Landschaft aus Narben

von Andreas Wilink

Recklinghausen, 17. Mai 2019. Während des Lesens der Geschichte von Jude St. Francis, seinen Freunden, seinen Peinigern und seinem schlimmsten Feind – ihm selbst – hält man die eigene Seele in der Hand. Möchte ausweichen vor dem Extremismus, ohne dass es gelingt, hofft auf Schonung und erhält sie nicht. Die bange Frage lautet, worin der Grund für die Verstörung liegen und was es mit einem selbst zu tun haben könnte.

Vier Lebenswege

Die vier Protagonisten lernen sich als Jugendliche kennen, sind einander zugetan, bleiben in enger Bindung. Der elternlose Jude studiert Jura, wird von seinem Professor Harold Stein später adoptiert und legt eine brillante Anwaltskarriere hin, die ihn zum reichen Mann macht. Willem Ragnarsson, der treue, großherzige, geduldige Farmerssohn – ein Genie der Freundschaft –, wundert sich selbst darüber, dass er als Schauspieler zum Star und berühmt wird. Malcolm aus haitianischer Familie hat als Architekt Erfolg. JB (Jean-Baptiste), ebenfalls coloured, setzt sich als Künstler durch – vor allem mit Porträtserien, die er von sich und den drei Anderen malt.

Jude und Willem bilden das symbiotische (Liebes-)Paar. Der Leser wird auf 950 Seiten zwischen Cambridge, Boston und New York mit ihnen erwachsen und begleitet während dreier Jahrzehnte ihre illustren Aufstiege und Abstürze, hat Teil an ihrem Erfahrungshunger und Selbstzweifel.

Ein wenig Leben 1 560 Jan VersweyveldFreunde fürs Leben: Ramsey Nasr (Jude) mit Mandela Wee Wee (Malcolm) und Maarten Heijmans (Wiillem) in "Ein wenig Leben" © Jan Versweyveld

Die 1974 in Los Angeles geborene US-Amerikanerin Hanya Yanagihara erzählt in perspektivischen und chronologischen Wechseln von einer irreparablen Versehrtheit. Und erzählt von der Liebe, ihren Valeurs und ihrer Deformation. "A little life" (dt. Ein wenig Leben) ist das wärmere, hellere, melodramatische Gegenbild zu Bret Easton Ellis' Negativ-Trip "American Psycho".

Die Zeit stapelt Trümmer

Ivo van Hove platzt, wie Yanagihara auch, mitten hinein in das Quartett auf seinem Spielfeld, das Studio, Atelier, Wohnküche, Dancefloor und Behandlungszimmer für Judes Wunden ist. An den Seiten der von zwei gegenüberliegenden Zuschauerreihen umstellten Bühne im Ruhrfestspielhaus fließen als Videoprojektion Stadtansichten, deren Bilder zu kriseln beginnen, wenn auch wir den Blick abwenden möchten. Auf dieser Transitstation – in einer Ecke wird gekocht, in der nächsten gemalt, in einer dritten das Modell für ein Haus entworfen, auf einer Liege Jude von seinem Mediziner-Freund Andy verarztet und Blut vom Boden gewischt – ist das Raum-Zeit-Kontinuum aufgehoben, alles möglich und durchlässig.

Die Zeit gerät aus den Fugen, errichtet kein Gebäude, sondern stapelt Trümmer. Ana (Marieke Heebink) darf zugleich als Therapeutin, Seelsorgerin und Kronzeugin erscheinen; Hans Kesting verkörpert die monströsen Oger Bruder Luke, Dr. Traylor und Caleb. Bilder und Gesichter verschwimmen. An diesem Albtraumspielort sind die Gedanken frei, aber bauen sich ihre Gefängnisse. Das Spiel ist ganz pur und wahrt dennoch einen schmalen Freiraum zwischen Rollenfigur und Darsteller.

Ein wenig Leben 4 560 Jan VersweyveldAuf langem Leidensweg: Ramsey Nasr spielt Jude © Jan Versweyveld

Jude ist der "Post Man" nach all dem, was hinter ihm liegt. Seine Krisen-Biografie: als Baby im Müll gefunden, im Kloster und Heim aufgezogen, gequält, benutzt, missbraucht; gebunden an den Marterpfahl seiner Erinnerungen aus dem Kindheits-Horror; in einsamer Einzelhaft mit seinem Selbsthass und Misstrauen, mit seiner Angst vor Verrat und Verlust, seiner sprachlosen Scham.

Die Vergangenheit wuchs ihm ins Fleisch. Jude wohnt in seiner Finsternis und ist so sehr verletzt, dass es eine "Beleidigung für den Körper" bedeutet. Arme, Beine, Rücken sind eine Landschaft aus Narben. Er kann nicht anders – muss sich immerfort mit Rasierklingen ritzen. Die Verstümmelung dient der reinigenden Buße und Entlastung und ist Preis und Lohn für die Anstrengung, das Leben auszuhalten – bis zum Moment des Glücks der Selbstauflösung, um das Kind zu sein, das er nie war und sein durfte. Auf Jan Versweyvelds Bühne senkt sich der schwarz verhangene Scheinwerfer-Block herab auf Jude und nimmt ihn im Auffahren mit sich: ihn, dem auf Erden nicht zu helfen war.

Riss in der Schmerzpartitur

In den intimeren zweiten Teil hinein, der sich zur Séance verschattet, heulen die Hyänen der antiken Tragödie. Ramsey Nasr als Jude steht nun wie unter Wiederholungszwang: Pein und nach kurzer Ruhe wieder Pein, sexuelle Gewalt und nach der Atempause wieder sexuelle Gewalt. Und dann erstarrende Trauer nach dem Unfalltod von Willem (Maarten Heijmans). Jude kommt der Welt abhanden, wie in Gustav Mahlers Rückert-Lied, das ebenso erklingt wie die "Kindertotenlieder", der Leiermann aus Schuberts "Winterreise" und ein Andante aus einem seiner Streich-Quartette. Die Musik schärft gewissermaßen die Dialoge bis in den schreienden Moment der Schändung und zieht einen Riss in die Schmerzpartitur.

Kein Lösemittel weicht bei Yanagihara die Kruste von Blut auf. Ivo van Hove bleibt ebenso unerbittlich. Sein Purgatorium der Traumata brennt sich ein mit romantischem Klang, fieberndem Spiel, verzweifelter Emotion, aufrührerischer Beweglichkeit und Leidenspathos. Es ist mehr als Psychologie, es ist die Epiphanie der conditio humanae.

 

Ein wenig Leben
von Hanya Yanagihara
Niederländisch mit deutschen Übertiteln
Konzept und Regie: Ivo van Hove, Bearbeitung: Koen Tachelet, Dramaturgie: Bart Van den Eynde, Bühne und Licht: Jan Versweyveld, Kostüme: An D'Huys, Komposition: Eric Sleichim.
Mit: Marieke Heebink, Maarten Heijmans, Hans Kesting, Majd Mardo, Ramsey Nasr, Eelco Smits, Steven Van Watermeulen, Mandela Wee Wee. Musik: Bl!ndman [strings], Monica Goicea, Floor Lecoultre, Suzanne Vermeyen, Femke Verstappen.
Premiere in Amsterdam am 23. September 2018
Gastspiel bei den Ruhrfestspielen am 17. Mai 2019
Dauer: 4 Stunden, eine Pause

www.ruhrfestspiele.de

 

Kritikenrundschau

Die Figur der Sozialarbeiterin Ana hätte die Inszenierung sich sparen sollen, schreibt Sonja Zekri in der Süddeutschen Zeitung (20.5.2019): "Denkt man sich Ana aber fort, dann bleibt die brillant beunruhigende Inszenierung einer literarischen Wuchtbrumme", wenn auch "schlichter und spröder als Yanagiharas Melodram".

"Die Kunst Ivo van Hoves (...) ist die der redlichen Ausnüchterung", schreibt Wolfgang Höbel auf Spiegel online (20.5.2019). Gegen "den Bibelkitsch des Buchs" setze er "die praktische Theatervernunft. Gegen die Schmerzbesoffenheit setzt er die Diagnose, gegen die Verzweiflung die Hilfsangebote der Psychotherapie." Mit "großer Sorgfalt, präzisem Musikeinsatz und wundersam lässigen Schauspielern" mache van Hove "aus der wilden, übersteuerten Passionsgeschichte des Romans eine kühle Fallbeschreibung".

Für Martina Möller von der Recklinghäuser Zeitung (20.5.2019) ist der Abend ein "packendes Theatererlebnis – mit großartigen Bildern und fantastischen Schauspielern".

"Ivo von Hove und seinen hervorragenden Darstellern gelingt es, die Romanhandlung in ein abendfüllendes, sehr tief unter die Haut gehendes Bühnendrama zu verwandeln", schreibt Claus Clemens von der Rheinischen Post (19.5.2019).

"Yanagiharas Roman und van Hoves Inszenierung öffnen die Trauma-Erfahrung, in dem sie mit ihren Erzähltechniken in die Hölle des Missbrauchs vorstoßen", schreibt Achim Lettmann im Westfälischen Anzeiger (20.5.2019). "Dabei lassen sie Täter und Helfer sprechen und handeln." Der Zuschauer im Theater erhalte "die Gewissheit, ein geführtes Spiel zu erleben, das ihn nicht mit Grusel, Ekel und Martyrium allein lässt. 'Ein wenig Leben' ist kein Horrortrip."