Ist das Kunst oder echte Gewalt?

von Sarah Heppekausen

Düsseldorf / Mülheim, 17. Juni 2019. Darf man das? Die Frage steht immer wieder im Raum, auf der Bühne und in den Diskussionen, mal vorwurfsvoll, mal selbstkritisch, mal eingeschüchtert, mal wütend. Um diesen Diskurs kommt eine der wichtigsten Plattformen des Freien Theaters, das Impulse Theater Festival, nicht herum. Ein Festival, das unter der Leitung von Haiko Pfost erklärtermaßen nicht nur ein "Best of" der freien Arbeiten im deutschsprachigen Raum ist ("Showcase"), sondern sich auch mit den brennenden Fragen der Zeit an einem bestimmten Ort auseinandersetzt ("Stadtprojekt") und ein Forum für die kritische Reflexion des eigenen Schaffens anbietet ("Akademie").

Diese Setzung dreier Schwerpunkte, konzentriert in jeweils einer Stadt, behält Pfost in seinem zweiten Festivaljahr bei. Sie hat sich bewährt. Die zeitaufwendige Reiserei zwischen den Städten Köln, Düsseldorf und Mülheim bleibt trotzdem.

Hemmungslos geschossen

Darf man Menschen mit Fluchterfahrung für eine Inszenierung casten, in der ihnen als Museumsbesucher*innen von einer Kunstvermittlerin die ästhetische Seite von Krieg und Gewalt angepriesen wird? Julian Hetzel bohrt sich mit der Performance "All Inclusive" hemmungslos in unsere wahrnehmungsvernebelten Hirne.

all inclusive 01 560 Rolf Arnold uDie Körper solange verdrehen, bis aus künstlerischer Choreographie eine Kampfpose wird in Julian Hetzels "All Inclusive" © Rolf Arnold

Das Publikum schaut in den Düsseldorfer FFT Kammerspielen in einen weißen Ausstellungsraum. Ein männlicher Körper in klassischer, skulpturaler Pose. Ein anderer verdreht dessen Kopf und Arm, bis eine Schussposition erkennbar ist. Der Eingriff reicht immer weiter, bis irgendwann beide Männer Kampf- und Siegesposen einnehmen, das Machtgefüge wechselt. Kunst und Betrachtung beeinflussen sich, bis die Grenzen verschwimmen.

"Echter Schweiß", frohlockt dann auch die Kunstvermittlerin, als sie ihrer Besucher*innengruppe (Laien-Darsteller*innen u.a. aus Syrien) die ausgestellten Körper präsentiert. Es folgen: die Zerstörung von Porzellanhunden ("Kunst als kreativer Akt"), Rauchwolken in einer Plexiglasbox ("wunderschön und einzigartig"), importierte Trümmersteine aus Syrien, Attentat-Action-Painting und die performative Aneignung gelisteter Bombenanschläge und Todeszahlen, mit Beats und reichlich Kunstblut.

AIl Inclusive2 560 Robin Junicke uAttentat-Action-Painting in "AIl Inclusive" © Robin Junicke

Da werden nun also (vermeintlich) reale Kriegs- und Gewalterfahrungen mit einer künstlerischen Ausschlachtung derselben konfrontiert. Bitterkomisch, zynisch und manchmal kaum auszuhalten. Vor allem aber entlarvend, und das macht "All Inclusive“ (eine Koproduktion u.a. mit dem Schauspiel Leipzig und den Münchner Kammerspielen) so brisant und wirkungsvoll: Julian Hetzel macht die Kunst und damit sich selbst als Künstler angreifbar.

Diversität und die Oper

Weniger herausfordernd ist da schon "White Limozeen". Johannes Müller und Philine Rinnert legen rassistische Strukturen der Oper offen, konkret am Beispiel der Puccini-Oper "Madama Butterfly". Die Fakten sind bedrückend: 1955 trat die erste schwarze Sängerin in der Metropolitan Oper auf, 1978 wurde in Bayreuth zum ersten Mal eine männliche Hauptrolle mit einem schwarzen Sänger besetzt. Sopranistin Sarai Cole erzählt (im Video), dass nicht sie, sondern ihre weniger schwarz aussehende Halbschwester im Kinderchor singen durfte und Percussionistin Sabrina Ma will nicht mit einer ähnlich aussehenden Japanerin verwechselt werden, sie ist Chinesin.

Die Inszenierung allerdings ist so harmlos in Darstellung und Reflektion, dass sie über diese konkrete Sammlung von Diskriminierungserfahrungen hinaus wenig zu sagen hat. Da werden Regieanweisungen der Puccini-Oper vorgetragen, die ein demütiges Frauenbild vermitteln, oder weiße Porzellanfiguren in Farbe getüncht. Das ist allzu durchschaubar und allenfalls bebildernd.

Fasten, beten, pilgern

Im Vergleich zu einer ihrer radikaleren Vorgängerarbeiten, nämlich "Ibsen: Gespenster“, die 2015 bei den Impulsen zu sehen war, verharren auch Markus&Markus diesmal im freundlich-gemäßigten Dokumentartheaterton. Ihrem Prinzip bleiben sie treu: Für "Zwischen den Säulen" begeben sie sich wieder mitten hinein in einen Kontext, um ihn von innen heraus zu begreifen: Sie konvertieren zum Islam. Und sie fasten, spenden, beten und pilgern (gemäß der titelgebenden fünf Säulen des Islam).

Markus und Markus Zwischen den Saeulen 560 Katja RennerMuss man zum Islam konvertieren, um ihn von innen heraus zu begreifen? "Zwischen den Säulen" von Markus & Markus © Katja Renner

Das alles ist von Katarina Eckold in spannenden Videos festgehalten, auf der Bühne vermischen sich diese Realität und fiktionale Spielereien, moralische Vorbehalte sprechen Markus Schäfer und Markus Wenzel direkt an. Ihre konsequente, bisweilen durchaus waghalsige Recherchearbeit bleibt in dieser Inszenierung aber im Zeichenhaften stecken.

Mit Handbremse

Bei aller inhaltlichen Bedeutsamkeit stehen die Inszenierungen von "White Limozeen" und "Zwischen den Säulen" künstlerisch auf zu sicherem Boden. Nichts wühlt auf, nichts provoziert. Marcel Schwald und Chris Leuenberger befragen in "Ef_femininity" Weiblichkeit als Zuschreibung und Erfahrung. Drei ihrer Protagonistinnen kommen aus Indien, zwei von ihnen sind Transfrauen. Wir hören von körperlichen Übergriffen, sehen tänzerische Kampfposen. Auch hier zieht vielmehr die Reflektion des Realen in den Bann als die ästhetische Auseinandersetzung damit.

An diesem ersten Festivalwochenende verstören die Inszenierungen, die in Düsseldorf auch bewusst in vom Abriss bedrohten Spielstätten wie der Botschaft am Worringer Platz stattfinden, erstaunlich wenig. Als würde in der Freien Szene zurzeit mit angezogener Handbremse produziert.

Diskussion über Rechtsruck und Verantwortung

Über Kunstfreiheit wurde passenderweise in der "Impulse"-Akademie im Mülheimer Ringlokschuppen Ruhr diskutiert, über das Freie Theater zwischen Rechtsruck, Identitätspolitiken und Selbstverantwortung. Zum Abschluss der ersten Akademie soll in diesen Tagen  ein entsprechendes Manifest zur Kunstfreiheit erscheinen.

Am ersten Tag tauschten sich Theatermacher*innen, Kulturschaffende und Wissenschaftler*innen vor allem über ihre Erfahrungen mit zunehmenden Angriffen von rechts aus, von einer Bedrohung der Kunstfreiheit. Da berichtete Yvonne Gimpel, Geschäftsführerin der IG Kultur Österreich, der Dachorganisation von österreichischen Kulturinitiativen, von Förderkürzungen bei feministischen oder migrantischen Projekten, Diffamierungen und Finanzprüfungen, die die alltägliche Arbeit vor allem freier, unabhängiger Kulturschaffender erschwerten. Und Performerin Hoang Tran Hieu Hanh schilderte die Störung rechtsextremer Identitärer bei der Performance "Gala Global" am Deutschen Theater in Berlin im vergangenen Jahr. Als eine Strategie gegen den Rechtsruck stellte Hannah Saar, Dramaturgin am Theater Oberhausen, die "Erklärung der Vielen" vor und ließ direkt auch Kritikerinnen zu Wort kommen: Die Erklärung separiere die Guten und die Bösen. Darf man das? Neue Strategien wurden an diesem ersten Tag übrigens nicht verhandelt.

Zwischen den Fronten

Julia Wissert nahm in der Podiumsrunde eine Sonderstellung ein: 2020 wird sie neue Leiterin des Theater Dortmund. Trotz (oder vielleicht auch aufgrund) ihrer bald privilegierten Position traf sie den Nerv der Diskussion am zweiten Akademie-Tag. Wenn das Theater in zehn Jahren noch relevant sein wolle, müsse es sich grundlegend verändern, strukturell diversifizierter werden und andere Narrative entwickeln, erklärte die 34-Jährige.

Akademie 2 Ueberwinde Dich cheers for fears 560 Stefan GlaglaBreites Diskussions-Programm bei Impulse, hier aus dem Teil "Überwinde Dich!" © Stefan Glagla

Franziska Werner von den Berliner Sophiensælen stellte die theaterpraktische Maßnahme der Triggerwarnung vor, die zum Beispiel auf Rassismus reproduzierende O-Töne verweist. Rachida Aziz, Gründerin des "artivistischen" Produktionshauses Le Space in Brüssel, teilte mit, dass sie Interviews mit "Mainstream"-Medien konsequent ablehne, weil die weder ihr und ihrem Haus offen gegenüberstünden, noch von ihrem Publikum gelesen würden.

Verhärten sich die Fronten? Der Theatermacher und machina eX-Performer Yves Regenass zumindest fragte sich – äußerst zurückgenommen –, ob er als sehr weißer, heterosexueller Mann der Richtige sei, um über Kunstfreiheit als Privileg der Mehrheitsgesellschaft an dieser Stelle zu reden. Ja, darf er das?

Jedes Hinterfragen der eigenen Position ist angebracht, sinnvoll und dringend notwendig. Aber in der Kunst kann Selbstbefragung nicht alles sein. Kunst muss weiterhin der Anlass für Verunsicherungen sein (dürfen).

 

Impulse Theater Festival
13. bis 23. Juni 2019

All Inclusive
Regie: Julian Hetzel, Dramaturgie: Miguel Angel Melgares, Künstlerische Beratung: Sodja Lotker, Kostüme: Anne-Catherine Kunz.
Mit: Kristien de Proost, Edoardo Ripani, Geert Belpaeme und Rahaf Al Wattar, Majd Assassa, Mortaza Husseini, Hanni Kayali, Barbra Mekhail (am 14.06.) / Rahaf Al Wattar, Rami Lazkani, Ajmal Mayel, Barbra Mekhail, Omar Mohamad (am 16.06.).
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

White Limozeen
Konzept und Recherche: Johannes Müller, Philine Rinnert, Regie: Johannes Müller, Ausstattung: Philine Rinnert.
Mit: Sarai Cole (Sopran), Sabrina Ma (Percussion). 
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

Zwischen den Säulen
Von und mit: Markus&Markus (Katarina Eckold, Lara-Joy Hamann, Markus Schäfer, Markus Wenzel), Bühne und Kostüm: Maike Storf.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

Ef_femininity
Künstlerische Leitung: Chris Leuenberger und Marcel Schwald, Kostüm: Salome Egger.
Mit: Diya Naidu, Living Smile Vidya, Shilok Mukkati, Chris Leuenberger.
Dauer: 1 Stunde

www.festivalimpulse.de

 

Weitere Berichte über das Festival erschienen in der Süddeutschen Zeitung, im Kölner Stadtanzeiger auf Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur.

 

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Kommentare  
Impulse Festival: platter Zugriff
Bei Julian Hetzels "All inclusive" frage ich mich, was da entlarvt worden sein soll. Das war gut gemacht, ganz ohne Zweifel, aber der Abend ließ mich doch sehr unbefriedigt zurück. Das Stück dreht sich um die Ästhetisierung von Gewalt und macht sich über moderne Kunst sowie den paternalistischen Umgang mit Geflüchteten lustig. Das wird alles geradezu brachial ausgestellt. Seine Wirkung erzielt das Stück damit, genau das zu tun, was kritisiert wird: Gewalt wird gezeigt und ästhetisiert, postmoderne Kunsterfahrungen werden gezeigt, die zwischen wirklich witzig und wirklich saublöd changieren, und die gecasteten Flüchtlingslaienschauspieler werden als Statisten von oben herab behandelt. Gegen die Kritik daran immunisiert sich die Regie, indem sie das natürlich alles irgendwie kritisch und ironisch meint. Ich find das vor allem einen ziemlich platten Zugriff aufs Thema.
Impulse Festival: Nachgespräch
Schade, dass nicht über das Nachgespräch und die anschließenden Diskussionen über ALL INCLUSIVE geschrieben wurde. Ein paar Infos: die Gruppe geflüchteter Darsteller*innen sind Laien, denen kurz vor der Aufführung in einer zweistündigen Einführung die einzelnen Stationen gezeigt wurden. Dabei handelte es sich nicht um eine Probe, das heißt einen großen Teil der Szenen erleben sie während der Aufführung zum ersten Mal. Auf Wunsch des Regisseurs sollte jede*r nur einmal mitspielen, bei der zweiten Vorstellung wurde also die Gruppe ausgetauscht. Gage pro Person = 300 Euro.
Nicht nur also, dass die Leute gar keine Chance haben zu überblicken, wovon sie da gerade ein Teil werden, noch dazu wird die unverhältnismäßig hohe Gage als Druckmittel eingesetzt, genau das zu tun, was erwartet wird
Doch nicht nur das: Die nicht moderierte geschweige denn übersetzte Publikumsdiskussion zwang uns in eine Mittäterschaft, weil wir in dem Moment, wo wir die Methodik des Regisseurs kritisierten, miterleben mussten, wie den Darsteller*innen bewusst wurde, welche menschenverachtende Instrumentalisierung sie erlebt haben.
Dann spricht der Regisseur davon, dass für ihn als Künstler Menschen Material sind und "Readymades". Dass er die Perspektiven der Kriegsflüchtlinge braucht, um wieder etwas "fühlen zu können"...

Dachte, wir sind gerade in der Freien Szene ein Stück weiter. In Akademien wird über die Frage der Repräsentationen gesprochen und über strukturellen Rassismus und über all diese Dinge. Und dann sehen wir am Abend die Arbeit eines Regisseurs, der all diese Strategien, die er ja selbst angeblich kritisiert derart ignorant in seiner Arbeitsweise auf Kosten anderer reproduziert?! Ich finde das einfach nur widerlich, absolut frappierend und in keiner Weise gerechtfertigt.
Impulse Festival: paternalistisch
Entschuldigung, aber ist das nicht etwas paternalistisch und herablassend, wenn man den Darsteller*innen nicht zugesteht, dass sie überblicken könnten, wovon sie da Teil sind?
Impulse Festival: herablassend
Wir haben uns mit den Darsteller*innen unterhalten, das sind keine Phantasien oder Projektionen.

Wer ist wem gegenüber herablassend? Wie herablassend ist es, wenn ich mir nicht als Regisseur meiner Privilegien bewußt bin? Mir nicht bewußt bin über ungleiche Verhältnisse, über die Macht von Sprache und Geld und fancy Bühne? Wenn ich sogar die "Probenzeit" kurz und unklar gestalte, damit ich eine möglichst unverfälschte und frische Reaktion von den Laiendarsteller*innen bekomme? Wie herablassend und diskriminierend ist es, wenn ich geflüchtete Menschen aus Syrien und Afghanistan in mein Kunstwerk hineinpflanze, in dem sie ohne Kostüm, ohne gearbeiteten Text, ohne vorherige respektvolle und inhaltliche Zusammenarbeit nur eins sein sollen: Kriegsflüchtlinge. Möglichst dumm dazu.
Ist es nicht nur menschlich verwerflich, sondern auch künstlerisch mehr als fragwürdig, geflüchtete Statist*innen auf ihren Status zu reduzieren, und diese biographische Zuschreibung auch noch auszunutzen, um Szenen über Krieg und Traumata noch "wirkungsvoller" zu gestalten?
Impulse Festival: zynisch
Entschuldigung, aber ist es nicht etwas naiv, anzunehmen, dass Laien, und darunter verstehe ich in diesem Kontext Menschen, die nicht im zeitgenössischen, westlich-eurozentristischen, "weißen" Kunstdiskurs zu Hause sind, eine hochkonfrontative Situation, in die sie unter Zeitdruck und quasi uninformiert vor Publikum gebracht werden, überblicken sollen? Laien, die Geflüchtete auf einer Bühne mimen (!), werden benutzt, damit sich ein zeitgenössisches, westlich-eurozentristisches, "weißes" Publikum (inkl. Künstler) anhand der Reaktionen der Laien (möglicherweise Lachen, Unbeholfenheit etc) an der "Ästhetik des Zynismus" erheitern, aufregen, erheben kann.
Ist die deutschsprachige Performing Arts Szene so satt, dass ihre Künstler*innen jetzt zu Bulimiker*innen werden (ich bin so satt, ich ess nur noch, um es unverdaut wieder loszuwerden)?
Impulse Festival: Häusliche Gewalt
Aber "Häusliche Gewalt" von Öhrn(?) fand ich gut, und ohne "Handbremse"
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