Theatertreffen 2019

Einspruch zum Berliner Theatertreffen 2019 – Die polnische Kulturjournalistin Iwona Ubermann vermisst politische Signale

Berlin, 10. Mai 2019. Das Berliner Theatertreffen zieht die Aufmerksamkeit nicht nur im deutschsprachigen Kulturraum auf sich. Auch wir, die ausländischen Journalisten, schauen uns die Stücke und Veranstaltungen an und suchen dort nach gewichtigen Inspirationen und Anregungen, um sie über die Grenzen zu tragen. Ein Fazit kann natürlich erst nach dem Festival gezogen werden und für meinen Bericht nach Polen werde ich dies dann tun. Aber schon jetzt möchte ich mich an der deutschen Diskussion beteiligen, die wie jedes Jahr im Umfeld des TT stattfindet, öffentlich und privat.

Meine Enttäuschung

Es zeichnet sich bereits ab, dass die Jury auch diesmal genügend wirklich bemerkenswerte Inszenierungen fand, die einen Überblick über das Spektrum und die Möglichkeiten des Theaters in deutschsprachigen Ländern bieten. Es sind Arbeiten, die ein Lob verdient haben, und denjenigen, die sie kreiert haben und die sie spielen, gebührt Anerkennung. Der Platz dieser Stücke in der Theaterlandschaft ist mehr als berechtigt und er soll ihnen hier nicht streitig gemacht werden.

Geschlechterkämpfe in der Mittelklasse: Simon Stones "Hotel Strindberg" vom Wiener Burgtheater und dem Theater Basel eröffnete das Berliner Theatertreffen 2019 © Reinhard Werner

Jedoch: Obwohl das Theatertreffen noch lange nicht zu Ende ist, kann ich in diesem Jahr meine Enttäuschung bereits jetzt spüren. In der politischen und gesellschaftlichen Situation, in der wir uns heute in Europa befinden – in Polen spürt man sie alltäglich noch schmerzhafter als hier in Deutschland – scheint mir die gut gelöste Aufgabe, die zehn bemerkenswertesten Produktionen auszuwählen, einfach zu wenig zu sein.

Rückzugsraum

Die diesjährige Auswahl erweckt den Eindruck, einen Rückzugsraum zu bieten, um den Problemen da draußen kurz entfliehen zu können. Dafür sorgt beispielsweise die poetische Welt von Girl from the Fog Machine Factory und auch die drei Stunden des amüsanten Tartuffe oder das Schwein der Weisen bieten gute Laune und sind bestenfalls ein "Persil"-Geständnis: Ja, wir haben uns selbst in diese schlimme Lage gebracht und stecken da jetzt drin.

Reicht dies? Ist es nicht eine Verkennung des Theaters, wenn man es auf eine solche Rolle reduziert? Das Theater kann viel mehr und das wissen die Juroren auch. Warum sonst würde Die Nacht in Lissabon auf der Longlist stehen, die den politisch inzwischen so unliebsamen Themen von Migration und Flucht nicht ausweicht, auch an deutsche Emigrantengeschichten und deutsche Vergangenheit erinnert und Empathie weckt? Wäre es nicht wichtiger, gerade anhand eines solchen Stückes den menschlichen Umgang miteinander in schweren Zeiten zu beobachten, statt sich genau anzuschauen, wie unsere heutigen Geschlechterkämpfe in der gehobenen Mittelklasse aussehen? Sie wurden sicherlich in Hotel Strindberg glänzend dargestellt.

dienachtvonlissabon2 560 ute langkafel maifoto uTheater über Fluchterfahrungen: Dimitrij Schaad spielt in Hakan Savaş Micans Adaption des Remarque-Romans "Die Nacht von Lissabon" am Berliner Maxim Gorki Theater © Ute Langkafel / Maifoto

Wäre es nicht dringlicher, mehr Raum der Problematik zu geben, wie sie in Im Herzen der Gewalt zum Ausdruck kommt: Wie meidet man die Vorurteilsfalle, wenn man mit Ereignissen konfrontiert wird, die den Mustern entsprechen, auf denen diese Vorurteile beruhen? Diese Longlist-Inszenierung plädiert dafür, die Welt differenzierter anzusehen und mutet uns komplizierte, relevante Inhalte zu.

Vorschläge zur Veränderung des Auswahlverfahrens

Das bisherige Begleitprogramm, das sich der Frage widmet, wie man Theaterstrukturen verändert, um eine demokratischere und transparentere Intendantenwahl zu ermöglichen oder wie das Theatersystem durchlässiger gemacht werden kann, inspiriert zu noch einer weiteren Überlegung. Könnte man das Auswahlverfahren der zehn Inszenierungen verändern? In Hinsicht auf Arbeiten von Regisseurinnen ist der Vorschlag einer 50%-Quote von Yvonne Büdenhölzer interessant und bringt das Theatertreffen sicherlich etwas weiter.

In den nächsten Jahren könnte man aber vielleicht noch einen anderen Weg ausprobieren: die Jury wählt die Longlist-Inszenierungen (mit klaren Begründungen) aus, die letzten 10 daraus werden von 10 verschiedenen Gremien gewählt, je eine von beispielsweise Theaterkritiker*innen, Schauspieler*innen, People of Color, Frauen, Männern, Senior*innen, Theaterleiter*innen, LGBTI-Community usw. Noch ein anderes Modell zum Ausprobieren wäre in Polen zu finden: Zum Warschauer Theatertreffen werden nicht nur Produktionen der großen Häuser eingeladen, da auf die Provinz zu hören, sehr bereichernd sein kann. Sicherlich findet man weitere anregende Ansätze nicht nur in Europa.

Aber zurück zum Hauptprogramm, dem Herzstück für das Ausland. Das Theatertreffen läuft und vielleicht werden noch Inszenierungen kommen, die Eindrücke in diesem Kommentar revidieren lassen. Das Interesse für die Welt und das sozialpolitische Denken gehören zu den Stärken Deutschlands. Festzustellen, dass sie dem heutigen Theater zugunsten der hochartifiziellen Formen abhandengekommen sind, wäre unangenehm.

 

Uberman Iwona 100 uIwona Uberman, geboren in Polen, in München promovierte Theaterwissenschaftlerin und Skandinavistin. Als Theaterkritikerin arbeitet sie für die polnische Theaterzeitschrift "Teatr" und berichtet über das deutschsprachige Theater. Als Übersetzerin von Theaterstücken arbeitet sie regelmäßig mit der in Warschau erscheinenden Zeitschrift für moderne Dramatik "Dialog" zusammen. Lebt in Berlin.


Mehr zu der Autorin: Iwona Uberman berichtete für nachtkritik.de schon mehrfach über die Theaterlandschaft Polens. Ihre Artikel finden sich im nachtkritik.de-Lexikoneintrag zu Polen.

Kommentare  
Einspruch Theatertreffen: Weniger Markt!
Vielen Dank Frau Uberman! Liebe Jury: BITTE ändert das Auswahlverfahren! Weniger "Persil"-Geständnisse, weniger "Wir laden den und die schon wieder ein, weil wir es lieeeben!"-Strategie, weniger Markt, mehr "kleinere" Produktionen und mehr Poesie und Polemik!
Einspruch Theatertreffen: Schwäche
"Das Interesse für die Welt und das sozialpolitische Denken gehören zu den Stärken Deutschlands. Festzustellen, dass sie dem heutigen Theater zugunsten der hochartifiziellen Formen abhandengekommen sind, wäre unangenehm." Wie kann "abhandenkommen", was nicht vorhanden ist? (Schon gar nicht als "Stärke".)
Einspruch Theatertreffen: FAZ-Text Hinrichs
Liebe Nachtkritik, heute in der FAZ habe ich einen beeindruckenden Kommentar von Fabian Hinrichs über die Hintergründe des absichtsvollen Theaters gefunden, der auch deutlich aufzeigt, worin das Politische des Schauspiels stecken könnte, immerhin fast eine ganze Seite lang. Nur in der "Nachtkritik" ist davon nichts zu lesen, als wäre es ein empirischer Beweis für Hinrichs' These.

(Danke für den Hinweis, der Text steckt noch hinter der Bezahlschrank, aber wir haben ihn jetzt im Blick. D. Red.)
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