Der Verein - Hobby als Widerstand - Theater Oberhausen
Publikumsumarmung
von Sascha Westphal
Oberhausen, 13. Juni 2019. Der Blick aus der zehnten Etage ist atemberaubend. Vom Oberhausener Bahnhof direkt um die Ecke, reicht das Wohn- und Geschäftshaus an der Friedrich-Karl-Straße über große Teile der Stadt bis nach Essen. In einer seiner 60 in den späten 1950er Jahren entstandenen Einraumwohnungen beginnt –zumindest für einen Teil des Publikums – das Ensembleprojekt "Der Verein – Hobby als Widerstand". Das Zimmer ist bis auf einen Fernseher und einen DVD-Player leer. Hier erzählt Mervan Ürkmez von einem Bild, das er seit einiger Zeit mit sich herumschleppt. Auf ihm ist eine einzelne Frau in einem von Pastellfarben geprägten Raum zu sehen, eine chinesische Königin, die als allerletzte ihres Adelsgeschlechts übriggeblieben ist. Die Bilddetails, die Ürkmez in einem sanften, von einer zarten Melancholie erfüllten Ton vor dem inneren Auge der Zuhörerinnen und Zuhörer nach und nach heraufbeschwört, sind vielleicht sogar noch eindringlicher als der Blick über die Stadt.
Wider die atomatisierten Einsamkeiten
Das von Ausstatter und Regisseur Demian Wohler initiierte Projekt gleicht tatsächlich der Aussicht aus der zehnten Etage des Hochhauses. Die einzelnen Details und Geschichten, die einem Banafshe Hourmazdi, Emilia Reichenbach und Mervan Ürkmez im Lauf des fast zweieinhalbstündigen Abends präsentieren, bilden ein Panorama, in dem sich längst nicht alles ineinanderfügt, in dem aber alles seinen Platz hat. So auch die chinesische Königin in ihrem verfallenden Palast in der Wüste Gobi. Ihr Schicksal steht stellvertretend für eine Form der gesellschaftlichen Vereinzelung, gegen die "Der Verein" und alle seine Mitglieder ankämpfen.
Vereinsmeier, Freiraumkämpfer: Mervan Ürkmez, Emilia Reichenbach © Katharina Kemme
Alle, die schließlich nach dem dreigeteilten Prolog – ein Teil des Publikums erlebt ihn in der Wohnung, ein zweiter in der "Subway"-Filiale um die Ecke und ein dritter in der eigentlichen Spielstätte, einem kleinen Ladenlokal im Parterre des Hochhauses – in dem zum Vereinsheim umgebauten Geschäft ankommen, sind Teil jenes gesellschaftlichen Zustands, den Andreas Spechtl, der Sänger der Band Ja, Panik, einmal so beschrieben hat: "Atomisierte Einsamkeiten im Westen, Osten, Süden, Norden." Auch wenn der Song "DMD KIU LIDT", aus dem diese Zeile stammt, nicht in "Der Verein" erklingt, könnte er doch der Soundtrack dieses Projekts sein.
Freiräume jenseits des kapitalistischen Alltags
25 Einzelne kommen für ein paar Stunden auf engstem Raum zusammen, trinken gemeinsam Rotwein oder Wasser, essen vegane Currywurst mit Pommes, hören zu, reden miteinander und erleben ein Gefühl von Zugehörigkeit. So einfach lässt sich dieses Projekt beschreiben, das die Grundidee des Theaters in sein Zentrum stellt: das gemeinsame Erleben. Auf den ersten Blick entfernt es sich weit von dem, was wir gemeinhin unter Theater verstehen. In ihrer Eröffnungsrede verkündet die "Vereinsvorsitzende" Banafshe Hourmazdi unter anderem: "Und dann haben wir unsere Professionalität abgelegt." Das Theater muss das Theater überwinden, um die Grenze zwischen Spielern und Publikum einzureißen. Also verausgabt sich die Schauspielerin erst einmal, läuft zwischen den Tischen hin und her, springt von der nur ein paar Zentimeter hohen Bühne und hüpft wieder zurück. Und das gleich mehrmals. Ihre Aufregung und Anspannung ist so greifbar wie ihre Begeisterung und Energie.
Juble und tanze: Mervan Ürkmez, Emel Aydoğdu, Banafshe Hourmazdi, Emilia Reichenbach © Katharina Kemme
Jenseits der "abgelegten Professionalität" liegt die Leidenschaft, das Hobby, der Versuch, den Verwertungszwängen des kapitalistischen Alltags zu entkommen. Auch das kann die Wirklichkeit eines Vereins sein. Davon erzählen die Recherchen des Ensembles, bei denen kleine Interviewfilme entstanden sind, kurze Porträts von Oberhausener Vereinen wie den "Pearls", dem 1. Oberhausener Cheer & Dance e.V., oder die Oberhausener Ortsgruppe des "Deutschen Doggen Clubs 1888 e.V.". Die Videobilder vermitteln einen Eindruck vom Wirken dieser Gruppen, das nichts mit spießiger Vereinsmeierei zu tun hat. Sie fangen Freiräume ein, wie ihn auch Wohler und seine Mitstreiter schaffen wollen.
Kabinettstückchen der Sprechkunst
Es gibt sie eben doch, die Welt jenseits der "atomisierten Einsamkeiten". Davon zeugen die porträtierten Vereine ebenso wie die Reise, die das Team nach Zaporizhia, der ukrainischen Partnerstadt von Oberhausen, unternommen hat. Die Gespräche, die sie dort mit Kosaken und mit Kindern geführt haben, zeugen von der widerständigen Macht von Hobbys und Vereinen. In einer Region, die ganz unmittelbar vom Konflikt im Donbass geprägt wird, geht von der Gemeinschaft, die Vereine erschaffen, eine besondere Kraft aus.
Das Theater als Verein zu denken, als ein Hobby, das Spielende und Zuschauende teilen, erweist sich als faszinierendes und fruchtbares Experiment. Der Verzicht auf "Professionalität" ist nicht mit einem Verzicht auf Virtuosität gleichzusetzen. Die stellen Banafshe Hourmazdi, Emilia Reichenbach und Mervan Ürkmez im Lauf des Abends immer wieder unter Beweis, etwa wenn Emilia Reichenbach auf eine ungeheuer plastische und berührende Weise das Phänomen des Rattenkönigs beschreibt und erklärt oder wenn Mervan Ürkmez die Dystopie einer vom Klimawandel und vom Rechtsruck gezeichneten Welt im Jahr 2119 vorträgt. Aber der freie, gänzlich ungezwungene Rahmen, in dem diese kleinen Kabinettstückchen der Sprechkunst präsentiert werden, macht einen Unterschied. An diesem Abend rufen sie anders als in einem Theaterraum nicht nur Bewunderung hervor. Sie schaffen tatsächlich ein Gefühl von Zugehörigkeit. Das Theater umarmt das Publikum und wird von ihm umarmt.
Der Verein – Hobby als Widerstand (UA)
von und mit Emel Aydoğdu, Andrea Barba, Martin Engelbach, Banafshe Hourmazdi, Elena von Liebenstein, Eva Lochner, Emilia Reichenbach, Mervan Ürkmez, Demian Wohler und Gästen.
Premiere am 13. Juni 2019
Dauer: 2 Stunden 25 Minuten, keine Pause
www.theater-oberhausen.de
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Vielen Dank für diese sehr schöne Kritik!
Es war uns eine Freude.
Denn das war mal eine Theaterform, in der ich mich als Zuschauer richtig wohl gefühlt habe. Es wurde gemeinschaftlich gefreut und gestaunt, was das Ensemble skurriles als auch beachtlich nachahmenswertes unter der Rubrik "Verein" aufgespürt hatte. Es gelang dem kleinen Projekt-Ensemble, v.a. der "Vorsitzenden" Banafshe Hourmazdi mit viel Humor, Esprit und Schwung das Theaterpublikum selbst in verschiedene Vereins-"stimmungen" mitzunehmen. Genau solche Projekte könnten die emotionale Bindung des Oberhausener Publikums an sein Stadttheater stärken!