Der nicht so wilde Westen

von Jan-Paul Koopmann

Bremerhaven, 1. Juni 2019. Nach Amerika ging man damals, um sein Glück zu machen – erzählt das Stück – und wurde dann von Gangstern angeschossen. Manchmal sind es auch die eigenen Leute, die auf Ureinwohner schießen. Dass insgesamt jedenfalls viel geschossen wird, merken auch heutige Amerikareisende selbst im Hotel, weil in der Tageszeitung ständig irgendwer irgendwen umbringt: im schlimmsten Fall die Kinder der Waffenverrückten ihre Mitschüler*innen an der High School. Warum eine gute Geschichte in der Wahrnehmung der Mehrheit "immer eine Geschichte der Gewalt" sei, fragt sich Anne Jelena Schulte zum Anfang ihres Stücks "Nach Amerika" aus dem Off. Und das ist eine wirklich gute Frage, auch wenn die Inszenierung im Folgenden wenig zu ihrer Beantwortung beiträgt. Zumindest geht es aber auch hier viel um Waffen.

Reise in die Geschichte

Dabei klang der Ansatz so unaufgeregt: Schulte hat Historiker*innen des Bremerhavener Auswandererhauses auf einer Reise nach Baltimore, Cincinnati und Washington D.C. begleitet. Den Biographien deutscher Auswanderer hat man hier nachgeforscht: für das stetig wachsende Archiv des Migrationsmuseums, aber eben auch als Material für das nun uraufgeführte Theaterstück "Nach Amerika". Um den mittelmäßig entschlossenen Goldsucher James geht es da, wie er auf dem Weg nach Kalifornien kurz Farmer wird und seine Verlobte vergisst, um Mr. Alfons aus Bayern, der den Schokoweihnachtsmann in die USA gebracht hat – und um einen Sohn jüdischer Holocaustüberlebender, Mr. Strauss, der zurück nach Deutschland will, um "Mein Kampf" zu lesen und "das Böse" zu verstehen.

NACH AMERIKA1 560 Heiko Sandelmann uHenning Bäcker, Isabel Zeumer, Max Roenneberg © Heiko Sandelmann

Antje Thoms und Anne Jelena Schulte inszenieren diese Geschichten inmitten der Ausstellung des Auswandererhauses. Im Nachbau vergitterter Wartesäle von Ellis Island sitzt das Publikum und soll wohl ein Gefühl dafür bekommen, wie Migranten in New York damals auf Einreiseerlaubnis warten. Weiter geht es im Grand Central Terminal, wo zwischen Marmor, Protz und Messing das tatsächliche Ankommen in der Neuen Welt zum Thema wird. Das Stück übernimmt die symbolische Bedeutung dieser Orte vom Museum, die erzählten Geschichten spielen allerdings in Kalifornien, München oder weit draußen in der Prärie.

Inhaltlich geht es streng dokumentarisch zu: Briefe werden vorgelesen, ein Tagebuch, aus der Zeitung … Immer wieder fahren die Akteur*innen aus der Rolle und grübeln, was noch wichtig sein könnte für ihre Geschichten. Szenenspiel ist hingegen rar und erweist sich leider ausgerechnet da als Fallstrick, wo es den historischen Stoff auflockern will.

"Mein Kampf" enttäuscht

Es ist etwa wirklich ganz lustig, in welchem Tempo Max Roenneberg als Goldsucher James in Cowboystiefeln, -hut und Unterhemd sein Tagewerk nacherzählt: "Mais geschält, Zaun gebaut, Mädchen angeguckt". Auch Isabel Zeumer beweist durchaus Witz, wo sie als Mr. Strauss ihre Enttäuschung über Hitler raus lässt. "Ich hatte mich auf Denkfehler gefreut", sagt sie, und dann war "Mein Kampf" nur ein dummes Buch – nicht mal gut geschrieben.

NACH AMERIKA2 560 Heiko Sandelmann uMax Roenneberg, Isabel Zeumer, Henning Bäcker © Heiko Sandelmann

Es stimmt ja beides: Hitler konnte nicht schreiben und die Pampa ist heute noch öde. Aber gerade weil man das nun wirklich schon vorher wusste, geht der Witz auf Kosten der Figuren, die das im Stück erst lernen müssen und zu den interessanteren Fragen gar nicht mehr vorstoßen. Mr. Strauss' doppelte Obsession (die mit Hitler und die mit der Logik) fällt genauso unter den Tisch wie James' Träume und Wünsche. Allein ihr Scheitern gespielt zu sehen und vom Rest höchstens zu hören, wird den Figuren nicht gerecht.

Die Spannungen von Migrationsgeschichten zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Naivität und Pragmatismus sind mitsamt ihrer Ambivalenzen in der Dauerausstellung genau dieses Museums zigfach dokumentiert. Das Material mit Schauspiel zu konfrontieren wäre reizvoll – die Überbetonung der komischen Momente ist es nicht.

An der Grenze

Im Text hätte mehr gestanden. Anne Jelena Schulte fragt entlang der drei Auswandererbiographien grundsätzlich nach politischen und identitären Territorien und lässt darin auch ihre eigene Geschichte einfließen. Die Westberlinerin erinnert sich an die heute berühmten Schilder ihrer Kindheit: "You are leaving the American Sector". Die Gemengelage aus Kaltem Krieg und Freiheit – allgegenwärtigen Soldaten, die symbolisch für Frieden stehen – durchdringt sie präzise in einer Sprache mit unerwartet halluzinatorischer Wucht. Diese fluiden deutsch-amerikanischen Sektorgrenzen tauchen später wieder auf, als die Rahmenhandlung auf den authentisch-deutschen "Christkindlmarkt" von Baltimore führt. Auch hier heißt es, unter veränderten Vorzeichen: "You are leaving the American Sector." Eben das wären Identitätsfragen, denen Schauspiel mit Lust Erkenntnisse entlocken könnte. Wenn man sie denn offen stellen würde, anstatt das alles halt mal so vorzulesen.

 

Nach Amerika
Von Anne Jelena Schulte
Regie: Antje Thoms und Anne Jelena Schulte, Technische Leitung: Ralf Zwirlein, Requisite: Ralph Wittmar, Kostüme: Viola Schütze.
Mit: Elif Esmen, Max Roenneberg, Isabel Zeumer, Henning Bäcker.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.stadttheaterbremerhaven.de

 

Kritikenrundschau

"Bei der 75-minütigen Inszenierung blieben nicht nur die Zeiten in Bewegung, holte Regisseurin Antje Thoms gemeinsam mit der Autorin aus dem Text heraus, was herauszuholen war", schreibt Ulrich Müller in der Nordsee Zeitung (4.6.2019). "Die witzigen Stellen wurden vom Ensemble ausgekostet."

 

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