Presseschau vom 14. Mai 2019 – Fabian Hinrichs schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über die Stellung des Schauspielers im heutigen Theater

Den Leib finden, der nicht schon da ist

Den Leib finden, der nicht schon da ist

14. Mai 2019. Fabian Hinrichs konstatiert in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.5.2019) eine "durch die immer körperloser gestaltete Arbeits- und Lebenswelt" mächtiger wirkende Verschiebung: "zugunsten eines Zugangs zur Welt durch Begriffe und Erfahrung zulasten eines Zugangs zur Welt durch die Sinne und Wahrnehmung". Er zeigt sich verwundert darüber, dass ein "Theater und damit ein Schauspiel, das in den Interpretationsversuchen von Regie und Dramaturgie seinen Mittelpunkt sucht", als "das Normale", als das "Theater an sich" wahrgenommen werde. Es handele sich um ein Theater, das hinsichtlich "seiner Herstellungsart, seines Schauspielverständnisses und seiner Aufführungswirkung" weitgehend ein "begegnungsloses" und schlimmer noch ein "unkünstlerisches" Theater sei.

Er, Hinrichs, sei aber Schauspieler geworden, um mit Partnern aus freiem Spiel heraus "Gefühlsgedanken" entwickeln zu können. Mit Kant glaube er, dass "gelingendes Schauspiel" das Denken und das Sinnliche, die Erfahrung und die Wahrnehmung zu vereinen vermöge.

"Ein Theatersaal ist kein Großraumbüro"

"Um die Sprache zu finden, die nicht schon da ist, um den Leib zu finden, der im Alltag versteckt wird und um eine Beziehung zum Raum entwickeln zu können – denn ein Theatersaal ist kein Großraumbüro." Und auch kein "co-working space". Die "gemeinsame Projektarbeit" im co-working space trenne und vereinzele, ein Theaterabend aber vereine für einen Moment "durch die Erfahrung der Flüchtigkeit des menschlichen Daseins".

Die Wahrnehmung der Flüchtigkeit des Daseins entstehe seiner Ansicht nach aber maßgeblich durch das Spiel des Schauspielers. Wenn er weder "vornehmlich Interpret" noch "vornehmlich Bote der interpretierenden Regie" sei. Wenn sein Spiel "freigewählt" sei, in "der Begegnung mit dem Text, mit den anderen Spielpartnern" könne etwas entstehen, das "keine Zwecke" anstrebe, keine Ziele, wo die "Zeit zum Stillstand" gebracht werde. Wenn dies auf der Bühne glinge, spüre man es, "und es entzieht sich dem Begreifen". Und nur was dem Begreifen widerstrebe, sei Kunst.

Kaiserschnitt am Textkörper

Diese "Wahrnehmung von Zeit" könne sich nicht einstellen, wenn man Theater spiele "wie im französischen Drama vor dreihundert Jahren", wenn also Leute in "geometrischen Formen" auf einer Bühne stünden oder "Stege maßvoll auf- und abschreiten" und "dabei Texte rezitieren". In jenen Bereich gehörte "natürlich auch" das "von oben verordnete Improvisieren, Herumspringen oder Wälzen, Schreien oder Flüstern in Mikroports", eben alles, was "per interpretatorischem Kaiserschnitt" aus dem "Textkörper herausgeschnitten" werde,#

Lebendig sei Theater nur da, wo "in der Begegnung mit dem Publikum Gemeinsames entsteht". In diesem flüchtigen "Gemeinsamen", könne sich auch das "Politische des Schauspielens" zeigen.

(jnm)

Kommentare  
Hinrichs' Schauspielkritik: politisch relevant
Zur rechten Zeit zeigt Fabian Hinrichs hier in seinem brillianten Essay wie Theater missbraucht wird für billig zu habende Übertragungen und Botschaften und wie sehr die formelhaften hermeneutischen Übungen von Regie und Dramaturgie "erloschenes" Theater hervorbringen. Ganz grossartig und wichtig . Das sind wirklich politisch relevante Überlegungen und nicht nur eine kostümierte Erziehungsrhetorik oder betriebsinterne Scheinthemen.
Hinrichs' Schauspielkritik: Link
Hier ist der Link: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/fabian-hinrichs-gastbeitrag-zum-berliner-theatertreffen-16183304.html

(Vielen Dank für den Hinweis! Wir haben das nun verlinkt. Zum Zeitpunkt der Zusammenfassung stand der Text noch nicht online. Schöne Grüße, Anne Peter / Redaktion)
Hinrichs' Schauspielkritik: großartig
@ Neill,
ein wirklich herausragender Text von Fabian Hinrichs. Es ist hoch an der Zeit, dass sich am Konzept von Theater etwas ändert, denn längst befinden wir uns im 21.Jhdt., folgen aber nach wie vor dem von Brecht geprägten Edukativ-Theater aus dem 20. Jhdt. Nicht umsonst bezeichnet sich Castorf als Brechts "unartiger Schüler". Gibt´s denn gar nichts anderes? Doch gibt es, zeigt Hinrichs` erhellender Essay.

Allein schon dieser Satz aus dem gekürzten FAZ-Artikel: Lebendig ist Theater, so Hinrichs "... wenn in der Begegnung mit dem Publikum Gemeinsames entsteht."
Die gegenwärtige Theater-Attitude scheint mir aber vielfach eine Antipublikum-Haltung zu sein, als genaues Gegenteil. Offenbar muss und will da offenbar gar nicht erst Gemeinsames gesucht werden. Das Publikum scheint von den Theatermachern eher als notwendiges Übel erlebt zu werden, denn als konstitutiver Teil des Theater-Erlebnisses. Welch Verkümmerung.

Hinrichs nennt das gegenwärtige Theater ein "kartesianisches Theater". Eines, das also wie "Descartes und seine Anhänger durch Selbstgewissheit des Bewusstseins, Leib-Seele-Dualismus und mathematischen Rationalismus gekennzeichnet ist", lese ich. Was ist eigentlich mit den idealistischen Wurzeln des deutschsprachigen Theaters, sind sie vollständig verschütt gegangen? Und können sie wegen der konstanten theatralen Beleuchtung des tristen Ist-Zustands nie mehr wieder aktiviert werden?

Fabian Hinrichs verweist darauf, dass aus der deutschen Philosophiegeschichte Schätze (Kant) zu heben wären, die das heutige Theater beleben könnten. Was für ein großartiger Ansatz.
Hinrichs' FAZ-Artikel: Genau
Wie recht er hat. Gebt das Schauspiel den Schauspielern zurück! Es ist das Beste, was ihm passieren kann. (Sage ich als Autor und Regisseur...)
Hinrichs zum Schauspiel: Unterschied per se
Fabian Hinrichs Text ist eine Wohltat, allerdings spricht er von einem emanzipierten Künstler, wenn er von seinem Schauspielerideal spricht. Je mehr das (Stadt-) theater jedoch unter (ökonomischen) Druck gerät, desto konservativer wird es in Struktur und Ästhetik. Wenn ich mir hier in München den Schauspieler bei beispielsweise Rasche-Inszenierungen ansehe und dann Hinrichs Text lese, dann bekomme ich die beiden Welten, die offensichtlich bestehen, absolut nicht zusammen. Welche Schauspieler hat darauf Lust? Welcher hat keine Wahl, weil er im Engagement ist und eingeteilt wird? Fabian Hinrichs vertritt die Position eines Künstlers und die unterscheidet sich eben von der des angestellten Schauspielers per se. Richtig?
Hinrichs' Schauspielkritik: goetheanisch
Ja. Aber müsste das so sein? Warum gibt es fast nur noch das triste Leben eines Angestellten zu führen im Theater, wenn man Schauspieler/-in ist? Bemerkenswert und im Wortsinne radikal, nämlich von der Wurzel her denkend, ist doch diese Passage des Essays, zusammen mit vorherigen philosophiegeschichtlichen Herleitung: "Die tieferen Gründe meiner Überlegungen sind also die Verwunderung und die Melancholie darüber, dass ein Theater und damit ein Schauspiel, das in den Interpretationsversuchen von Regie und Dramaturgie seinen Mittelpunkt sucht, also ein cartesianisches Theater, als das Normale, als das „Theater an sich“ wahrgenommen wird (..)". Das ist fern der sprachlichen Brillianz ein wichtiger Aspekt des so klugen Essays: statt wie der in sich verkapselte oberflächlich nach scheinbar gesellschaftlich wichtigen Themen schielende Apparat, der am liebsten einfach so weitermachen möchte mit dem Format-Theater, der Abschaffung des autonomen Schauspiels, der Instrumentalisierung von Kunst, der ausschließlich auf selbstsüchtige, oftmals schlichte und zur Marke werden wollende!!! Regisseure gerichteten Aufmerksamkeit (deren grösste Angst ja der selbstständige selbst kreierende Schauspieler ist, der ja nicht im Dienst der Markenästhetik steht), statt alledem schaut sich Hinrichs, das Theater liebend, die letzten Jahrhunderte an und von dort kommend das was jetzt ist. Und ist "verwundert"! Ich finde es wirklich berührend, dass Hinrichs sich wundert, dass er das noch kann, staunen und wundern. "Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleib im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben." (Goethe). Vielen Dank, Fabian Hinrichs, wieder einmal (warum wird er nicht einfach Intendant?:-))
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