Der ewige Bettler 

von Andreas Wilink

Recklinghausen, 9. Mai 2019. "Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn." Sagt der Türhüter zu dem Mann vom Lande. Es sind die beiden letzten Sätze in Kafkas zur Essenz verdichteten Erzählung "Vor dem Gesetz". "Komm, wir gehen. – Wir können nicht. – Warum nicht? – Wir warten." So der wiederkehrende Gesprächsverlauf zwischen Estragon und Wladimir in Samuel Becketts Jahrhundert-Drama. Die einfachen Sätze, die mehr noch Chiffre für unser Sein sind als konkreter Dialog, ruhen still unter dem Stück, mit dem Peter Brooks Théâtre des Bouffes du Nord Paris auf eine deutsche Bühne – in das Haus des Koproduzenten Ruhrfestspiele – zurückkehrt. Hinter den Zeichen liegt die Natur des Menschen.

Nach dem Verbrechen

"The Prisoner" (Text und Regie: Brook & Marie-Hélène Estienne) zeigt auf knappen 20 Seiten den Künstler als Shakespeare-Leser, Beckett-Bewunderer und Kafka-Kenner. "The Man who ..." – Er sitzt vor seinem Gefängnis, einem weißen Gebäude auf einem Hügel. Die Recherche zur Idee der Freiheit und Befreiung hält nicht lange unter Verschluss, was sein Vergehen ("an unspeakable crime") ist, ob er sich dort freiwillig oder genötigt, als Strafe und zur Sühne befindet. Sucht er Erlösung, erbittet er Vergebung? Seine Anweisung lautet, sich wieder zu richten ("to repair"), was im Deutschen doppeldeutig klingt.

The Prisoner1 560 Simon Annand uGefangene im eigenen Leben. Vasant Selvam und Kalieaswari Srinivasan © Simon Annand

Das Verbrechen des Mavuso war: Vatermord nach dessen Inzest mit der Tochter, Mavusos Schwester Nadia (Kalieaswari Srinivasan). Doch Nadia selbst liebte den Vater als Mann, es war kein Zwang in ihrem Tun, aus dem heraus sie ein Kind gebiert. Mavuso liebt seine Schwester ebenso, wie der Vater sie geliebt hat. Er tötete aus Hass und Eifersucht. Bestraft von seinem Onkel Ezekiel (Hervé Goffings), der ihm die Oberschenkel durchbohrt, wird Mavuso eine Weile in eine Zelle gesperrt und dann durch einen Wald in die Wüste geführt, wo er nun ohne äußere Fessel wartet – ausgesetzt der ständigen Versuchung, den Ort zu verlassen. Mit zwei Decken, etwas Hausrat und einer Feuerstelle markiert Mavuso (Omar Silva) den Platz. Ezelkiel gibt ihm ein Buch des Vaters, dessen Geist Mavuso beim Aufschlagen der Seiten erscheint und von einem heiligen Baum und dessen für Delinquenten giftigen Säften berichtet.

Nichts ist da, doch alles anwesend

Im schwarz ausgeschlagenen Bühnenrechteck sind in kreisförmigem Wirbel Wurzelwerk, Hölzer, Äste, Steine und Häcksel auf dem bloßen Boden angeordnet. Ein Vorstellungsraum für eine unspezifische Gegenwart, in der eine Frau Medizin studieren und Ärztin sein kann, Auto gefahren wird, politische Gefangene einsitzen. Kein Hightech-Arsenal, keine Projektionen, nicht Dekor noch Effekt, keine Musik. Nur Lichtwechsel und das Konzert von Tierstimmen – Tschilpen, Keckern, Zirpen. Keine virtuosen Fertigkeiten. Kein Deuten, sondern Erzählen – mit Gesten, mimetischer Formung, gerader Rede, der Textur des Körpers und seiner Bewegungs-Artikulation. Kaum etwas ist 'wirklich' da, doch alles höheren Orts anwesend: in der Imagination. Die Konzentration auf das Einfachste und das Offenlegen des Spiels heben das Reflektieren auf.

Der 1925 in London geborene, im achten Jahrzehnt wirkende Zeitzeuge Brook, der Nomade, der die Leere liebt, der das Denken als körperlichen Vorgang betrachtet, anerkennt für sein Theater keinen Sperrbezirk. Außereuropäische Kulturen, Mythen und Literaturen, Ich und Welt und Wir begegnen einander wie für ein Gleichnis.

Nachrichten aus einer anderen Welt

Mavuso geht in sich, bewohnt seine Hölle ("the prison inside") und haust zehn Jahre in seinem Schweigen. Leute wollen ihn loswerden und verscheuchen. Nadia will ihn überreden, mit ihr und ihrer Tochter, die auch ihre Schwester ist, fortzugehen. Mavuso bleibt, sogar als das Gefängnis abgerissen wird, nachdem ein Henker alle übrigen Insassen geköpft hatte. Bleibt, um Verzeihung zu erlangen, bis die Zeit reif ist, sich selbst verziehen zu haben. Frei-Spruch! Ein anderer nimmt seinen Platz ein – vielleicht.

Die Frage nach der Wahrnehmung von Realität und dem Unergründlichen der Existenz und ihren Bedingungen hat keine Antwort. Wir sind, um zu sein, was wir sind: "a man accepting totally who he was, where he was, what he was. A beggar in infinity, like us all."

Brooks Theater ist so unsagbar weit entfernt von dem, was unser Stadttheater, die freie Szene, das Performative, was unsere Diskurse und Ästhetiken bestimmt, dass man meint, es müsse von einem sechsten Kontinent zu uns herüber gekommen sein. Ihn Atlantis zu nennen, wäre schon zu sehr Zuschreibung.

 

The Prisoner
Text und Regie: Peter Brook und Marie-Hélène Estienne
Licht: Philippe Vialatte, Ausstattung: David Violi.
Mit: Hayley Carmichael, Hervé Goffings, Omar Silva, Kalieaswari Srinivasan, Vasant Selvam.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.ruhrfestspiele.de



Kritikenrundschau

Dieser Abend erzähle auf die "denkbar einfachste Weise von der Würde des Menschen", schreibt Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (11.5.2019). Eine Brook-Inszenierung sei "inzwischen das Kontrastprogramm zu beinahe allem, was in der Szene angesagt ist. Dieses Theater ist von Grund auf entschlackt, seine einzige Idee ist diese: Der Schauspieler im Raum, der eine Geschichte erzählt."

Simon Strauss schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (14.5.2019):  Nur im Vor­der­grund gehe es bei Brooks aus "alt­tes­ta­men­ta­ri­schem Gleich­nis, Kaf­kas 'Vor dem Ge­setz' und Ödi­pus-Sa­ge zu­sam­men­ge­träum­tem" 'Pri­so­ner' um ein "ar­chai­sches Ver­bre­chen, um Schuld und Süh­ne und die al­te My­thos-Fra­ge, ob Stra­fe zu Ge­rech­tig­keit führt oder zum ewi­gen Cha­os". Im Tie­fe­ren suche auch die­ser "wun­der­ba­re Thea­ter­abend" wie­der nach ei­ner "über­ge­ord­ne­ten, sprach­un­ab­hän­gi­gen Aus­drucks­form mensch­li­cher Emp­fin­dung". Auf so emp­find­sa­me Art und Wei­se erzähle der vier­und­neun­zig­jäh­ri­ge Brook, "dass ei­nem die Sin­ne ganz ru­hig wer­den". Wie ein Be­su­cher fühle man sich in ei­ner Welt, "die wei­se ist und al­le Be­klem­mung löst". Es sei ein Abend, der nicht nur vom "Rich­ten" er­zähle, er "rich­tet auch uns".

 

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