Die Zukunft in der Vergangenheit

von Hermann Götz

Graz, 24. Mai 2019. Die Zeit ist ein Zeiger. Ein Zeiger an der Uhr, der sich drehen lässt. Vor- und auch zurück. Andere Bilder für Zeit, die nicht zugleich eine Art mechanistischer Metapher sind, gibt es kaum. Für seinen Roman "Pfeil der Zeit" (Time's Arrow) hat der britische Schriftsteller Martin Amis aus diesem Bild sein Erzählprinzip gewonnen. Folgerichtig beginnt seine Geschichte mit dem Tod, gefolgt vom Ringen der Ärzte um das Leben eines Körpers. Und sie entwickelt sich, bei allem Auf und Ab stets zum Guten: zum Heil. Die Menschen werden jünger, ihre Lebensbürden erodieren. Wie einfach ist es in diesem Lauf der Welt, so wird es in Amis schelmischer Rede immer wieder betont, zu schaffen, wie schwierig zu zerstören.

Kcütstsim

Hartnäckig hält sich am Theater die Mode, Romane zu dramatisieren. Und jedes Mal wieder stellt sich die Frage: Warum? Warum soll dieser Text auf die Bühne? Im Fall von "Pfeil der Zeit" kommt erschwerend hinzu, dass mancher Aspekt dieses Werkes dramatisch gar nicht umzusetzen ist. So musste bei der deutschsprachigen Erstaufführung in der Inszenierung von Blanka Rádóczy (Regie und Bühne) die eine oder andere Passage umgeschrieben werden. "Kcütstsim", heißt es in der (übrigens vergriffenen) Übersetzung des Romans etwa. Und nicht "Miststück". Auch zahlreiche Dialoge der Romanvorlage bleiben nahezu unverständlich, wenn wir sie nicht ein zweites Mal und dann in umgekehrter Reihenfolge lesen. Pfeil der Zeit 1 560 LupiSpuma u © Lupi Spuma

Ein Witz dieses Buches ist, dass der Ich-Erzähler selbst stets und immer wieder verwundert ist über den Protagonisten und seine verkehrte Welt. Denn er sitzt in einem ihm irgendwie fremden Körper, der im verkehrten Lauf dieser Geschichte zu allem Überfluss immer wieder seinen Namen, seine Identität wechseln muss. Genau das ist ein Kunstgriff Amis', der allerdings geradezu nach Dramatisierung schreit: Sein ganzer Roman ist launige Rede, ja Wortschwall einer Stimme, die, wenn sie Ich sagt, nicht die Person meint, in der zu leben sie gezwungen ist. Den Darsteller, der hier einer Figur Stimme gibt - dabei aber stets auf Distanz bleibt, von außen auf sie blickt - hat er bereits in seinem Roman installiert.

Sprachrohr sein

So stehen in Graz vier Schauspieler zur Verfügung, um dieser Stimme ohne Gesicht (sie hat keines, laut Amis, nur ein Herz) eben dies zu geben: verschiedene Gesichter. Das passt zu den insgesamt vier Identitäten, die hier beim Zurückdrehen der Zeit auf der Bildfläche erscheinen. Nico Link, Raphael Muff, Tamara Semzov und Franz Solar laufen verkehrt über die Bühne, betätigen die Spülung, bevor sie sich aufs WC setzen, falten Kleidung auseinander und verteilen sie unordentlich im Raum. Sobald sie aber sprechen, stellen sie nicht den Protagonisten dar - sondern den Ich-Erzähler, sie leihen ihm ihre Stimme, ihr Gesicht.

Warum der Autor seinen Ich-Erzähler so konsequent auf Distanz zur Figur hält ist - wie der Wunsch, sprichwörtlich die Zeit zurückzudrehen - küchenpsychologisch leicht erklärt: Amis erzählt von einem NS-Arzt aus dem Team des Doktor Mengele in Auschwitz. Dessen monströse Verbrechen sind nur aus einer Perspektive der Abgrenzung zu schildern. Und so wird aus der Komik des verkehrten Alltags bitterster – ja nahezu unerträglicher – Sarkasmus, wenn die Erzählstimme etwa von "Onkel Pepi" Mengeles Wunderkräften schwärmt, die aus den entstelltesten Resten menschlicher Körper, wieder unversehrtes (wenn auch unterernährtes) Leben schafft …

Bis zum Hahnenschrei

Auch hier bewährt sich die Dramatisierung – und sie liefert damit mehr als nur einen Anhaltspunkt für die eingangs gestellte Frage nach dem Warum der Romanadaption. Martin Amis‘ brutale Pointe tritt in der gerafften Bühnenfassung umso deutlicher hervor. Zugleich wird die Stimme, die in ihrer Abgrenzung zur perversen (und daher nur in ihrer Verkehrung darstellbaren) Biografie dem Leser oder Publikum Projektionsfläche bietet, durch Menschen verkörpert: Menschen auf der Bühne zwar, aber eben Menschen, die sich, wenn sie dem gesichtslosen Erzähler ihre Stimme, ihr Gesicht geben auch als Menschen zu diesem Text zu verhalten scheinen.

In der deutschsprachigen Erstaufführung von "Pfeil der Zeit" wird nicht die Figur, die ein Schauspieler verkörpert zum Identifikationsangebot für die Zuseher, sondern der Schauspieler  selbst, wie er da steht als Mensch. Jennifer Weiß verantwortet dieses Wagnis als Dramaturgin, Andrea Simeon ist ihm mit einem verhaltenen Realismus in der Ausstattung begegnet, Victor Moser sorgt durch den bedrohlichen Sound des Abends dafür, dass uns die Böse Pointe nicht kalt erwischt.

Immer wieder lässt er Säuglingsgeschrei ertönen, denn dieses Schreien ist, so steht es im Roman, in allen Sprachen dasselbe. Es begegnet uns als Endpunkt dieser umgekehrten Geschichte und als ihr biblischer Hahnenschrei. Als Erinnerung an die Ermordung von Unschuldigen und Ungeborenen wie an das Leiden der Lebenden (der Opfer und auch der Täter). Ein Abend, der sickern sollte. Dafür findet er dieser Tagen wahrscheinlich einen guten Boden vor.

 

Pfeil der Zeit
von Martin Amis, deutsche Übersetzung Alfons Winkelmann
Regie und Bühne: Blanka Rádóczy, Bühnen und Kostüme: Andrea Simon, Dramaturgie: Jennifer Weiss, Musikalische Keitung: Victor Moser.
Mit: Nico Link, Raphael Muff, Tamara Semzov, Franz Solar.
Premiere am 24. Mai 2019
Dauer: 1 Stunde und 30 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus-graz.com

 

 

Kritikenrundschau

Teresa Guggenberger schreibt in der Kleinen Zeitung aus Graz (26.5.2019): Das Leben des Protagonisten beginne mit seinem Tod. Alles laufe verkehrt herum ab. Was lustig beginne, werde bald "bitterer Ernst". "Besonders stark" seien die Übergänge in Blanka Rädöczys Inszenierung. "Unheilvolle Musik, immer weniger erträgliches lautes Babygeschrei und flackernde Neonröhren" ließen schon früh Schlimmes ahnen. "Eindrücklich" spiele sich das vierköpfige Ensemble durch diese Szenenwechsel.

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