Im Garten der Geister

von Sascha Westphal

Amsterdam, 17. Juni 2019. Das längst verlorene Paradies ist eine hölzerne Plattform, nur ein paar Zentimeter hoch. Wer sie betritt, kommt in einer anderen, dem Untergang geweihten Welt an. Ringsum liegt Kunstrasen. Im Hintergrund erhebt sich ein Rundhorizont, auf den mal Negativbilder kahler Bäume, mal das Panorama einer von Strommasten und -Leitungen durchzogenen Landschaft projiziert werden. Aber das Herzstück dieser Szenerie ist und bleibt die kleine Holzbühne, auf der die Tschechowschen Figuren ganz zu sich selbst finden und sich gerade deshalb verlieren. Hier kann der Kaufmann und Aufsteiger Steven von seiner Jugend träumen, in der er sich in die für ihn unerreichbare Gutsbesitzerin Amanda verliebt hat, und dann eben diesen Traum mit der Wirklichkeit verwechseln.

Zauber der Erinnerung

Selbst der von Gijs Scholten van Aschat gespielte Pragmatiker und Realist, der eigentlich ein untrügliches Gespür für die heraufziehenden Veränderungen hat, erliegt auf der Plattform dem lähmenden Zauber der Erinnerungen. Wenn er gleich zu Beginn aus dem Schlaf hochschreckt und der Hausangestellten Bonnie von einer weit zurückliegenden Begegnung mit Amanda erzählt, verliert er die Gegenwart ganz aus den Augen. Aus Bonnie wird für ihn das Phantom seiner Erinnerung, die junge Amanda. Für einen Augenblick scheint eine wundersame Zärtlichkeit auf, die sich aber sofort wieder in Luft auflöst, als Steven diesen einen Tagtraum abschüttelt und die Angestellte brüsk von sich stößt.

De kersentuin 06 560 Henri Verhoef xDie, die Gegenwart aus den Augen verlieren und von der Vergangenheit gelähmt sind: "De Kersentuin" © Henri Verhoef

Schon in diesen ersten Momenten seiner Inszenierung von Anton Tschechows "Kirschgarten" etabliert Simon McBurney auf unwiderstehliche Weise seine Lesart des Stücks. Die traurige Komödie, dieses russische Zeitbild aus den ersten Tagen des 20. Jahrhunderts, wird bei ihm zu einer absurd-komischen und zugleich herzzerreißenden Reflektion über die Geister der Vergangenheit, an die sich nun, mehr als 115 Jahre nach der Entstehung, gerade auch die westlichen Gesellschaften klammern.

Der englische Autor und Theatermacher Robert Icke hat in seiner Text-Bearbeitung des Stücks nicht nur die Namen der Figuren modernisiert und seiner Sprache angepasst. Er hat auch die Handlung in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts verlegt. Sein "Kirschgarten" könnte zudem in den Niederlanden oder auch in Deutschland stehen. Vom sozialistischen Russland ist er auf jeden Fall ebenso weit entfernt wie von dem in den Untergang schlafwandelnden Zarenreich des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Im Griff der Vergangenheit

Auf Stevens frühmorgendlichen Tagtraum folgt dann erst einmal die Komödie. Immer wenn jemand die Plattform betritt, werden mit weitausholenden Gesten Türen geöffnet und geschlossen. Dazu erklingen die entsprechenden Geräusche aus dem Off. Auch das laute Quietschen von Simons neuen Schuhen kommt vom Band. So verwandelt sich der Unglücksvogel von einem Buchhalter in eine clowneske Figur, die auf ewig mit den Widrigkeiten des Alltags wie des Schicksals ringt.

Und schon in dieser Verschiebung offenbart sich die Methode hinter McBurneys Überzeichnungen. Die Gags, die aus einem frühen Slapstickfilm stammen könnten, werden zur Folie, vor der sich die inneren Nöte der Figuren umso klarer abzeichnen. In dem Augenblick, in dem die aus Paris zurückkehrende Amanda erstmals die kleine Bühne auf der Bühne betritt, endet das burleske Spiel zwar nicht ganz, aber es bekommt eine andere Färbung. Das Lachen verklingt in dem Abgrund, den Amanda in sich trägt, seit ihr damals siebenjähriger Sohn Georgie ertrunken ist. Simon McBurney lässt den Jungen tatsächlich gleich mehrmals auftreten. Es sind eben nicht nur Erinnerungen, die Amanda verfolgen. Ihr Schmerz und ihre Schuldgefühle gebären eine Art Gespenst, das sie nicht aus dem Griff der Vergangenheit entkommen lässt.

Inneres Versteckspielen

Chris Nietvelts Amanda ist dabei Diva und kleines Mädchen in einem. Selbst ihre großen Auftritte und hysterischen Ausbrüche haben etwas unschuldig Kindliches an sich. Sie muss sich in den Vordergrund spielen und um Aufmerksamkeit buhlen. Nur so kann sie für ein paar Augenblicke ihre Geister vergessen. Und so liegt in Nietvelts virtuosem Zuviel der Gesten eine zutiefst ergreifende Verzweiflung. Man ahnt, was diese Frau erreichen könnte, wenn sie nur ihrer Vergangenheit entkäme.

De kersentuin 08 560 Henri Verhoef xChris Nietvelt als Amanda alias Ranjewskaja © Henri Verhoef

Einmal blitzt diese andere, diese pragmatische, dem Leben zugewandte Seite Amandas auf. Als sie das Geschwätz und die Herablassung Peters, der behauptet, über der Liebe zu stehen, sie in Wahrheit aber nur fürchtet, nicht mehr ertragen kann, kanzelt sie ihn nicht nur ab. Sie stürzt sich regelrecht auf den von Majid Mardo gespielten ewigen Studenten und zieht ihm die Hose runter, um sich dann auf ihn zu setzen. Was Peter als Demütigung wahrnimmt, ist in Wahrheit ein flehentlicher Ausruf: Das ist das Leben! Versteck dich nicht davor! Aber die Geister, die den Kirschgarten zu ihrem Reich gemacht haben, sind zu mächtig. Also wird nicht einmal Amanda ihren eigenen Rat beherzigen können.

Schlaglicht auf den Toten

Für die Lähmung einer Gesellschaft, die sich von dem, was einmal war, nicht lösen kann, findet Simon McBurney schließlich ein überwältigendes Schlussbild. Der Kirschgarten ist verkauft und wird bald abgeholzt. Amanda und ihre Familie haben das Haus ihrer Eltern und Großeltern verlassen. Auf der nun gänzlich leeren hölzernen Plattform bleibt nur Frits zurück. Der Rest des Ensembles steht auf dem Kunstrasen um sie herum. Einzelne, die nicht mehr zusammenfinden, noch einmal isoliert durch Spots, die sie in ein kaltes Licht tauchen, das langsam verlischt. Als sich Frits zum Sterben hinlegt, gesellen sich der kleine Georgie und der Passant zu ihm, der am Ende des zweiten Akts mit dem Song "Brother, Can You Spare a Dime" um ein bisschen Geld gebettelt hat und dann von der "Kirschgarten"-Gesellschaft seinem Schicksal überlassen wurde. Nur die Toten bleiben zurück im Licht. Geister unter sich.

 

 

De Kersentuin | Der Kirschgarten
von Anton Tschechow
in einer neuen Bearbeitung von Robert Icke
Regie: Simon McBurney, Dramaturgie und Übersetzung: Peter van Kraaij, Bühne: Miriam Buether, Licht: Paule Constable, Ton: Pete Malkin, Video: Will Duke, Kostüme: Fauve Ryckebusch, Co-Produzenten: Holland Festival, Barbican Centre, Festival Printemps des Comédiens Montpellier, privater Produzent: Joachim Fleury.
Mit: Janni Goslinga, Eva Heijnen, Robert de Hoog, Emma Josten, Hugo Koolschijn, Achraf Koutet, Ruurt de Maesschalck, Majd Mardo, Chris Nietvelt, Gijs Scholten van Aschat, Bart Slegers, Harriët Stroet, Steven Van Watermeulen, Bøyd van den Bogert, Benjamin Daalder.
Premiere am 16. Juni 2019
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

ita.nl/en/