Rahmen des Berliner Theatertreffens 2019 an Regisseur Ersan Mondtag
Sinnbilder des Menschseins
von Shirin Sojitrawalla
Berlin, 4. Mai 2019. Liebe Damen und Herren, lieber Ersan Mondtag, es ist das Unheimliche, das die Bühnenwerke von Ersan Mondtag verzahnt. Doch was ist das Unheimliche? Das Wort 'unheimlich' wendet das Wort 'heimlich' in sein Gegenteil. Heimlich nicht nur im Sinne von verborgen, sondern im Sinne von heimelig. Heimelig wie womöglich das eigene Zuhause, das Vertraute, das nicht Fremde. Mondtag verkehrt aber nicht nur das Heimliche in sein Gegenteil, sondern offenbart auch das Gespenstische im vermeintlich Heimeligen. So umgibt die Behausungen, die er auf die Bühne stellt, immer ein märchenhaftes Grauen.
Die Schauwerte sind immens
Unheimlich geht es bei ihm aber auch deswegen zu, weil man nicht alles genau sehen kann, es ziemlich düster bleibt. Musterbeispielhaft auch in Das Internat. Dort ertönen zudem dunkle Geräusche und Vogelgekrächze. Gruselig wirkt das, wie ja auch der Horror in Filmen sich vornehmlich dem Sound verdankt. Es verwundert also nicht, dass Mondtag viel Wert auf den Sound legt.
Es ist aber nicht nur oft ziemlich dunkel bei Ersan Mondtag, sondern mitunter auch unheimlich still. In Tyrannis sprechen die Figuren kein Wort, in "Das Internat" beschränkt sich der Text auf rund ein dutzend dünne Seiten. Jean-Luc Godard hat einmal gesagt: "Im großen Kampf zwischen den Augen und der Sprache hat der Blick die größere analytische Kraft". Erleben kann oder vielmehr konnte man das in Mondtags "Internat". Obwohl vieles unausgesprochen, vage, angedeutet bleibt, durchlebt man die dargestellte Düsternis, Brutalität und Gewalt unmittelbar.
Die Wirkmächtigkeit des "Internats" ergibt sich aus einem Bühnenbild, das die Zuschauer und Zuschauerinnen wohltuend fordert, wie es auch die Gewerke in Dortmund gefordert haben mag. Kein Wunder, dass sich so einer wie Ersan Mondtag schon mal als Maximalist bezeichnet. Wiewohl auch seine anderen Arbeiten in ihrer Bildmächtigkeit, ihrem Formbewusstsein, ihrem Sinn für Schönheit berauschen, erweist sich "Das Internat" als Höhepunkt. Die Schauwerte sind einfach immens, das Grauen entlädt sich in toxischen Farben und Räumen. Die vorgeführten Menschen sind Täter und Opfer zugleich, Rebellen und Regimetreue. Ihre Besonderheit schreibt Mondtag wie so oft in ihre Bewegungen ein, diesmal laufen sie rückwärts. Keine Menschen wie Sie und ich, sondern Sinnbilder des Menschseins.
Dunkel lockende Wälder
Die Arbeiten von Ersan Mondtag befragen immer auch das Theater selbst, seinen Zustand und seine möglichen Zustände. Und sie folgen einem mitunter bis in den Schlaf: sonderbare Köpfe und Körper im Raum, Kate Strong, die in Der alte Affe Angst wie eine Elfen-Königin mit einem Batzen Fleisch im Schoß auf der Bühne thront, der seine Neugeburt nackt und jauchzend zelebrierende Jonas Grundner Culemann in Die Vernichtung, der überlebensgroße Benny Claessens als Salome in Meerjungenfrauenpose, sich wie wild um sich drehende Geisterhäuser, dunkel lockende Wälder, Fratzen, explodierende Farben, Rausch. Das Rauschhafte gehört ganz wesentlich zu Mondtags Theater.
Politisch sind seine Arbeiten obendrein. Nicht nur, weil darin Einzelne und Kollektive aufeinanderprallen oder sich Mondtag dezidiert etwa mit dem NSU oder den Zuständen in Bayern auseinandersetzt, sondern weil er gesellschaftliche Fragen in den Mittelpunkt rückt, egal ob er einen Text von Friedrich Schiller oder einen von Sibylle Berg in Szenen setzt.
Theater ist Erfahrung
Für seine Kölner Räuber hat ihm Carolin Emcke einen Monolog geschrieben, den die Schauspielerin Thelma Buabeng spricht. An einer Stelle sagt sie: "Manchmal wäre es mir lieber, Gewalt käme unverkleidet daher, nackt, schonungslos, ohne all diese Manipulationen, ohne diese Geschichten, mit denen sie als notwendig, als richtig, als humanitär, als abschreckend, als gerechte Strafe ausgegeben wird." Das Verwirrende und Irritierende an den Theaterabenden von Ersan Mondtag ist, dass sie genau das machen. Gewalt darstellen, ohne dass wir uns in einer sicheren Geschichte oder auf der richtigen Seite geborgen fühlen dürfen. Ursache und Wirkung traben hier nicht einträchtig hintereinander her.
Das nicht Ausdeutbare prägt vielmehr Mondtags Werk. Heiner Goebbels hat einmal dargelegt: "Theater ist Erfahrung, keine Mitteilungsform." Das beinhaltet, dass man nicht alles verstehen muss, um zu begreifen. Wer bereit ist, das immer wieder zu erfahren, ist bei Ersan Mondtag an der genau richtigen Adresse. Wir, Wolfgang Horn, Daniel Richter und ich, sind dazu sehr gern bereit und gratulieren herzlich zum 3sat-Preis!
Shirin Sojitrawalla, Jahrgang 1968, lebt als freiberufliche Journalistin und Theaterkritikerin in Wiesbaden. Sie arbeitet unter anderen für nachtkritik.de, DIE ZEIT, die taz, den Deutschlandfunk, Theater der Zeit, dpa und Lesart. Seit 2016 ist sie Mitglied der Jury des Berliner Theatertreffens. In der Jury des 3sat-Preises war sie gemeinsam mit Daniel Richter (Leitender Dramaturg des Berliner Theatrtreffens) und Wolfgang Horn (ZDF-Redaktion Musik und Theater).
Foto © Dirk Ostermeier
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