Geilheit trifft auf Willigkeit

von Michael Bartsch

Dresden, 11. Mai 2019. Programmheft und Online-Teaser des Dresdner Staatsschauspiels wecken die falschen Erwartungen. "Kasimir – der Prototyp eines Wutbürgers?" wird suggestiv gefragt. Der soeben entlassene, "abgebaute" Chauffeur also, der aus Frust darüber mit seiner Karoline bricht, sich auf dem Münchener Oktoberfest gemeinsam mit zwielichtigen Gestalten vollaufen lässt und dabei sarkastische Bemerkungen äußert.

Spiel der Abhängigkeiten

Systemkritik ist das freilich noch nicht, wenn Kasimir "elementar" wird. Der Wutbürger-Vergleich wirkt auch deshalb bemüht, weil in dieser Dresdner Inszenierung des Horváth-Stückes aus der Agoniephase der Weimarer Republik nicht erhellt, dass Kasimirs Jobverlust ursächlich für das Zerwürfnis mit seiner Braut sein sollte. "Arbeitslosigkeit tötet Liebe", heißt es zwar im Text. Aber die beiden sind sich von Anfang an fremd wie alle elf Figuren dieses Dokumentarspiels einer entseelten Welt.

 KasimirundKaroline1 560 Sebastian Hoppe uVon nun an geht's bergab auf dem Fest © Sebastian Hoppe

In der Regie von Nora Schlocker wird ohnehin aus dem Sozialdrama überwiegend ein Geschlechterdrama. Das eine ist vom anderen allerdings nicht genau zu trennen. Männer besitzen die Macht. Sie betrachten Frauen folglich als Objekte, um die sie nicht werben müssen und die sie letztlich verachten. Das gilt auch für Kasimir, der selbst in seiner Resignation Karoline noch die Schuld gibt. In der Darstellung Viktor Tremmels spürt man den Überforderten, nach seiner Entlassung plötzlich Machtlosen. Ein weicher Typ, der lautstark mit seiner Verletzlichkeit kämpft.

Alle Frauengestalten spielen nur verschiedene Formen ihrer Abhängigkeit. Sie biedern sich lasziv an, insbesondere dort, wo ihnen die Witterung die größte materielle Ausbeute oder einen gehobenen Status verspricht. Auch Karoline, die doch vordergründig nur ein bisschen Amüsement auf dem Rummel sucht und der dabei der missmutige Kasimir hinderlich wird. Sie landet schließlich bei Schürzenberger, dem Spießer. Es gibt viel Bein zu sehen, und Freizügigkeit wird zumindest unmissverständlich angedeutet. Erotische Abhängigkeit der Männer gegen materielle Abhängigkeit der Frauen, ein permanenter Deal.

Nützlichkeit statt Menschenwürde

Dieser Durchgriff des Ökonomismus auf alle Lebensbereiche klingt als die eigentliche Gesellschaftskritik an, nicht eine Anklage gegen die Entwertung menschlicher Arbeitskraft in der Lotterie des Marktes. Fallen gelassen wird auch, wer in Mann-Frau-Beziehungen keinen Zugewinn verspricht. Die Karoline von Anja Laïs, obschon selbst benutzt, tut dies weder naiv noch aggressiv, sondern weil sie dieses Verhaltensmuster verinnerlicht hat.

KasimirundKaroline2 560 Sebastian Hoppe uMenschen im Korsett der Ökonomie: Raiko Küster, Viktor Tremmel, Karina Plachetka, Ingo Tomi, Anja Laïs © Sebastian Hoppe

Überinterpretiert wird im Programmheft auch der Satz des Landgerichtsdirektor Speers "Die Staaten müssen wieder radikal national werden". Ein willkommener aktueller Anknüpfungspunkt, gewiss, aber dieser Spruch steht ziemlich isoliert und wird weder im Text noch in der Bühnenfassung weiter verfolgt.

Rummel und Melancholie

Drei szenische Muster lassen sich in der Dresdner Schlocker-Fassung unterscheiden. Das laute Oktoberfest und seine inszenierte Pseudo-Lebensfreude brechen immer wieder herein. Das banale Vergnügungsangebot trifft auf den Lebenshunger der durchweg jungen Akteure. Spürbar auch bei den Oberschichtlern Rauch und Speer, die ihre innere Leere mit kaugummikauender Arroganz kompensieren. Wie alle treten auch sie in der weiß-blauen Amüsieruniform auf, nur eben aus höherpreisiger Quelle bezogen: Krachlederne, Kniestrümpfe, Kitschdirndl. Die fünf Live-Musiker stimmen in die Hofbräuhaus-Liturgie "1-2-3-G'suffa" lautstark ein. Geilheit trifft auf Willigkeit.

Damit kontrastiert die sonst vorherrschende Melancholie. Die Entdeckung der Langsamkeit in den Dialogen folgt bewusst originalen Regieanweisungen Horváths. Retardierende Momente, zelebrierte Stille, manches erscheint wie Slow Motion und steril. Überhöht und ins Surreale entrückt wirkt schließlich die makabre Zurschaustellung des Gorillamädchens, der Gipfel der Erniedrigung der Kreatur zum Objekt der Sensationsgier. Auch das Schlussbild kann man zu dieser Kategorie zählen. Wenn Apotheose, dann ins Reich der Depression und der Verzweiflung. Gebrochen hockt oder liegt das gesamt Personarium umher, und Karoline klammert sich an den unendlich oft wiederholten Satz "Es geht immer besser", während das Licht in quälender Langsamkeit verlöscht.

The show must not go on

Das geschieht auf einer Bühne, die man zunächst als eine große Showtreppe interpretieren könnte. Technisch raffiniert lassen sich die Stufen des oberen Teils sogar zu einer Rutsche für die Mädels abschrägen. Doch es geht auf dieser giftgelbgrün schimmernden Treppe eben überwiegend bergab. Die Düsternis des Schlusses ließ wohl nur einen dankbaren, aber keinen euphorischen Applaus zu.

 

Kasimir und Karoline
von Ödön von Horváth
Regie: Nora Schlocker, Bühne: Jessica Rockstroh, Kostüme: Caroline Rössle Harper, Musik: Marcel Blatti, Dramaturgie: Julia Weinreich.
Mit: Viktor Tremmel, Anja Laïs, Raiko Küster, Ingo Tomi, Karina Plachetka, Jannik Hinsch, David Kosel, Eva Hüster, Tammy Girke, Marina Poltmann, Emil Borgest.
Premiere am 11. Mai 2019
Dauer: 2 Stunden 25 Minuten, eine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

Die Bühnentreppe findet gg in der Dresdner Morgenpost (13.5.2019) "ein nicht sehr einfallsreiches, weil vielfach ausgedeutetes Symbol für Aufstieg und Abstieg". Nora Schlocker drücke das Stück nicht ins heute, "was denn auch zu einfach, weil naheliegend gewesen wäre". Die Inszenierung bleibe "zeitneutral. Dennoch ist das nicht nur Stärke, sondern auch Schwäche, weil es einen originellen Interpretationsansatz vermissen lässt."

"Eine bemerkenswerte und sinnliche Aufführung", schreibt Rainer Kasselt in der Sächsischen Zeitung (13.5.2019). "Sie wirkt heutig, ohne jede Vordergründigkeit. Nach der Pause verliert sie an Intensität, nicht aber an Tragik."

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