Die schwebende Schwere

von Andreas Wilink

Bochum, 15. Juni 2019. Der Geist spricht nicht mit Hamlet. Er spricht aus ihm. Hamlet im Dialog mit sich selbst. Sein vielfach wiederholtes "Du bist hier" wird zur um Bestätigung ringenden Selbstbefragung. Hamlet, die wund laufende Denkmaschine. "Mein Gehirn ist eine Narbe", sagt er mit Heiner Müller, aus dessen knappen Stückseiten hier im Schauspielhaus Bochum, das gegenüber vom William-Shakespeare-Platz liegt, einiges dem Text beigefügt wird.

Totale existentielle Krise

"Das Drama der ansteckenden, nahezu universellen Selbstentfremdung", so Stephen Greenblatt in seiner Studie Hamlet im Fegefeuer, schildert die totale existentielle Krise. Keinem ist zu trauen. Keiner traut sich selbst. Alles aus dem Lot. Alles in Auflösung, augenfällig auch dadurch, dass Johan Simons zwei Wesen mit offener Identität ins Spiel bringt: "Abgesandte, Totengräber, Clowns"; Kampfgirl Jing Xiang als Totengräber, Clown und Abgesandte, ist die eine, die wunderseltsame Kindfrau (Ann Göbel) und Pop-Prinzessin, wie Jane Birkin sie einst war, die andere, die kaum mehr als "Er ist allein" sagt und Phantom- und Spiegelbild jeder weiteren Person sein könnte. Nicht zuletzt das von Ophelia.

Hamlet 8 560 c JU BochumKampfgirl, Abgesandte, Totengräber, Clown: Jing Xiang © JU Bochum
Die 'reale' Ophelia (Gina Haller, eingewandert aus Shakespeares Geisterreich – eigensinnig, aufsässig, feministisch, ghettogestählt und ihrem Partner absolut gewachsen) wiederum hält rührende Zwiesprache mit Hamlet und assistiert ihm bei seiner Vaterbeschwörung. Da würgen dann zwei Besessene in einem Exorzismus mit schartiger Stimme und kobolzendem Gestus die Bluttat am König durch dessen Bruder Claudius aus. "Hamlet" – ein Studiengang in Physiologie.

Balance und Quintessenzen

Aber, Halt! Zurück zum Anfang. Zunächst reiht sich auf der Bühne frontal das wunderbare Ensemble, tritt einer nach dem anderen ab und nimmt in der ersten Reihe Platz: Einer / Eine bleibt übrig und spricht vom Vater. Über das kreideweiße Feld, den Kampfplatz, hat Johannes Schütz eine Balkenkonstruktion gehängt, an der ein matt leuchtender Ballon und auf der Gegenseite ein großes kupfernes Rechteck in Bewegung sind. Beide Gewichte halten sich wie bei einem Mobile in der Schwebe. Variablen in einem Spiel mit unbekannten Größen, das sind Shakespeares Figuren: Hamlet – ein Balanceakt. Hamlet – ein Sturz ins Leere. Aus dem Hintergrund sirrt oder röhrt, stanzt und klirrt es aufrührerisch.

Hamlet 16 560 c JU BochumBurschikos, kess, antifleischlich: Sandra Hüller als Hamlet, hinten: Mercy Dorcas Otieno als Gertrud © JU Bochum
Als Partitur auch behandelt Sandra Hüller – ganz bei sich und zugleich im reflektierten Selbstverhältnis die Quintessenz der Figur darstellend – den sich durch sie hindurch verjüngenden Text, den sie im Reden zu verfertigen scheint. Sie singt und sagt ihn direkt und gelöst, staunend, sanft und sinnend, verträumt flüsternd, ruppig baritonal grollend, im Schaulauf für Dritte, burschikos und kess. Sie ist Hamlet, der Antifleischliche und Reine, der Verwesung, Begierde, Lust und Völlerei widerwärtig findet. Ist der Wittenberger Student und Protestant, der den Triumph des Geistes über die Materie verkörpert und das Symbolische über das Reale stellt. Man meint, Hüller bedürfe keinerlei Kraft, es sei kein Aufwand dabei, sie spräche unter freiem Himmel.

Chiffre und Geschlecht

"Remember me", fordert der gemordete Vater vom Sohn. Es ist die Bitte einer ruhelosen Seele, gerichtet an den Lebenden, ihrer zu gedenken. Mahnung, Drohung und mehr Appell, ihn im Gedächtnis zu behalten, als ihn zu rächen. Hamlet ist Chiffre: Hüller, in grauer Hose und schwarzem Pulli, lässt nicht einen Moment an geschlechtliche Festlegung und Zuordnung denken. Unerheblich, sich damit zu beschäftigen – ebenso wie mit dem Abhandeln des Finales – dem Gift, den Degen, dem großen Sterben. Das erledigt eine Erzählerin (Ann Göbel) in nüchterner Mitteilung. Fünf Tote liegen am Rande. Das ist, was zählt. Was soll uns der Plot! Es gibt wichtigere Fragen und packender zu gestaltende Situationen.

Hamlet 23 560 c JU BochumKonstantin Bühler, Mercy Dorcas Otieno, Stefan Hunstein, Ulvi Teke, Bernd Rademacher, Dominik Dos-Reis © JU Bochum

Grandios, wie Johan Simons diese sich organisch entwickeln lässt: wenn Hamlet sich an die Mutterbrust (der divahaft sonoren Mercy Dorcas Otiero) schmiegt und sich greinend, schmusend, albernd in die Aggression steigert; wenn Hamlet und Laertes (der furios präsente Dominik Dos-Reis) sich wechselseitig mit der Parole "Fang an" zum Kampf hochputschen; wenn "Die Mausefalle" sich als jäh trillernde Pantomime entbändigt und Claudius (Stefan Hunstein) sich gleich einem todeswilligen Tier in seinen Pelzmantel verkriecht; wenn in der Totengräberszene einige der zahllosen Stahlkugeln, die außerhalb des Karrées liegen, wie zum Zen-buddhistischen Billard ins Spiel rollen.

Anmut und Befremden

Unbefangen, informell, ja, kinderleicht, als verlöre Schwermetall durch chemisches Zutun oder durch Alchemie sein stoffliches Gewicht, erzählt Simons das Drama ohne Druck und Drang. Die bekannten Sentenzen und irre klugen Paradoxien hören wir wie zum ersten Mal. "Hamlet" – eine Offenbarung. Jedes Zeremoniell ist aufgehoben. Es bleibt das Ritual in der Rahmung einer artifiziellen Installation. Die Inszenierung wagt es, zu tanzen mit Irritation und Widersinn, Verrat und Verlust, Spaß und Spott, Narretei und Drôlerie, Tod und Verzweiflung. So gewinnt sie Schönheit, Anmut und Befremden, graziöse Wucht, uneindeutige Zeichenhaftigkeit, Tiefe und Klarheit.

Fortinbras (Mourade Zeguendi), der anfangs türenschlagend den Bühnenraum verließ, kehrt nach Hamlets Schweigen zurück auf das Schlachtfeld und beklagt (auf Französisch) die Welt, wie sie sich ihm darbietet. So schließt sich ein Kreis und die zwingend konsequente, beglückende erste Saison von Johan Simons' Bochumer Intendanz: von Feuchtwangers "Jüdin von Toledo" zu "Hamlet" – in einem Friedhofsbild.

Hamlet
von William Shakespeare
Deutsche Übersetzung von Angela Schanelec und  Jürgen Gosch, mit Auszügen aus "Die Hamletmaschine" von Heiner Müller
Regie: Johan Simons, Textfassung: Jeroen Versteele, Bühne und Kostüme: Johannes Schütz, Musik: Mieko Suzuki, Dramaturgie: Jeroen Versteele.
Mit: Konstantin Bühler, Mercy Dorcas Otieno, Dominik Dos-Reis, Ann Göbel, Gina Haller, Sandra Hüller, Stefan Hunstein, Bernd Rademacher, Mieko Suzuki, Ulvi Teke, Lukas Tobiassen, Jing Xiang, Mourade Zeguendi.
Premiere am 15. Juni 2019
Dauer: 2 Stunden, 30 Minuten, eine Pause

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

"Hüller mache ihre Sache großartig: Hamlets Brillanz, seine intellektuelle, wenn auch leider nicht tatkräftige Überlegenheit könnten nicht besser herausgearbeitet sein", schreibt Martin Krumbholz in der Südddeutschen Zeitung (18.6.2019). Der komplexe Text entfalte eine Widerstandskraft, aber es tun sich Widersprüche auch auf. Hamlets Auseinandersetzung mit Laertes bleibe ein Scheingefecht, "und so ist es auch inszeniert: Das Schlussbild wird nicht ausgeführt, sondern lediglich erzählt." Aller Einwände ungeachtet habe der Abend wunderbar humorvolle Momente, und darin liege Simons' Charme. Fazit: "Der Zusammenprall der relativ idealistischen Deutung Hamlets mit der eher unklaren Anlage der gesamten Inszenierung verursacht vorübergehend Kopfweh, ist aber letztlich wohl doch zu verschmerzen. Der Rest war einfach nur Jubel."

Simons' "Hamlet" sei "zweieinhalb Stunden lang transparente Bühnenarbeit", schreibt Lars von der Gönna in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (17.6.2019). "Wir sehen sozusagen das Gemachte, illusionslos. (…) Hätte der Abend nicht Sandra Hüller, wäre das ein zähes Unterfangen." Hüller durchmesse den Text "mit schlanker, von den Verhältnissen angefasster Natürlichkeit".

Für Max Florian Kühlem beweist dieser "Hamlet", dass Bochum mit Johan Simons einen "grandiosen Regisseur" gefunden hat. Sandra Hüller sei als Hamlet "ein großer Trauernder". "Das Publikum erlebt ein grandios aufspielendes Ensemble in einer konzentrierten Textarbeit in einem Bühnenbild aus wenigen, klaren Setzungen", so Kühlem in den Ruhr Nachrichten (17.6.2019). "Der überragende Verdienst des Regisseurs und seiner berühmten Hauptdarstellerin ist, dass ihr Spiel in einer bis in die Nebenrollen großen Ensembleleistung aufgeht."

"Dieser Hamlet ist so normal, so sensibel, so schwach und so beseelt von dem Wunsch nach Ehrlichkeit und Fairness wie kaum ein anderer Hamlet zuvor", schreibt Bernd Noack auf Spiegel online (16.6.2019). Johan Simons rolle seiner Titeldarstellerin als Spielfeld eine Welt am Abgrund aus. "Das Sein oder Nichtsein ist in Simons' spielerisch kluger Inszenierung kein hohles Zitat, vielmehr Programm: Wenn die Schauspieler aus der ersten Zuschauerreihe heraus agieren, dann sind sie ganze Weilen unter uns, verwischen die Grenze zwischen Bühne und Parkett und machen die Sache, die sie da verhandeln, zu unserer."

Die Inszenierung zeige Hamlets Isolation, sagt Christoph Ohrem auf Deutschlandfunk Kultur in Fazit (15.6.2019). Der Abend stelle eine Befragung des Theaters als solches dar. "Sandra Hüller spielt die Wechsel zwischen dem Lauten und Wahnsinnigen und dem Ruhigen sehr präzise und berührend. Das ist ein Fest, sich das anzuschauen."

Patrick Bahners schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (22.6.2019): Die Verteilung der Personen im Raum sei nicht "durchweg realistisch zu lesen". Die Fallen des Stücks könnten nur "zuschnappen", wenn die Opfer ahnungslos sind. In Bochum fänden "die Verabredungen vor Zeugen statt", die Figuren "haben keine Geheimnisse voreinander und sind füreinander dennoch ein Rätsel". Diese oder jene Szene könne auch "eine Projektion" sein. Die Inszenierung erzeuge den Eindruck, dass "sich die Schauspieler das Stück gemeinsam erarbeiteten, indem sie auf das reagieren, was sie sehen und hören". Die Schauspieler wechselten ständig zwischen den Standorten auf der Bühne und den Sesseln im Saal, griffen scheinbar spontan in das Geschehen ein und zögen sich wieder zurück. "Sein oder Nichtsein, das ist hier auch die Frage zwischen Tun und Lassen, Handeln und Zuschauen." Der Rest sei "Reden, gewitzt und gebrochen, befreit und befangen, einsilbig und vielsagend".

Elisabeth Elling schreibt auf wa.de, dem Online-Portal des Westfälischen Anzeigers (online 17.6.2019, 20:10 Uhr): Sandra Hüller sei ein "zarter, schmächtiger Prinz". Die "Arme hängen runter, ratlos, der Bewegungsradius ist begrenzt, einmal halten die Füße sie fest, währen der übrige Körper wegstreben will". Ihre Stimme sei "sanft und inwendig, flehend und traurig". Neben diese "kindlichen Züge" setze Hüller "die Raserei", wenn der Geist des toten Vaters von Hamlet Besitz ergreife. "Grollend, hallend, brüllend und Rache fordernd". Wie "selbstverständlich und schwerelos Hüller diesen Kontrast nimmt: ein Ereignis".

Im Kölner Stadt-Anzeiger schreibt Regine Müller (online 19.6.2019, 3:00 Uhr): Dank Mikroport kämen Sandra Hüller die "großen, schweren, weltberühmten Sätze" wie "zufällig, eben erdacht" und "wundersam leicht" von den Lippen. Hüller beherrsche den "immer überraschenden Wechsel von scharf gemeißelter Sentenz zu beiläufig dahin geworfenen, spontan wirkenden Einfällen" perfekt und mit "atemberaubendem Rhythmusgefühl". Der Effekt sei "grandios", denn dieser Tonfall befreie das Drama von "jedem Druck und gewinnt doch in der Leichtigkeit des Artifiziellen einen eigenen Ernst, eine fast rituelle Wucht". Johan Simons halte den ganzen Abend in einer "spannungsvollen Schwebe" und beweise "einmal mehr meisterhaftes Timing und Mut zur Leichtigkeit". Ein "großer Abend".

 

 Hinweis: Auf Grund eines technischen Problems sind die Kommentare unter diesem Text zur Zeit nicht auf allen Systemen zu lesen. Wir bitten um Entschuldigung und arbeiten an der Behebung!

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