Auf Nimmerwiedersehen

von Christian Rakow

Berlin, 11. Juni 2019. Wer auf das malerische Küchenbühnenbild im Foto unten schaut, mit seinen blütenfrohen Tapeten samt Meisen im Geäst, der möge sich vorstellen, dass es geraume Zeit an diesem Abend im Theatersaal nach Gas riecht, dass fiese Feedbacks aus der Tonspur über die Szenerie fiepen, dass Sirenengeheul und anderes Gemeines am Gehörgang kratzt. Denn die auf den ersten Blick seidig zarte Ansicht ist auf Abgründigkeit und Schmerz angelegt.

Doppeltes Wunschkonzert

"De Living / Das Wohnzimmer" heißt diese eindrückliche, weitgehend stumme Kreation von Ersan Mondtag, die einen Monat nach der Premiere am NT Gent im Berliner HAU zur deutschen Erstaufführung kommt. Mit Anleihen an Franz Xaver Kroetz' sprachloses "Wunschkonzert" (von 1973) schildert Mondtag die letzten Momente im Leben einer Frau: eingefallenes Ausharren am Küchentisch, Griff nach der Flasche, resignatives Hocken an der Zimmerwand, dann Selbstmord mit dem Kopf im Gasherd (ein Ende, das eher an Heiner Müllers Ophelia denken lässt als an Kroetz, bei dem es noch ein Pillentod war).

Gute zwanzig Minuten folgt man diesem gemessenen, statuarischen Ablauf, bis die Leiche minutenlang im Herd hängt. Dann erscheint in der linken gespiegelten Raumhälfte eine Doppelgängerin der Frau, und das Geschehen hebt scheinbar von neuem an, wird zurückgespult und vor, erscheint in Variation. Doris Bokongo Nkumu und Nathalie Bokongo Nkumu, die hier in ausgesuchter Langsamkeit performen, sind Zwillinge. Dass sie in der belgischen Tanzszene aktiv sind, deutet sich zur Mitte des Abends an, wo sie in beiläufigen Choreographien ihre Bewegungen synchronisieren: beim Abwasch, beim Schluck aus der Flasche, beim Nachhören eines Wunschkonzerts im kleinen Kofferradio.

DeLiving1 560 Birgit Hupfeld xDoris Bokongo Nkumu und Nathalie Bokongo Nkumu als Protagonistinnen von "De Living" © Birgit Hupfeld

Die Frauen hängen in der Zeitschleife, in der Mein-täglicher-Selbstmord-Schleife, so scheint es. Einmal erklingt ein Wunschkonzert-Song im Radio rückwärts, ein andermal vorwärts: "Ain't no sunshine" von Bill Withers. "Gesucht die Lücke im Ablauf, das Andere in der Wiederkehr des Gleichen", möchte man mit Heiner Müllers "Bildbeschreibung" sagen. Und tatsächlich, auch Ersan Mondtag sucht in seiner Bildstudie die Lücke. Das Schachbrettmuster auf dem Küchenboden – eine Popreferenz – darf man als Symbol des Sprungs in ein anderes Raum-Zeit-Kontinuum deuten. Eine der Schwestern wird im Finale die Grenze zwischen beiden Räumen überschreiten, ein Wandbild abhängen und den Saal verlassen. Und dieser Akt hat große Signifikanz.

Depression als Effekt der Kolonialgeschichte

Ähnlich wie Kroetz‘ "Wunschkonzert" ist auch Mondtags strenge Etüde politisch orientiert. An den Küchenwänden beider Raumteile hängen Bildnisse des belgischen Königs Leopold II. (1835–1909), der für die systematische Plünderung des Kongo in der Kolonialzeit, für die "Kongogräuel" und den Tod von Millionen Kongolesen verantwortlich ist (leider versäumt es das HAU, dem Gastspiel einen Hinweis auf diesen Kontext seinen Programmzetteln beizugeben). Die Depression der Schwarzen Protagonistin liest sich vor diesem Hintergrund als Effekt der kolonialen Geschichte. Das titelgebende "Wohnzimmer" ist sinnbildlich aufzufassen, als das Erbe der Ausbeutung, das weiter bewohnt wird. In der rechten Bildhälfte wird dessen Machtzusammenhang bloß gelitten, das Opfer/der Selbstmord schreibt sich wieder und wieder fort.

Weg mit Leopold

In der linken Bildhälfte aber formiert sich ein Aufbegehren. Ein kolossaler Pferdekopf, der einem Reiterstandbild Leopolds nachempfunden ist, wird zum Finale hin umgestoßen. Die sich emanzipierende Heldin verlässt den Raum, verlässt das Schicksalsraster, tritt zur Zwillingsschwester hinüber, zerrt sie aus dem Herd. Sie liest am Tisch einen Brief im roten Couvert (ein rätselhaftes Zeichen), verlacht das Leopold-Porträt und entfernt es. Auf Nimmerwiedersehen. Die Lücke im Ablauf. So endet dieser diskrete Abend mit einem Bild des Ausstiegs aus dem kolonialen, rassistischen Erbe Europas.

De Living / Das Wohnzimmer
von Ersan Mondtag
Regie: Ersan Mondtag, Dramaturgie: Eva-Maria Bertschy, Wissenschaftliche Mitarbeit: Prof. Benigna Gerisch, Komposition und Sounddesign: Gerrit Netzlaff, Radiostimme: Simon Turner, Kostüm- und Bühnenbild: Ersan Mondtag, Schauspielcoach: Oscar Van Rompay, Bewegungscoach: Stella Höttler, Lichtdesign: Dennis Diels, Regieassistenz: Liesbeth Standaert, Produktionsleitung: Sebastiaan Peeters, Technik / Stage Manager: Oliver Houttekiet, Ton: Raf Willems, Bart Meeusen, Licht: Eva Dermul, Set Planung: Tony Morawe, Joris Soenen, Bühnenbau / Requisite: Thierry Dhondt, Flup Beys, Pierre Keulemans, Freddy Schoonackers, Michiel Moors, Bühnenmalerei: Luc Goedertier, Joris Soenen, Eva Devriendt, Kachiri Faes, Kostüm: An De Mol, Isabelle Stepman, Mieke Van der Cruyssen.
Mit: Doris Bokongo Nkumu, Nathalie Bokongo Nkumu.
Premiere am 15. Mai 2019 am NT Gent, Deutschland-Premiere am 11. Juni 2019 am HAU Berlin
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.hebbel-am-ufer.de

 

Kritikenrundschau

Sascha Ehlert schreibt in der taz (13.6.2019): "De Living" sei eine "kleine Arbeit" von Mondtag, zwei Performerinnen, "ein Bühnenbild, eine Soundkulisse, kein Text". Inhaltlich allerdings "könnten die Fragestellungen kaum größer sein". Der Abend erzähle "vor allem über das Bühnenbild und über die Soundkulisse". Das "Einbinden des Geruchssinns", mal rieches es nach Gas, mal nach Nagellack, kreiere eine "differenzierte Erfahrung". Aufgrund des "nahezu kompletten Verzichts auf Sprache" lese man diesen Abend anders, je nachdem, "welchem der vielen Zeichen man am meisten Gewicht" zuspreche. "Und natürlich: je nachdem, welche man erkennt." "Schlicht" sei nur das Ende, denn einfach hinausspazieren aus den "Nachwirkungen Jahrhunderte andauernder Unterdrückung und dem Kreislauf des Ewiggleichen" könne niemand.

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