Das große Heft - Das Berliner Theatertreffen 2019 von außen betrachtet
Die Seelen in Fetzen
von Dag Schölper
Berlin, 20. Mai 2019. Vier Stunden lang lasse ich mich von der Bühne herab anbrüllen. Eine seltsame Leere entsteht. Ein martialisch-infernalischer Klangteppich durchwühlt monoton Magen und Gedärm. 16 junge Männer verkörpern Zwillinge, die im Kriegselend von der Mutter aus der Großstadt aufs vermeintlich sichere Land verbracht werden. Der Vater ist an der Front. Von der honigsüßen Mutterliebe mit Hemd und Federbett in die küchenbankschroffe Welt der Dorf-Hexe am Ende der staubigen Straße. Wie alt mögen die Jungs sein, vielleicht acht, neun? Im Silben-Stakkato überflutet mich das Elend, die Welt im Krieg, die Randständigkeit, die Armut, die Seelenpein.
Auf den zwei rotierenden schiefen Kreisebenen marschieren die Zwillinge, gebrüllt, nicht verkörpert von den zwei, vier, sechs … sechzehn jungen Männern, und hämmern mir die Seelenverletzungen und die durchlittenen Körpermartern in mein biedermeierlich gemütliches Zuschauerhirn. "Du glaubst, das sei hart?" So scheint die Inszenierung fragen zu wollen und brüllt aus der Perspektive der dargestellten Personen hinterdrein: "NEIN! UN-SER DA-SEIN IST HART!!! A-BER WIR SIND H Ä R – T E R!"
Die Elenden
Der Lärm, die Wucht lassen mich nicht unberührt. Aber ist die erlebte Wirkung, die intendierte? Die Worte fügen sich nicht völlig der brachialen Inszenierung. Die Totalisierung der gewaltsamen Aneignung der Textvorlage misslingt. Die Brechungen, die Zartheiten, die Verletzlichkeiten, die Uneindeutigkeiten im Text selbst, sie dringen durch die lautstark proklamierte männlichkeitsverpanzerte Intensität der Vorführung. Ja, die Verführung zu einer monokausalen Erklärung der als langer Marsch zur Schau gestellten kalten Brutalität und seelenerstarrten Männlichkeit schlägt fehl. Die gespiegelte objektivistisch-mechanistische Sich-Abkapselung und Gefühlsentsagung sind keine zwangsläufigen Entwicklungen – auch nicht im Kontext von Krieg, Elend, sozialer Kälte. Die Hypothese überzeugt mich nicht.
Sexuelles Erwachen
Im weiteren Verlauf gefällt sich die Inszenierung im Exhibitionismus des sexuellen Erwachens der Zwillingsjungs. Ein Panoptikum der sexuellen Skurrilitäten wird durch den halbtransparenten Bühnenvorhang geschrien: Das hässliche Mädchen Hasenscharte lässt sich vor den Augen der beiden Jungs von einem Rüden lecken und besteigen. Die Jungs werden von der jungen Magd des Pfarrers sexuell missbraucht. Der Pfarrer selbst hat Hasenscharte missbraucht. Der Untermieter der Großmutter, ein fremder Offizier, liefert sich masochistisch homoerotisch dem angestauten Sadismus der beiden Heranwachsenden aus und genießt orgastisch: die Schmerzen der Verletzung, sein Bluten und schließlich – von den Jungs bepisst zu werden. Die dröhnende Verbalpornografie, vom halbtransparenten Stoff und der begleitenden Musik softpornomäßig weichgezeichnet, lassen mich ratlos zurück. In den vier Stunden wird wirklich alles aufgefahren, was den kleinbürgerlichen Geist erschüttern und ihn als selbstgefälligen Voyeuristen entlarven soll.
Schließlich, so wird weiter brüllend berichtet, kommt die Mutter zurück, um ihre Jungs wieder zu sich zu holen, im Gepäck einen neuen Mann und ein Baby. NEIN. WIR BLEIBEN BEI GROSSMUTTER. – Soll ich nun verblüfft sein? Und um der Härte die Krone aufzusetzen, wird die Mutter mit dem Säugling auf dem Arm von einer späten Granate am Gartenzaun der Großmutter zerfetzt. Die Jungs schaufeln ihr Grab und verscharren sie im Vorgarten. Ihr Leben schreitet weiter.
Ödipale Rache
Sie wachsen zu Männern heran, als eines Tages ihr Vater nach Jahren in Kriegsgefangenschaft auf der Schwelle steht, auf der Suche nach seiner Frau, ihrer Mutter. Der Vater sieht die Jungs nicht: Größer geworden, aber unverändert seien sie. Als hätten sie ödipale Rache für dieses verbrecherische Nicht-Wahrnehmen der körperlichen Verletzungen und seelischen Verstümmelungen geschworen, opfern sie den Vater einem Minenfeld des Grenzlands. Ein letztes Ausrufezeichen an die so oft an diesem Abend gebrüllte These: MAN(N) MUSS TÖTEN KÖNNEN, WENN ES NÖTIG IST!!!!
Das große Heft
nach dem Roman von Ágota Kristóf
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer,
in einer Fassung von Ulrich Rasche und Alexander Weise
Regie und Bühne: Ulrich Rasche, Bühnenbildmitarbeit: Sabine Mäder, Kostüme und Bühnenbildmitarbeit: Romy Springsguth, Chorleitung: Alexander Weise, Toni Jessen, Komposition: Monika Roscher, Dramaturgie: Jörg Bochow, Katrin Breschke.
Mit: László Branko Breiding, Philipp Grimm, Jannik Hinsch, Harald Horváth, Robin Jentys, Toni Jessen, Moritz Kienemann, David Kosel, Sam Michelson, Johannes Nussbaum, Justus Pfankuch, Daniel Séjourné, Yassin Trabelsi, Alexander Vaassen, Simon Werdelis, Tommy Wiesner, Musiker: Heiko Jung, Christoph Uschner, Kseniya Trusava, Slowey Thomsen.
Premiere: 11. Februar 2018 am Staatsschauspiel Dresden
Dauer: 3 Stunden 40 Minuten, eine Pause
www.staatsschauspiel-dresden.de
Dr. Dag Schölper, Jahrgang 1977, lebt und arbeitet in Berlin. Er hat Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin studiert und dort auch promoviert. Seit 2012 setzt er sich als Geschäftsführer des Bundesforum Männer – Interessenverband für Jungen, Männer & Väter e.V. für mehr Geschlechtergerechtigkeit ein.
Die Nachtkritik zur Uraufführung von Das große Heft am Staatsschauspiel Dresden gibt es hier.
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