Das arme Tier zeigt seine Zähne

von Nikolaus Merck

Kassel, 10. Mai 2019. Der Krieg ist schwarz und weiß und überall. Er kriecht über die Bühne von Daniel Roskamp, in die Kostüme der Soldaten, auf den Planwagen der Marketenderin (für die Heutigen: bei der Markentenderei handelt es sich um einen ambulanten Supermarkt hinter der Front), bis auf die verblichene Haut seiner Opfer. Schwarz und weiß. Ein Gegensatz, so wie die traditionellen Lesarten für die "Mutter Courage" von Bertolt Brecht: "Hyäne des Krieges", die am Schlachten und Morden verdient, die ihre Kinder opfert, nur um einen kleinen Gewinn einzubringen. Oder: das Muttertier, das versucht im menschenverschlingenden Krieg zu überleben, und dabei, weil die Verhältnisse eben einmal so sind, ihre Kinder verliert, die kriegstauglichen Söhne Schweizerkas und Eiliff, sowie die Tochter Katrin, die stumm ist, und nicht besonders hübsch.

Am Schaufelrad des Urkriegs

"Hunger", steht auf der drehbühnenbreiten Wand zur Mitten, die den Planwagen der Courage vorstellt und zugleich der Krieg selber ist, immer wieder in Drehung gebracht von den Müttern, den Kindern, den Kerlen. Die Wand erinnert an die Bühne von Mark Lammert in Dimiter Gotscheffs "Die Perser". Die Wand ist ein Coup, mit ihrem Kreisen schaufelt sie elegant Figuren hin und weg, vergehen die 12 Jahre erzählter Zeit im Schwung. "Hunger" steht da, weil das Ergebnis jeden Krieges eben dieser Hunger für viele ist. Der Hunger nach Essen, Behausung, dem Lebensnotwendigen.

muttercourage1 560 nklinger uVom Dreißigjährigen Krieg und von allen heutigen: Das Brecht-Stück spielt in Kassel auf der Bühne von Daniel Roskamp © N. Klinger

Die "Mutter Courage" von Bertolt Brecht spielt im Dreißigjährigen Krieg. Dem Urkrieg, aus dem Europa bis heute nicht wirklich herausgekommen ist. Nach einer vergleichsweise langen Friedenspause nach 1945, die man laut Brecht nutzen konnte, um zu "kacken", "ein Bier" zu trinken oder sich "hinter der Scheun zu vermehren", herrscht längst wieder Krieg. Nicht nur in der Ukraine, vor allem an den Außengrenzen, wo Europa, die Friedliche, all jene ersaufen lässt, die fliehen aus den Bürgerkriegen in Syrien, Jemen, Libyen, für die Europa, die Friedliche, die Waffen bereitstellt. Das ist der Denkraum, den die Inszenierung der 33jährigen Laura Linnenbaum aufreißt.

Die Verdoppelung der Courage

Und dann die Courage. Die Courage ist die Mutige, die Vitale, die Kämpferin, und in Kassel gibt es sie zweimal. Zu Beginn drehen die Courages die Wand, hie die Mutter (Anke Stedingk), fröhlich inmitten ihrer kurzbehosten Kinder. Dort die Mutter allein (Eva-Maria Keller), gleichsam als Verkörperung zweier Zeiten in einer Inszenierung, der des hoffnungsvollen Beginns und der des resignierten, trotzigen Schlusses. Dazwischen schnurrt Brecht ab. Gekürzt, aber ohne Fremdtexte.

Die zwei Mütter Courage sprechen abwechselnd oder im Chor, tanzen, rauchen, hocken breitbeinig im weiten Rock wie einst die Weigel bei der berühmten Berliner Aufführung von 1949, die keine Inszenierung so ganz und gar ignorieren kann. Die Courages handeln, feilschen, halten den Feldprediger (Jürgen Wink) aus und lieben den Koch (Konstantin Marsch, ein Popstar mit schwarz umrandeten Augen und blonden Haarzopf) worüber sie ihre Kinder verlieren. Die Söhne werden hingerichtet, Eiliff (Philipp Basener), der Kluge, weil er im Frieden dumm ist, Schweizerkas (Marius Bistritzky), der bubihaft Törichte, weil er klug sein will im Krieg. Und Katrin (Alexandra Lukas), könnte man sagen, stirbt, weil sie für die eigentliche, die moderne Lehre der Inszenierung einsteht – würde sie nicht schon bei Brecht vom Dach geschossen, wo sie trommelt, um die schlafende Stadt Halle vor einem Angriff zu warnen.

muttercourage2 560 nklinger uEmanzipiert und doch Opfer der Verhältnisse: Eva-Maria Keller als Mutter Courage und Meret Engelhardt als Yvette © N. Klinger

Recht eigentlich nämlich handelt es sich bei "Mutter Courage" in Kassel um eine Demonstration. Laura Linnenbaum verwandelt Brechts Stück über die handlungsstarke, jedoch in ihrem Horizont beschränkte Geschäftsfrau in ein Frauenstück. Die Paul-Dessau-Paraphrasierung von Christoph Iacono erhebt sich aus dem Graben des Schauspielhauses als eine Art herrlich jazzende Courage-Oper mit Arien ausschließlich für Ensemble-Chöre und die Frauen. Empowered, handlungsmächtig sind sie alle, von den Courages bis zur Hure Yvette (Meret Engelhardt), die bei Gelegenheit den Koch zusammenhaut, der sie einst in Flandern zur Hure machte.

Mädchen im Getriebe

Fragwürdig erscheint die Sicht der Regisseurin auf ihre Frauen-Figuren, wenn Katrin, von Soldaten vergewaltigt, triumphierend ihre Mütter anlächelnd, den Vergewaltiger küsst. Ist sie also doch nicht bloß das verachtenswerte "arme Tier", als das alle sie apostrophieren? Katrin, Yvette und die Mütter stellen allesamt aktive, starke Frauen dar, so stark, dass neben ihnen noch die brutalsten Männer wie bloße Staffage erscheinen – doch wird zugleich klar, dass auch handlungsmächtige Frauen Opfer bleiben der Verhältnisse, die sie durch ihre eigenen Handlungen je um je zementieren.

Wenn Krieg herrscht, wie auf der Bühne in Kassel, verwandeln die Verhältnisse noch die emanzipiertesten Frauen zu Rädchen im unmenschlichen Getriebe. Womit Linnenbaum wieder bei Brecht ankommt. Auch in einer gendergerechteren Welt, in der die Frauen entschieden, wäre der kriegstreiberische Kapitalismus (ach, vermöchten wir Heutigen doch an eine derart eindimensionale Ursache zu glauben) noch nicht verröchelt, und lange noch nicht herrschten Frieden und Gerechtigkeit für alle.

Mutter Courage und ihre Kinder
von Bertolt Brecht
Musik von Paul Dessau, bearbeitet von Christoph Iacono für das Staatstheater Kassel
Regie: Laura Linnenbaum, Musikalische Einstudierung und Leitung: Christoph Iacono, Bühne: Daniel Roskamp, Kostüme: Ulrike Obermüller, Licht: Oskar Bosman, Dramaturgie: Thomaspeter Goergen.
Mit: Eva-Maria Keller, Anke Stedingk, Alexandra Lukas, Philipp Basener, Marius Bistritzky, Jürgen Wink, Konstantin Marsch, Aljoscha Langel, Enrique Keil, Meret Engelhardt, Musiker: Christoph Iacono, Peer Baierlein, Maik Ollhoff.
Premiere am 10. Mai 2019
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

https://www.staatstheater-kassel.de

 

Kritikenrundschau

Was das Wegducken der auf eigenen Vorteil erpichten Opportunisten-Versammlung heute bedeutet, bleibe dem Publikum überlassen, so Mark-Christian von Busse in der Hessisch Niedersächsischen Allgemeinen (13.5.2019). Die Inszenierung schaffe kraftvolle, packende Szenen, auch wenn es trotz Textstraffung Längen gebe. Dass es statt eines Planwagens ein verkleidetes Gerüst gebe, leuchte ein, "es wird immerzu angetrieben - wie der Dreißigjährige Krieg stets aufs Neue befeuert wird." Weniger klar sei, warum die Rolle der Courage auf mehrere Schauspielerinnen aufgeteilt ist. Ursprünglich waren sogar drei vorgesehen, "Erkrankungen zwangen kurzfristig zur Änderung".

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