Wiener Festwochen 2019 - Christophe Slagmuylders erste war auch eine besondere Spielzeit als neuer Festwochen-Intendant
Erfolgreiche Übergangsregierung
von Martin Thomas Pesl
Wien, 16. Juni 2019. Gut is gangen, nix is gschehn. Das sagen Kommentatoren gerne nach Österreichs Song-Contest-Auftritten oder wenn die Nationalmannschaft unentschieden spielt. Man möchte es freundlich auch Christophe Slagmuylder zurufen, der gerade seine erste Festivalausgabe als Intendant der Wiener Festwochen hinter sich gebracht hat. Respekt erntete der belgische Kulturmanager schon im Februar, als er das Programmbuch präsentierte. Obwohl er netto nur vier Monate Zeit gehabt hatte, es zusammenzustellen, war ihm ein vielfältiges, dichtes und zumindest einmal quantitativ reichhaltiges Programm gelungen. Intensiv die Festwochen zu besuchen, das nahm dieses Jahr wieder richtig Zeit in Anspruch.
Nach den Turbulenzen
Tomas Zierhofer-Kin, Nachfolger von Markus Hinterhäuser, hatte eine laut Medienecho katastrophale erste und eine weniger katastrophale, aber dafür sehr dünne zweite Festwochen-Saison hingelegt. Während dieser Ausgabe 2018 wurde Veronica Kaup-Hasler Kulturstadträtin in Wien. Nach Ende des Festivals bot er ihr seinen Rücktritt an, den sie annahm.
Vermutlich ohne zu zögern, denn aufgrund ihrer Erfahrungen als Intendantin des Steirischen Herbst wusste sie schon, wen sie gleich anrufen würde: Christophe Slagmuylder, den Chef des Brüsseler Kunstenfestivaldesarts, der dort eh aufhören und Theater der Welt 2020 kuratieren wollte.
Letzteres tat er dann nicht, sondern zog nach Wien und aktivierte dort, eigenen Angaben zufolge noch bevor er überhaupt ein Bett hatte, alle erdenklichen Kontakte, die er beim Kunstenfestivaldesarts in Brüssel seit 2002 (seit 2007 als dessen Leiter) angesammelt hatte. Das Team des Vorgängers behielt er, die kaum durchschaubaren Strukturen der Festwochen – die 2014 dazu führten, dass die Kuratorin Frie Leysen trotz großen Erfolgs frustriert die Rolle der Schauspieldirektorin zurücklegte – beginnt er sich erst jetzt in aller Ruhe und Bescheidenheit vorzuknöpfen.
Lanze fürs breite Gastspielprogramm
Zwischendurch verantwortete er eine erste Ausgabe, die beim Vielschauer durchaus für Zufriedenheit sorgte. Die Produktionen, die – ohne regionalen Schwerpunkt – aus den unterschiedlichsten Ländern kamen, waren vielfältig, zeitgenössisch, machten neugierig, zwangen jedes Mal, sich auf eine neue Temperatur, einen neuen künstlerischen Ansatz einzulassen, den man am Ende fast immer als gültig, besonders und bemerkenswert anerkannte. Kein Wunder: Waren das doch – schon aus der Not heraus – überwiegend Produktionen, die jemand (man darf vermuten: Slagmuylder selbst) gesehen, für gut befunden und eingeladen hatte. "Uraufführung 2017" stand in vielen Programmheften.
So ein Überhang an Gastspielen führt oftmals zu gerümpften Nasen. Es sei hier eine Lanze dafür gebrochen: Was spricht denn dagegen, wenn man schon weiß, dass etwas gut ist? Dem Wiener Publikum ist auch egal, ob etwas schon einmal in Gent, Graz oder Salzburg zu sehen war. Bei den tatsächlichen Uraufführungen oder Koproduktionen – meist mit Slagmuylders Nachfolgeteam in Brüssel – griff der neue Intendant auch mal daneben: Monira Al Qadiris "Phantom Beard" und Ersan Mondtags Hass-Triptychon enttäuschten schwer, David Martons Narziss und Echo (eine der wenigen vom Vorgänger verabredeten Produktionen) war eher was für Nostalgiker. Als künstlerische Glückstreffer sind dafür "Penelope Sleeps" von Mette Edvardsen und der Nicht-Film Missing People von Altmeister Béla Tarr zu verbuchen.
Weil es weiter geht
Es ist ein bisschen wie mit der aktuellen österreichischen Übergangsregierung. Niemand hat sie gewählt, aber alle lieben sie, weil plötzlich was weitergeht. In Wahrheit aber macht die Spontaneität, die den ersten neuen Festwochen innewohnt, unmöglich, Schlüsse zu ziehen. Denn natürlich weiß Slagmuylder selbst, dass man unter normalen Umständen anders Festival macht. Nach einer offiziellen Ausschreibung wurde er inzwischen als "regulärer" Intendant bis 2024 bestätigt.
Künftig will er mehr Kulturvermittlung, eine stärkere Belebung der Außenbezirke (dieses Jahr angedeutet durch ein Eröffnungswochenende in Wien-Donaustadt), eine stärkere Einbindung der auftretenden Künstler*innen in die Stadt und ins Festival. In Ansätzen gab es das auch jetzt schon, wenn auch unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit. Béla Tarr gab etwa eine Masterclass. Ein "Watch & Talk"-Format wurde einer ausgewählten Gruppe lokaler Nachwuchskünstler*innen angeboten, eine eigenwillige Führung der Theatermacherin Angélica Liddell durchs Kunsthistorische Museum soll ganz großartig gewesen sein.
Knallvoll bei Robert Wilson
Über den Publikumszulauf ist noch nichts offiziell bekannt, Bilanzen werden erst nächste Woche präsentiert. Wie 2018 öffentlich wurde, leiden die Festwochen nicht erst unter Zierhofer-Kin, sondern schon seit 2015 an einer konstant sinkenden Auslastung. Ob die aktuellen Zahlen Begeisterung, Zufriedenheit oder ein Bitten um weitere Geduld generieren werden, lässt sich aus den vielen Festivalabenden schwer ablesen. Knallvoll war (abseits von Isabelle Hupperts Starauftritt bei Robert Wilson in Mary Said What She Said) keineswegs alles, peinlich leer aber auch nicht.
Vereinzelt sprach sich Qualität erkennbar herum: Schwer Verkaufbares wie Mónica Calles sensationell pure Performance "Ensaio para uma Cartografia", in der sie sich mit elf anderen Frauen der Perfektion des Balletttanzes anzunähern versucht, füllten sich mit der Zeit. Anderes, wie Markus Öhrns #MeToo-Trilogie 3 Episodes of Life, blieb nach genervten Kritiken und einem Einbruch des Hochsommers eher leer. Ein dynamisches Festival also, mit richtiger Festivalatmosphäre, getragen von – das darf auch mal gesagt werden – gut organisierten, freundlichen und engagierten Menschen im Karten- und Publikumsdienst. Nirgendwo sonst wird man bei Vorstellungsausfällen (einen gab es dieses Jahr, weil Benny Claessens keine Stimme mehr hatte) so rührend betreut wie hier.
Man schaut, was man kennt
Generell gilt in Wien halt immer: Was man kennt, schaut man sich eher an. Umso erfreulicher ist dann, festzustellen, dass Stammgast Romeo Castellucci, der zwei performativen Arbeiten in die dafür perfekt geeigneten Gösserhallen brachte, derzeit einen grandiosen künstlerischen Lauf hat. Dann wiederum lieferten oft die, von denen man noch nie gehört hatte, die grandiosesten Setzungen. Neben Mónica Calle war das Phia Ménard, der man dabei zusah, wie sie sich im Schweiße ihres Angesichts ein Haus aus Pappkarton baute. Selten war Theater so nervenaufreibend. Dafür selten so entspannend wie die durative Hildegard-von-Bingen-Messe des Duos François Chaignaud und Marie-Pierre Brébant.
Ältere Herrschaften, die bei dem modernen Zeugs nicht mitkonnten und den Saal verließen, gab es in fast jeder Vorstellung. Ob sie je wiederkommen werden? Trotzdem, den "He, immer noch besser als vorher"-Bonus und den "Er hatte echt nicht viel Zeit"-Bonus sollte Christophe Slagmuylder selbst bei Skeptikern haben. Es wird jetzt evaluiert werden, wie sehr er sich darauf stützen muss. Das Ende der alten Festwochen rund um große Oper und konventionelles Schauspiel, wie sie eh das ganze Jahr über zu sehen sind, scheint mit Beginn der Ära Slagmuylder jedenfalls besiegelt.
Martin Thomas Pesl, Jahrgang 1983, ist Kritiker in Wien und beschrieb die Probleme der Festspielleitung unter anderem in seinem Rückblick auf die Wiener Festwochen 2017
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Vielleicht gelingt es Slagmuylder in den nächsten Jahren das Ende der kunstfeindlichen Struktur des Festwochenbetriebs zu bewirken. Das wäre dann ein Bruch, den weder Carp, noch Leysen, noch Zierhofer trotz vieler Versuche vollbracht haben.