Es leben die Zumutungen!

von Gabi Hift

Berlin, 17. Mai 2019. Jedes der fünf Stücke des diesjährigen Stückemarkts ist auf seine Art eine Zumutung. Die Autor*innen brennen für ihre Themen, sind leidenschaftlich auf der Suche nach der einzig richtigen Form. Diesmal recken sich keine vorwurfsvollen Zeigefinger aus Texflächen – ein Schelm, wer das damit in Zusammenhang brächte, dass es nur einen einzigen deutschen Text gibt, und der kommt von einem erst vor wenigen Jahren nach Wien geflohenen Iraner.

Die neue Leiterin des Stückemarkts Maria Nübling hat das Festival im Theatertreffen diesmal für Einsendungen aus aller Welt geöffnet und diese dem Bechdel Test unterzogen. 40 Prozent der Texte seien daran gescheitert. Bei dem Test wird überprüft, ob es eigenständige weibliche Figuren gibt. Ein Nebeneffekt davon ist, dass es dazu überhaupt erst mal Figuren geben muss, nicht nur Funktionsträger – und tatsächlich tauchen in allen fünf Stücken welche auf, es gibt auch Geschichten, Dialoge, psychologische Konflikte. Dass sowas hierzulande als Gemengelage gilt, aus der sich jeden Moment das Medusenhaupt des "Well made play" zu erheben droht, scheint die Auswahl-Jury nicht geschreckt zu haben, und die Autor*innen aus anderen Ländern haben davon wohl noch nicht einmal gehört.

"Pussy Sludge" von Gracie Gardner

Schon der Titel ist eine derartige Provokation, dass er in den USA weder in der Zeitung noch auf Plakaten abgedruckt werden konnte. Das Stück hat den "Relentless Award" der American Playwriting Foundation gewonnen, die New York Times hat daraufhin geschrieben: "Gracie Gardener won for a play with an unprintable title." Erstaunlich, denn über "Pussy riot" kann man in der NYT oft lesen und auch über den "pussy grabber" Trump. Es scheint die Kombination mit "sludge", Schlamm, zu sein, die die Pussy zu etwas Unaussprechlichem macht. Pussy sludge ist ein junges Mädchen, aus dessen Möse literweise Rohöl rinnt. Dadurch hat sie den Boden um sich herum in einen stinkenden Sumpf verwandelt. Tief in diesem Schlamm wächst etwas, macht schmatzende Geräusche und versetzt Pussy elektrische Schläge, wenn sie danach greift. Pussy ist eine Antiheldin. Sie tut nichts als stur in diesem ekelhaften Sumpf sitzenzubleiben. Weder ihre Mutter noch das Mädchen, in das sie verliebt ist, können sie weglocken. Angebote, das Öl zu Geld zu machen oder sich gegen Geld als Kuriosität besichtigen zu lassen, lehnt sie ab.

pussy sludge 560 eike walkenhorstPussy Sludge-Lesung beim Theatertreffen © Eike Walkenhorst

Gracie Gardner reklamiert fulminant das bisher den Jungs vorbehaltene Ekel-Splatter-Genre für Frauen. Die Schauspielerinnen treffen genau den richtigen Ton zwischen Romantic Comedy und Groteske. Leider scheint die Regisseurin Elsa-Sophie Jach aber so gar keinen Spaß an der Selbstermächtigung der Frauen via Ekeloffensive zu haben. Sie lässt als Bebilderung des widerlich stinkenden Schlamms frische Orangen und Pfirsiche aufschneiden, lässt Finger über die feuchten Flächen fahren und das Geräusch per Mikro übertragen. Damit sagt sie: Seht her! Die Flüssigkeiten, über die wir reden, sind doch gar nicht schlimm! Sind frisch und appetitlich, reine Powerfood smoothies! Und merkt nicht, dass sie die mutige Provokation von Gracie Gardener zu einem neckischen Brave-Mädchen-Scherz verniedlicht. Schade!

Amir Gudarzis "Die Burg der Assassinen"

Hier ist die Zumutung die Sprache. Obwohl Deutsch nicht Amir Gudarzis Muttersprache ist – oder gerade deswegen – bedient er sich einer gehobenen Sprache, wie es sich seit Heiner Müller / Peter Handke / Botho Strauß kaum noch eine*r traut. Er verwebt mehrere Epen aus verschiedenen Epochen zu einer Art gigantischem Textzopf. Immer geht es um Reisende auf der Suche nach dem gelobten Land und um Alteingesessene, die verhindern wollen, dass Glückssucher ihr Reich zerstören. In der ersten Geschichte reist Marco Polo nach Osten und trifft auf die Assassinen, die Eindringlinge durch Attentate zurückschlagen. Die zweite Geschichte zeigt einen jungen Mann, der auf der Balkanroute ins gelobte Land Deutschland zu fliehen versucht. An der Außengrenze der EU trifft er auf zwei Sphinxe und muss deren Prüfung bestehen, bevor er sich im Anhänger eines Lastwagens verstecken kann. Es gibt (sehr eindrückliche) Chöre der Einwohner, in denen Anweisungen erteilt werden, wie man zu denen sprechen muss, die man davon abhalten will, ins eigene Paradies einzufallen: "Sag ihnen, dass wir arm sind. Sag ihnen nicht, dass wir reich sind. Sag ihnen, dass wir keinen Platz haben. Sag ihnen nicht, dass wir genug Platz haben." Und schließlich gibt es einen Berg, der sich gegen vergnügungssüchtige Touristen wehrt, indem er Felsbrocken auf die Autobahn schleudert. Dabei erwischt er ausgerechnet den Lastwagenanhänger, in dem sich der Flüchtende versteckt hat. "Die Burg der Assassinen" ist ein hochambitionierter Versuch, versammelt allerdings zu viel Material, als dass man für die einzelnen Figuren wirklich Interesse entwickeln könnte.

Burg 560 piero chiussi"Die Burg der Assassinen" in der Einrichtung von Lilja Rupprecht © Piero Chiussi

Die szenische Einrichtung von Lilja Rupprecht mildert die Anmaßungen des hohen Tons und des epischen Overkills durch Ironie ab. Jasna Fritzi Bauer (die ihren schlimmen Schnupfen virtuos als Stilmittel einsetzt) und Katrin Wichmann sind lässig herumflachsende Erinnyen / Parkplatznutten. Das macht das Ganze zwar leichter konsumierbar, aber man fragt sich – wie bei "Pussy sludge" – ob es nicht besser wäre, die Zumutungen, die die Stücke darstellen, bei einer solchen Präsentation auf die Spitze zu treiben, statt sie abzumildern.

"Vantablack" von Nazareth Hassan

Die Zumutung ist hier für mich schnell zu spüren: Ich bin nicht gemeint, und das bin ich als weiße Zuschauerin nicht gewohnt. Nazareth Hassan hat das Stück "Vantablack" vor allem für die Schwarze community geschrieben. Über die weißen Zuschauer sagt er: "I want them to feel that it is not necessarily an attack, but also I don't wanna make space for them any more than I need to."

Julia Wissert hat die szenische Einrichtung gemacht (einen Tag vor dem Bekanntwerden ihrer Ernennung zur Dortmunder Intendantin) und musste einen Text, der auf dem Papier mehr als drei Stunden dauern würde, auf stückemarkttaugliche 60 Minuten bringen. Dazu hat sie drei formal ganz unterschiedliche Teile zu einem einzigen verzahnt. Der erste Teil spielt in einer alternativen nahen Zukunft, in der man sich entschlossen hat, die Reparationszahlungen an befreite Sklaven, die nach dem Bürgerkrieg 1865 diskutiert, aber letztlich nicht gezahlt wurden, nun an deren Nachkommen zu verteilen – mit Zinseszinsen, was sie von einem Tag auf den anderen zu schwerreichen Leuten macht. Ein Szenenreigen untersucht subtil die Auswirkung dieser Umverteilung auf den tiefsitzenden Rassismus in vielen Verhältnissen. Im zweiten Teil hört man Tonaufnahmen von Telefonaten, die der Autor mit Verwandten und Bekannten geführt hat, in denen sie über ihre Hoffnungen sprechen, darüber, was sie daran mögen schwarz zu sein und was nicht, und was sie von Reparationszahlungen halten würden. Im dritten Teil treten die Darsteller dann aus den Rollen heraus und erzählen bei einem gemeinsamen Essen von ihren ganz persönlichen Erfahrungen mit Rassismus.

vantablack 560 eike walkenhorstGrillstunde mit "Vantablack" © Eike Walkenhorst

In der Stückemarktfassung braten die Darsteller von Anfang an Würstchen, die oft intimen Szenen des ersten Teils werden dadurch aus dem realistischen Setting herausgeholt und zu einem eher abstrakten Schlagabtausch über die Köpfe der Würstchenbrater hinweg. Trotzdem spürt man auch so, wie gut die Dialoge sind, wie differenziert komplizierte Machtverschiebungen behandelt werden, wie tief und alt manche Verletzungen sind. Bei den Erzählungen der deutschen schwarzen Schauspieler am Ende (eine davon nachtkritik-Kolumnistin Lara-Sophie Milagro) fühle ich mich unbehaglich, und das ist wahrscheinlich gut so. Man hätte den Text gern mit den formalen Unterschieden zwischen den drei Teilen gesehen, was in dem Kurzformat leider nicht möglich war. Was sich dennoch überträgt, ist eine polyphone Wut und Verzweiflung, die in immer persönlichere und ruhigere Erzählungen mündet.

Außer den drei Stücktexten waren noch zwei fertige Performances zum Stückemarkt eingeladen. Der Vergleich zwischen Stücken und Performances ist, wie schon in den Vorjahren, sehr schwer.

"Fall on Pluto" von Sashko Brama

In "Fall on Pluto" von Sashko Brama und seinem Ensemble beginnen die Zumutungen erst am Ende einer herzzerreißend rührenden Stunde. Die Gruppe hat ein Jahr lang die Bewohner*innen eines Altersheims besucht und die Gespräche aufgezeichnet. Auf der Bühne werden die Alten nun von wunderbaren lebensgroßen Puppen dargestellt – die Beine der Performer*innen stecken dabei in den Hosenbeinen der Puppen, die Hände in ihren Ärmeln, so dass die Darsteller*innen "ihre" Puppe von hinten umarmen und ihr den Kopf auf den Rücken legen. Es entstehen fast magische symbiotische Mischwesen, aus deren Köpfen die Tonaufnahmen der alten Leute kommen.

pluto 560 piero chiussiWahrhaftiges Dokumentartheater: "Fall on Pluto" © Piero Chiussi

Sie erzählen von vergangenen Zeiten und stecken dabei in ihren Erinnerungen fest wie in einem Käfig. Das Stück wirkt wie ein beeindruckender Aufruf zur Empathie mit den alten Leuten. Aber dann ertönt aus dem Radio ein Interview mit dem Regisseur, in dem er gefragt wird, warum die Zuschauer etwas so Trauriges überhaupt anschauen sollten und ob er die Eintrittsgelder wenigstens ans Altenheim spenden würde. Darauf folgt eine wahre Achterbahnfahrt der Selbstbefragung, was die Gruppe denn eigentlich mit ihrem Theater bewirken wolle. Es geht mit milder Ironie bergab, hinunter in schwärzesten Zynismus und wieder hinauf zu Mitgefühl und Ratlosigkeit – bis man ganz schwindlig ist. Das ist eine arge Zumutung, denn dazu war man nicht mehr bereit, man hatte sich schon in der Rührung über das eigene Mitgefühl eingerichtet. Dieser letzte Teil ist gänzlich unrund, "funktioniert" nicht, außer als Irritation – und führt doch zu einer radikaleren Wahrhaftigkeit, als man sie von solchen dokumentarischen Formaten gewohnt ist.

"Estado vegetal" von Manuela Infante

Die Performance "Estado vegetal" der Chilenin Manuela Infante ist dann etwas total Anderes. Infante begreift sich als Philosophin, die Theater macht. Sie gehört zu einer Gruppe von Künstler*innen und Philosoph*innen, deren Gedanken man unter dem Begriff "The non human turn" zusammenfasst. Sie schreiben allen Lebewesen, aber auch unbelebten Objekten die Kraft zu handeln zu. Infante betreibt das "Dekolonialisieren des Theaters vom Anthropozentrismus". Nachdem man diese Absichtserklärungen gehört und die Gedanken nur zum Teil verstanden hat, wird man von einer Performance überrascht, die ganz anders ist als erwartet: keineswegs graue Theorie, sondern eine witziges spielerisches Geflecht aus Erzählungen, die wie Äste einer Pflanze aus dem "Stamm" einer einzigen Frage herauswachsen: Wer oder was hat den Unfall eines Motorradfahrers verschuldet, der in einen Baum hineingerast ist und sich nun im Koma, in einem "vegetativen Zustand" befindet?

estado vegetal 560 eike walkenhorst"The non human turn": "Estado Vegetal" © Eike Walkenhorst

Es ist eine One-woman-show, und die großartige Darstellerin Marcela Salinas spielt alle Figuren – Menschen und Pflanzen. Verschiedene Personen erzählen auf der Polizei, was sie von dem Unfall wissen, der kommunale Beauftragte für Grünflächen, eine geschwätzige Nachbarin, ein geistig behindertes Kind, die Mutter des Unfallopfers, aber auch die Äste der Bäume äußern sich – sie sind die Vielen. Diese Polyphonie erzeugt die Darstellerin mit Hilfe eines Loop-Pedals. Die Erzählungen legen sich übereinander, einzelne Sätze kommen in allen Teilen vor. "No me puedo mover", ich kann mich nicht bewegen, sagen die Bäume, der Mann im Koma, die Mutter im Schock, das Mädchen, das sich weigert vom Baum herunterzukommen. Die unterschiedlichen Zeiten werden von einem Scheinwerferbogen verkörpert, der den Lauf der Sonne imitiert, mal in Menschen-, mal in Pflanzenzeit.

Diesen hochkomplexen Strukturen und Gedanken, die so anders als unser gewöhnliches Denken sind, dass man sie kaum fassen kann, steht das quirlige komödiantische Spiel von Salinas gegenüber, das die Qualitäten alten Volkstheaters wiederbelebt, an Dario Fo und Franca Rame erinnert. Die Interaktion mit den Pflanzen wiederum oszilliert zwischen staunender Erforschung der "Otherness" und kindlichem Animismus. Am Ende öffnet sich die Bühnenrückwand, und wir sehen, dass es dort spiegelbildlich zu unserem einen weiteren Zuschauerraum gibt, er ist voller Pflanzen, die begeistert rascheln und klatschen und eine Zugabe verlangen. Hier kann man sich die ganze Performance online ansehen.

And the winner is ...

Manuela Infante. Sie erhält vom Schauspielhaus Bochum den Auftrag mit den Schauspieler*innen des Hauses in der nächsten Spielzeit ein neues Stück zu entwickeln. Das ist eine mutige Entscheidung, weil ihre Arbeit sich derart von allem unterscheidet, was man zu sehen und vor allem zu denken gewohnt ist. Man darf gespannt sein. Und freut sich über einen wirklich interessanten Stückemarkt voller Zumutungen.

 

Pussy Sludge
von Gracie Gardner
Szenische Einrichtung: Elsa-Sophie Jach, Dramaturgie: Theresa Schlesinger, Ausstattung: Anne-Laure Jullian de la Fuente, Musik: Nadine Finsterbusch.
Mit: Hilke Altefrohne, Maryam Abu Khaled, Max Krause, Julia Riedler, Elena Schmidt.

Die Burg der Assassinen
von Amir Gudarzi
Szenische Einrichtung: Lilja Rupprecht, Dramaturgie: Maja Zade, Ausstattung: Anne-Laure Jullian de la Fuente, Musik: Friederike Bernhardt.
Mit: Jasna Fritzi Bauer, Eray Eğilmez, Ferdinand Lehmann, Katrin Wichmann.

Vantablack
von Nazareth Hassan
Szenische Einrichtung: Julia Wissert, Dramaturgie: Justyna Stasiowska, Ausstattung: Anne-Laure Jullian de la Fuente, Musik: houaïda.
Mit: Mia Imani Harrison, Ernest Allan Hausmann, Lara-Sophie Milagro, Langston Uibel, Simon Werdelis.

Fall on Pluto
Konzept, Dramaturgie, Realisierung: Sashko Brama, Mitarbeit Konzept und Dramaturgie: Maria Bakalo, Andre Erlen, Puppenbau: Oksana Rossol, Oleksandr Sergiienko, Ton: Volodymyr Fanta, Timur Gogitidze.
Mit: Andrii Buchko, Marichka Kmit, Valeria Kotelenets, Anastsia Lisovska, Marharyta Pidluzhna, Iurii Shorobura.

Estado Vegetal
Konzept, Text, Dramaturgie, Realisierung, Sound Design: Manuela Infante, Text, Dramaturgie, Spiel: Marcela Salinas, Design: Rocío Hernández.

 

 

Kritikenrundschau

Auf Deutschlandfunk Kultur bilanziert Eberhard Spreng den diesjährigen Stückemarkt.

 

Kommentare  
Stückemarkt Theatertreffen: Zumutungen
Es ist überhaupt kein Problem,Texte, die als Texte Zumutungen für das Theater und seine vermuteten überforderten Zuschauer darstellen, zu überspitzen! Man braucht sie dafür einfach prinzipiell nicht in öffentlichen Szenischen Lesungen ausprobieren, sondern nur theaterintern zur Probe ansetzen. Dann stellt sich schon sehr schnell heraus, ob sie als Zumutung für SchauspielerInnen und Regie groß genug sind, so dass man sie getrost so einstudieren kann, dass auch noch einstudiert von ihnen genügend Zumutung für Publikum übrigbleibt... Allerdings ist das ein sehr schlechtes Verfahren für Stückemärkte und ähnliche festivaleske Veranstaltungen... gewissermaßen wäre diesem Verfahren eine zugrundeliegende Milchmädchenrechnung vorzuwerfen... hach.
Stückemarkt Theatertreffen: Maloche
Welch merwürdiger Preis!
Besteht der Preis wirklich daraus,
dass die Gewinnerin eine neue Arbeit machen darf - nein soll?

Auf welch humanem Niveau befindet sich ein
Festival wie das Theatertreffen, das neue Arbeit als Preis vergibt?

Früher gabs mal so was Schnödes wie Kohle,
so dass man/frau sich zumindest danach als "freie KünstlerIn" fühlen durfte.

Heute gibt's als Preis > MALOCHE
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