Maria Huppert und Isabelle Stuart

von Gabi Hift

Wien, 30. Mai 2019. Es beginnt mit einem Scherz: Beim Einlass hängt in der Mitte des blutroten Samtvorhangs ein goldener Rahmen, in dem ein Video von einem kleinen schwarz-weißen Hund läuft, der seinem Schwanz nachjagt. Er sieht aus wie Snipper, der Hund von "His Master's Voice". Und für die Endlosloops, in denen der Meister Robert Wilson einer immer wieder entwischenden Erkenntnis nachjagt, wird sich dann der Vorhang öffnen. Die zweite Referenz erschließt sich nur den gut Vorbereiteten: Gerade so ein Schoßhündchen war unter den Röcken Maria Stuarts versteckt, als sie zur Hinrichtung ging, und nachdem ihr Kopf, endlich, nach dem dritten Schlag, gefallen war, tauchte das Hündchen blutverschmiert unter dem roten Stoff auf. Der Meister und seine Königin, Wilson und Isabelle Huppert – die 1993 schon "Orlando" miteinander kreiert haben und 2006 "Quartett" von Heiner Müller – erschaffen nun die letzten Sekunden Maria Stuarts.

Maria and the Marys

Die Königin von Schottland steht weit entfernt, im Gegenlicht, hinter ihr erhebt sich ein Wilson-typischer gigantischer Rundhorizont, auf dem die Farben ineinander schwimmen, dämmriges Grau, rote Schlieren, bleiches Blau, ein Gemälde in ständiger Bewegung, das den Raum bis zum Weltall zu öffnen scheint. Sie trägt eine braunsamtene, mit Gold durchwirkte Robe, steht reglos, die Arme spitz angewinkelt wie ein Insekt, und erklärt, warum Mary gesagt hat, was sie gesagt hat. Mary ist eins von vier kleinen Mädchen, alles Marys, die ihr als Kammerjungfern mitgegeben wurden, als man sie als Kind nach Frankreich verschiffte, wo sie später den König heiraten sollte. Der Text, den Darryl Pinckney extra für diese Aufführung geschrieben hat, ist der Gedankenstrom, der in den letzten Sekunden vor dem Tod durch Maria Stuarts Kopf zieht.

MARY 3 560 LUCIE JANSCH uIsabelle Huppert als Maria Stuart © Lucie Jansch

Er enthält keinen Funken Verzweiflung oder Bedauern, es ist der Versuch hunderte große und kleine Vorkommnisse zu erklären: Tratsch-Geschichten, Intrigen, Morde, Alltagssorgen, die Last der Schönheit, Hass auf die Schwiegermutter. Immer wieder wendet sich Maria an die vier Marys, tut, als ob sie noch da wären, spricht vom Singen mit der Mutter, von den Ehemännern, von Kerker, Flucht, dem Thron von England, vom Katholizismus und der Wahrheit der Sterne. Je eindringlicher es wird, desto weniger kann man den Ereignissen folgen. So sprechen Verrückte auf einen ein, denkt man, aber dann wird einem bewusst, dass auch der eigene Gedankenstrom aus nie enden wollenden Versuchen besteht, Erklärungen für das Chaos der Existenz zu finden – ohne zu wissen, vor wem man sich rechtfertigt und wozu.

Kopf und Körper getrennt

Dieser Text ist ein genialer Konterpart zu Wilsons Bewegungschoreographie, die genau das Gegenteil tut: Sie zerreißt jeglichen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung. Isabelle Huppert bewegt sich wie eine Marionette, aber sie scheint nicht von einem menschlichen Marionettenspieler kontrolliert zu werden, sondern von einer rätselhaften Maschine, wie sie in Träumen regiert. "She is exceptional in my work because she can think abstractly", sagt Wilson über sie. Aber bei all den strengen Vorgaben für Blicke, Bewegungen usw. habe er niemals einem Schauspieler gesagt, was er denken solle. Und das führt zu dem Ungeheuerlichen, was man hier sieht: Isabelle Huppert ist ein vollkommenes Instrument, das gleichzeitig von zwei Künstlern gespielt wird – ihre Bewegungen werden von Wilson dirigiert, die Stimme und die Mimik von ihr selbst.

Ihr Kopf scheint buchstäblich vom Körper getrennt, kalkweiß liegt er auf der Halskrause wie auf einem Tablett: jener Kopf, der in wenigen Sekunden vom Rumpf abgehackt werden soll. Bei dem Parforceritt durch ein ganzes Leben wird ihr Gesicht von Verachtung verzerrt, von Hohn und Kleinmädchenspott, ihre Augen sind riesig und blinzeln nie, Schnellsprechergüsse brechen ihr aus dem Mund, sie grunzt, brabbelt in Zungen, es scheinen Dämonen zu sein, die aus dem vom Körper getrennten Kopf sprechen. Manchmal sieht das aus wie die Bilder auf Jahrmärkten, bei denen man von hinten sein Gesicht durch ein Loch stecken und ein Foto von dem perversen Mischwesen machen lassen kann, das dabei entsteht.

Wüst, kühl und kühn

Nach den Erzählungen über ihre Ehen, zu denen sie eine einsame Quadrille tanzt, folgt ein Intermezzo, in dem die Königin über den Wolken spaziert und aus dem Himmel die Stimme von Wilson – his master's voice – immer wieder fragt "Who am I?" und ihm das Lachen eines Kindes antwortet. Danach folgt der atemberaubendste Teil. Huppert läuft immer wieder schräg nach vor an die Rampe, beginnend mit einem Tanzschrittchen, auf das ein halbes Stürzen mit Dreschflegelarmen folgt, antwortet dabei einem Loop ihrer eigenen Stimme, spricht über den Kerker, läuft im Rückwärtsgang die Schräge wieder hinauf und wieder zurück nach vorne. Ihr Körper zerschneidet wieder und wieder den Raum zum Pulsieren der Musik von Ludovico Einaudi, bis man zusammen mit ihr in eine furiose Trance gerät.

MARY 5 560 LUCIE JANSCH uHuppert als Maria Stuart als Sisyphos © Lucie Jansch

Als Robert Wilson vor fünfzig Jahren in der Theaterszene auftauchte, schrieb ein Kritiker in Le Monde: "Nur zweimal innerhalb einer Generation kann ein Mensch hoffen, so viel Revolution in der Kunst zu erleben." Und Louis Aragon schrieb in einem offenen Brief an den schon verstorbenen André Breton: "Ich habe niemals etwas Schöneres gesehen solange ich lebe." "Mary said what she said" könnte sich mühelos in die großen Arbeiten von damals einreihen, der Abend ist perfekt, rätselhaft, wüst, kühl und kühn. Aber die Wirkung ist heute nicht mehr dieselbe wie damals. "Mary Said What She Said" löst nicht das Gefühl der Befreiung aus, wie zum Beispiel "Einstein on the beach". Das liegt aber nicht an Wilson, der seinen Visionen treu bleibt – und was mehr ist: Er hat auch immer noch welche! Es liegt schon gar nicht an der grandiosen, fast übermenschlichen Isabelle Huppert. Es ist eher so, dass einem Wilsons Stücke seinerzeit die Schuppen des verlogenen, gefühligen bürgerlichen Dramas von den Augen gebürstet haben und man in seine rätselhaften Welten eingetreten ist wie ins Vorzimmer einer großen neuen Freiheit. Aber weiter ist man, ist die Welt nicht gekommen. Und so ist ein Stück wie "Mary Said What She Said" nun nur noch eine Spielerei fürs Bewusstsein – wenn auch eine glänzende, eine großartige, aber das stimmt bei aller Begeisterung ein bisschen traurig.

Mary Said What She Said
Text: Darryl Pinckney, Musik: Ludovico Einaudi, Regie, Bühne, Licht: Robert Wilson, Kostüm: Jacques Reynaud.
Mit: Isabelle Huppert.
Premiere: 30. Mai 2019
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.festwochen.at

 

Kritikenrundschau

"Isabelle Huppert, man kann es nicht anders sagen, ist an diesem Abend eine Maschine", schreibt Annabelle Hirsch (über die Premiere des Abends in Paris) in der FAZ (31.5.2019). Huppert sei eine der wenigen Schauspielerinnen, die fähig und willens seien, Abstraktion zu spielen, habe Robert Wilson gesagt. "Und tatsächlich hat man hier den Eindruck, dass sie ausschließlich dazu da ist, das Material, die Farbe und den Pinsel für Wilsons minimalistisches Tableau abzugeben", so Hirsch: "Von ihr selbst, der mächtigen Frau, der Ikone, ist in dieser technisch perfekten, aber unterkühlten Frauenrolle nichts zu finden."

"Die Musik wie auch Wilsons perfekt minimalistische Inszenierung sind nur Beiwerk. Denn das Publikum ist gekommen, um Königin Isabelle zu huldigen", schreibt Norbert Mayer in Die Presse (1.6.2019). Und man nehme dieser Schauspielerin, die oft als Komödiantin entzückt, das große Welttheater ab. "Sie skizziert Marias bewegtes Leben erbarmungslos im Gedankenstrom, mit grellem Lachen, in grausamer Wiederholung, mit stilisierten Bewegungen, ruhelos, quer über die Bühne taumelnd. Letzte Gedanken gelten dem Sohn, der als King James Queen Elizabeth nachfolgt. Der werde sie vergessen, klagt Maria. Das ist nach diesem Furioso kaum zu glauben."

"Pinckneys Text (...) glänzt mit Poesie (...), Witz (…) und einem Schuss Pathos", schreibt Christina Böck in der Wiener Zeitung (31.5.2019): "All das fließt durch Huppert in bemerkenswertem Facettenreichtum." Was Wilson, Enaudi und natürlich Huppert gelinge, sei "eine Art Hommage an eine Schauspielkönigin: Denn noch Stunden später hat man Hupperts stürmische Sprachkunst im Ohr - selbst, wenn man des Französischen nicht überragend mächtig ist."

Der Weltstar Isabelle Huppert trifft auf den Weltgeschichtsstar Maria Stuart, "das ist kein Rendezvous von Schauspielerin und Figur, sondern ein Aufeinandertreffen zweier Mythen", schreibt Eberhard Spreng im Tagesspiegel (1.6.2019). "Es hätte ein Verdichtungsraum für Jahrhunderte der Emanzipation werden können, wenn Bild, Text und Musik die Schauspielerin besser unterstützen würden. So ist es eine theatrale Installation, die sich am Text abarbeitet und sich vom Soundtrack überfluten lässt."

"Hupperts Darstellung der Maria Stuart ist atemberaubend", schreibt Theresa Luise Gindlstrasser in der Welt (1.6.2019). "Mit überaufrechtem Rücken und manieriert positionierten Armen. Die stoische Körperlichkeit steht in einem scharfen Kontrast zum galoppierenden Mundwerk. Angetrieben durch die Musik von Ludovico Einaudi, der die Streicher düster vibrieren lässt, entsteht eine massive Spannung." Der "kunstfertige Theaterabend" sei "dieser Diva zugedacht".

"Es ist eine jener klinisch-kühlen Abstraktionen, mit denen Wilson dem Theater das Weltbebildern und den Menschendarstellungsunsinn austreibt. Darin zählen allein der Rhythmus der Sprache, Raum- und Körperwirkungen. Inhalt wird hier über die Form gemacht", schreibt Uwe Mattheis in der taz (4.6.2019). "So arbeitet Wilson nahezu unverändert seit gut vier Jahrzehnten, aber man muss neidlos konzedieren, dass das immer wieder aufs Neue spannend ist." Isabelle Huppert gelinge, "was nur wenige Menschen im Theater an ihrer Stelle packen würden", dem strengen formalen Gerüst Leichtigkeit und eine Freiheit im Ausdruck abzuringen. "Huppert und Wilson drehen im Theater am großen Rad, treiben seine Repräsentationsmittel auf die Spitze, bis sie der Welt wieder fremd werden."

 

 

Kommentare  
Mary Said What She Said, Wien: Kitschmusik
Wie kann man nur solche Kitschsosse als Musik deklarieren? Und dem armen Zuhörer zumuten? Man mag vom Wilsonschen Lebendmarionettentheater ja halten was man will, aber das hat er nun wirklich nicht nötig.
Mary said what she said, Hamburg: altmeisterlich
In Trippelschritten arbeitet sich Isabelle Huppert nach vorne an die Rampe. Das ist symptomatisch für den kurzen Abend: Sehr statisch ist „Mary said what she said“ angelegt, mehr Installation als Theater. Im Mittelpunkt stehen die Lichtregie und der lange, assoziativ mäandernde Gedankenstrom, den Darryl Pinckney der historischen Figur Maria Stuart, Königin von Schottland, in den Mund legt.

Untermalt von Ludovico Einaudis Musik arbeitet sich Isabelle Huppert durch einen sprunghaften Text. Mantraartig beschwört sie immer wieder ihre vier Kammerzofen, die ebenfalls alle Mary heißen. Sprunghaft wechseln die Themen, Privates steht neben Politischem. Mal rappt Madame Huppert fast so wie die Jungs aus der Banlieue, mal bricht sie in hysterisch-gekünsteltes Lachen aus. Ihre Bewegungen sind stehts minimalistisch, fast wie bei einer Marionette, ganz so wie man es in Robert Wilsons Regie-Arbeiten schon sehr, sehr oft in seinen Spätwerk-Inszenierungen an Claus Peymanns Berliner Ensemble gesehen hat.

Nach einem kurzen, sehr kitschigen Intermezzo mit Nebelwallen und Kinderstimme vom Band kehrt Isabelle Huppert für ein kurzes Finale zurück auf die Bühne. Sie tigert nun wie ein Raubtier im Zoo hinter seinen Gitterstäben quer über die Bühne: Zigfach legt sie dieselbe Strecke zurück. Streng hält sich Huppert an die minimalistische Bewegungschoreographie von Wilson, bevor die letzten Worte verhallen und der Star mit viel Beifall und mit gezückten Handys gefeiert wird.

Inhaltlich und szenisch hat der Abend, der im Mai im Pariser Odeon Premiere hatte, wenig zu bieten. Altmeisterlich spult Robert Wilson bewährte Regie-Konzepte ab, die vor Jahrzehnten avantgardistisch und aufregend waren, und hat dafür eine zugkräftige Star-Schauspielerin an seiner Seite, mit der er schon 1993 in „Orlando“ zusammenarbeitete. Sie einmal live auf der Bühne zu erleben, ist der Mehrwert und Glamourfaktor dieses Abends, der schon bei den Wiener Festwochen ein Publikumsmagnet war und auch am koproduzierenden Thalia Theater drei Mal für ein volles Haus sorgte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/09/28/mary-said-what-she-said-thalia-theater-hamburg-kritik/
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