Obertöne der Flageolette

von Ulrich Wolff

Berlin, 6. Mai 2019. Das war wie eine Entführung in eine Kinderwelt. Zu Weihnachten gibt's den Baukasten, der dann ausprobiert und natürlich auch zweckentfremdet wird. Die Nebelwolken aus Thom Luz' "Fog Machine Factory" schaffen die Atmosphäre, die Phantasie in sich selbst anzuregen. Im Bühnenhintergrund stehen denn auch wie zufällig Verpackungskisten mit der Aufschrift "Look solutions".

Nebelmaschinenorchester dirigieren

Worum geht's? Die Nebelfabrik ist überflüssig geworden. Der Inhaber muss sein Geschäftsmodell überdenken. Das passt in unsere Zeit. Die Nebelfabrik, in der ursprünglich etwas Materielles produziert wurde, ist jetzt eine Fantasiefabrik. In der Bibliothek stehen Bücher wie: "Die Geschichte der Unschärfe", über "Lethe den Fluss des Vergessens", Arnold Schönbergs "Wolken-Kriegs-Tagebuch". Es passt auch in die Schweiz: Geld ist eigentlich genug da, aber man braucht auch Ideen. Und man sucht nervös danach: Beim Fabrikdirektor (Samuel Streiff) geht ein Anruf ein, der Effekt der Maschinen sei nicht spektakulär genug, etwas Neues müsse her. Der Direktor steht unter enormem Druck. Jede Faser strahlt bei ihm höchst komisch aus, dass er selbst nicht an den Erfolg glaubt. Selbst wenn er nur etwas ankündigen will, fällt er gleich slapstickmäßig krachend in seine Kanisterstapel.

ThegirlFogMachine2 560 SandraThen uDas Nebelmaschinenorchester, das Rauchsäule statt Töne produziert @ Sandra Then

Das Mädchen aus dem Titel (Fhunyue Gao), das die Fabrik eigentlich nur besichtigen möchte, wurde inzwischen durch eine Nebelmaschine von einer Kundin zur Mitarbeiterin verwandelt und versucht durch Sonderangebote das Geschäft zu beleben, balanciert verzweifelt und trotzdem grazil mit den Prozentwürfeln. Beim Dirigenten mit dem Nebelmaschinenorchester, das Rauchsäulen statt Töne erzeugt, habe ich mich gefragt, ob das ein zum Scheitern verdammter Versuch ist etwas zu beeinflussen, das man nicht beeinflussen kann. Oder denkt er, er ist Gott, und hat selbst etwas Unberechenbares wie den Nebel im Griff?

Zum Schluss gibt es erst ein angetäuschtes Happy End, aber dann kommt mit Verzögerung doch der große Knall, und die Fabrik füllt sich mit Nebel, der auf einmal der Rauch ist von dem Großbrand mit fünf Toten, von dem das Radio kurz vorher berichtet hat. Das passt dazu, dass der Nebel aus den Maschinen schon die ganze Zeit verbrannt riecht, wie aus einer E-Zigarette. Dabei stellt man sich Nebel doch eigentlich geruchlos oder eher frisch duftend vor ...

Im Kreislauf des Wassers

Der Nebel macht alles weich und still, er dämpft Sehen und Hören. Er steht auch für das Vergessen, das zeitliche Heilen vergangener Wunden. So endet auch die zarte Liebesgeschichte zwischen dem Mädchen, das die Fabrik besucht, und einem Mitarbeiter (Sigurdur Arent Jónsson), indem eine aggressive Nebelwolke sie von ihm wegkatapultiert. Abstoßung durch Nebelschuss, und danach empfiehlt Ovids "Liebeskunst" das Vergessen, das im Nebel schon drinsteckte. Das war einer dieser Aha-Momente, dieser kleinen Schocks und Stimmungswechsel, die es immer wieder gab.

Sprache spielt kaum eine Rolle. Es geht um die Grenzbereiche neben und hinter der Sprache. Unverständlich gebrabbelt wird trotzdem viel, wie in einem Comic, in dem die Figuren Sprechwolken mit Zeichen produzieren. Oder wie in einem Trickfilm, in dem Kauderwelsch gesprochen wird und man den Inhalt der Unterhaltung nur vom Ton erahnt.

ThegirlFogMachine3 560 SandraThen uNebelkunstwolken, die sich sanft flirrend nach den Obertönen strecken? © Sandra Then

Besonders gelungen fand ich die Auswahl der Musik und wie diese dargeboten wurde. Was im Konzertsaal an starre Grenzen stößt, ist hier erlaubt: Stücke von Schubert, Poulenc improvisatorisch weiter zu spinnen, Rhythmen zu verfremden. Frappierend dabei die stilistische und technische Souveränität vom auch Geige spielenden Celestaspieler (dem musikalischen Leiter der Produktion Mathias Weibel), der Cellistin (Mara Miribung) und allen zusammen als Sänger in den französischen Renaissance-Chansons und italienischen Madrigalen. Es steckten auch interessante Klangeffekte drin: Witzig das Streichen von Geige und Cello ohne Bogen an den Ventilatoren, der Gesang in die Röhren oder der Gesang durch die Ventilatoren, die den Schall verwirbeln. Schön auch, wenn sich die Obertöne der Flageolette sanft flirrend mit dem Nebel verbinden.

Bach auf der Leiter

Wie selbstverständlich spielt Mara Miribung stehend virtuose Passagen, während sie vor sich hin brabbelt, und fühlt sich sichtlich wohl in dieser schwierigen Doppelrolle. Nach wenigen Tönen wird klar, sie ist eine exzellente schauspielende Musikerin, die später auch noch ihre stilistische Vielseitigkeit zeigen kann! Als sie oben auf der Leiter das Präludium von Bachs G-Dur Suite spielte und mehr und mehr vom Nebel eingehüllt wurde, dachte ich: Hoffentlich wird ihr nicht schwindlig.

Es ist alles genau durchdacht und präzise gearbeitet, der Cello-Lauf kommt exakt in dem Moment oben an, wenn das Licht angeht und die Stimmung wechselt. Nach gerademal 75 Minuten ist alles vorbei. Es müsste nicht länger sein, aber es endet gerade rechtzeitig. Ein toller Abend, der nachwirkt wie ein Wolkenspiel am Himmel.

 

Girl From The Fog Machine Factory
von Thom Luz
Raum, Lichtdesign, Inszenierung: Thom Luz, Musikalische Leitung: Mathias Weibel, Kostüm: Tina Bleuler, Katharina Baldauf, Sounddesign: Martin Hofstetter.
Mit: Mathias Weibel, Mara Miribung, Samuel Streiff, Sigurður Arent Jónsson, Fhunyue Gao.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.gessnerallee.ch

Wolff Ulrich 140 BerlinerPhilharmoniker u
Ulrich Wolff ist Kontrabassist, seit 1978 bei den Berliner Philharmonikern. Er wirkt in vielen Kammermusik-Ensembles mit. Seine besondere Liebe gilt der Alten Musik, er beschäftigt sich mit Quellenforschung und musikhistorischer Literatur und spielt auch historische Instrumente wie den Violone und die Viola da Gamba.

 

In der Reihe Das Theatertreffen 2019 von außen betrachtet hat nachtkritik.de Expert*innen von Disziplinen außerhalb des Theaterbetriebs gebeten, die Berliner Festivalgastspiele zu begutachten. Aus frei gewähltem Blickwinkel, ohne formale oder inhaltliche Vorgaben. Zu allen Einladungen finden sich auch Nachtkritiken, die bereits zur Premiere der Produktionen entstanden. 

Die Nachtkritik zur Premiere im Zürcher Theater Gessnerallee am 17. Mai 2018 gibt es hier.

Zur Festivalübersicht des Berliner Theatertreffens 2019 geht es hier entlang.

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