Macht und Amoral

von Steffen Becker

Mannheim, 21. Juni 2019. "IM ANFANG WAR DER STEIN, DER STEIN UND DIE BAHNTRASSEN (...) UND DIE ANKUNFT VON MENSCHEN ALLER NATIONALITÄTEN, DIE ALLE DENSELBEN DIALEKT SPRACHEN: SEX-COLTAN“, schreit der Text. Auch die Menschen, die den Mannheimer Club "Disco 2" betreten, um im afrikanischen Club "Tram 83" zu landen, sind abhängig vom Erz Coltan. Zumindest, wenn sie ein Smartphone ihr Eigen nennen. Schlechtes Gewissen müssen sie trotzdem nicht haben. Denn Fiston Mwanza Mujila hat mit seinem Roman keine Anklageschrift verfasst. Sein Thema ist weniger das Coltan als der Sex.

Unter Egoshootern

Und so hat Regisseurin Carina Riedl ihre Bühnenfassung auch in angemessen abgefucktem Ambiente angesiedelt. Zwischen schwarzen Betonwänden, herabhängenden Kabeln und Unmengen von Discokugeln streifen queere, heftig geschminkte Gestalten umher. In (zumindest anfangs) ausladenden Glitzer-Outfits, wie man sie auf einer alternativen CSD-Party erwarten würde – aber nicht in der Kaschemme einer afrikanischen Minenstadt, in der Arbeiter, Studenten, Gesocks und Blutsauger aufeinandertreffen. 

tram83 3 560 christian kleiner uIm Club "Tram 83" dessen Milieu das Sittenbild von Fiston Mwanza Mujila rahmt © Christian Kleiner

Trotzdem ein guter Kniff von Regisseurin Carina Riedl. Sie findet damit ein umso klareres Bild für die Moral der Geschichte um die "Tram 83". Wer es sich leisten kann, kann sich auch alles erlauben. Denn "Tram 83" ist keine exotische Parabel über einen leidenden Kontinent (der Text verortet seinen Schauplatz auch nicht). Er erzählt vielmehr vom entfesselnden Kapitalismus und wie er Menschen zu Egoshootern macht.

Verdienen am Schmutz der Welt

Die reine Handlung ist schnell erzählt. Ein Glücksritter namens Requiem sucht nach Macht und findet sie in Nacktbildern, die die Prostituierten des Clubs "Tram 83" von wichtigen Menschen machen. Eddy Irle spielt ihn als kaugummi-kauenden Provokateur im Leopardenbody, aber nicht übertrieben. Im Kolonialherren der "Tram 83" erkennt man auch die konventionellen Kings an der Bar, die man im Club insgeheim beneidet für ihre Gefolgschaft (besonders dann, wenn man sich als Theater-/Club-Publikum auf extrem unbequemen Getränkekästen in den Ecken drängt).

Sein ehemals bester Freund Lucien zelebriert sein Leiden am Schmutz der Welt. Ihn zeigt Arash Nayebbandi nicht als Gegenmodell zum enthemmten Requiem, sondern als Teil der Tram-83-Maschine. Sein Lucien takelt sich noch mehr auf (und ist auch sicherer auf den High Heels), mit dem Ziel, als integrer Intellektueller herauszuragen. Ein Verleger – Martin Weigel als in jeder Hinsicht schwitziger Kotzbrocken – bringt sein Epos schließlich heraus. Aber nur als Schachzug, um den Platz von Requiem in der Tram-Hierarchie einzunehmen. Die Ereignisse nehmen schließlich einen chaotischen Verlauf, an dem ein sehr kleiner Penis schuld ist und an deren Ende die drei zu Flüchtlingen werden.

Bedienung der Bilder

Der Großteil des Theaterabends besteht jedoch nicht aus Dialog, sondern aus Erzählung. Und die rückt weniger den Inhalt, mehr die Sprachmelodie in den Mittelpunkt. Text und in der Folge auch Regie machen "Tram 83" zu einer Komposition, in der Satzbau, Wortwahl und Lautinstrumentierung einen wechselnden, aber aufeinander aufbauenden Rhythmus generieren – wie ein DJ-Set, das einen zu verschiedenen Tanzstilen zwingt und auspowern will. Entsprechend viel Raum nimmt denn auch die musikalische Begleitung ein. Hier erlaubt sich die Inszenierung einen Schuss Afro-Exotik mit Trommeln (auf einem Barhocker) und Xylophon-Klängen. Exotik will der Text eigentlich gerade vermeiden. Aber ganz ohne Bedienung der Bilder, die man beim deutschen Publikum vom großen, dunklen Kontinent offenbar vermutet, scheint es in Mannheim nicht zu gehen.

tram83 2 560 christian kleiner uAmoral unter Disco-Kugeln? Die Ausstattung stammt von Thea Hoffmann-Axhelm © Christian Kleiner

Auch an anderer Stelle greift Regisseurin Riedl weiter aus. Sie setzt mit Tala Al-Deen und Nancy Mensah-Offei Schauspielerinnen ein, die auf der reinen Handlungsebene kaum zu tun haben. Al-Deen darf kurz in die Rolle einer Diva schlüpfen. Ansonsten ist sie wie Mensah-Offei auf die Rolle einer Beobachterin beschränkt, die das Schicksal von Kinder-Prostituierten und verzweifelten Frauen schildert, die von Glücksrittern mitgenommen werden wollen (und sei es nach Moskau!). Entsprechend aggressiv fallen die Einlassungen der beiden aus. Die Wut der Marginalisierten arbeitet Regisseurin Riedl so plastisch heraus.

Dunkel hinter Discokugeln

Die Handelnden sind im Sittenpanorama "Tram 83" nur (weiße) Männer. Wie diese sich an Macht und Amoral berauschen, kann man in Mannheim allerdings nur in Ansätzen erfahren. Drückende Luft, einmal Bier verschütten (da geht es gerade um Mädchen ohne Höschen, die sind gut für den Umsatz), Wasser spucken und dem lokalen Kritiker kurz den Arsch am Hinterkopf reiben: mehr Annäherung an die Kloake der Dekadenz, die der Roman "Tram 83" schildern will, findet im Theater nicht statt.

Es bleibt also im Dunkel hinter den Discokugeln der eigenen Fantasie überlassen, was man mit seinen schmutzigen Trieben alles anstellen würde. Wenn der reine Kapitalismus es einem ermöglichte.

 

Tram 83
von Fiston Mwanza Mujila
Fassung von Carina Riedl
Regie: Carina Riedl, Bühne & Kostüme: Thea Hoffmann-Axthelm, Musik: Brahima Diabaté, Ray Okpara, Jonas Herpichböhm (Gast), Licht: Björn Klaassen, Dramaturgie: Kerstin Grübmeyer.
Mit: Tala Al-Deen, Eddie Irle, Nancy Mensah-Offei, Arash Nayebbandi, Martin Weigel.
Premiere am 21. Juni 2019
Dauer: 1 Stunde, 40 Minuten, keine Pause

www.nationaltheater-mannheim.de

 

Kritikenrundschau

Egbert Tholl schreibt in der Süddeutschen Zeitung (online 23.6.2019, 18:50 Uhr): Wenn man sich frage, was eine Bühnenadaption von Fiston Mwanza Mujilas Roman "Tram 83" mit Schiller zu tun habe, dann rufe man sich das Motto des Festivals in Erinnerung, "das lautet 'Fieber', und damit ist Mujilas Text gut beschrieben". Die Sprache sei wie "Jazz in einer heißen Nacht", jeder Satz "eine Pose", und die Regisseurin Carina Riedl "hämmert das Ding mit Macht in den Club", erhebe den Text zur "illusionslosen Metapher, in der die Gespenster des Kolonialismus genauso spazieren gehen wie die Hyänen der heutigen Ausbeutung". Das habe "enorme Wucht".

Mit viel Ordnungssinn habe Carina Riedl die Erzählstränge entwirrt und das lautstarke Durcheinander in einem zweistündigen Sprachrausch orchestriert, schreibt Antje Landmann von der Rheinpfalz (24.6.2019). "Mujilas Sätze kommen darin wunderbar zur Geltung, die Zuspitzung ist gelungen und hätte sogar noch stärker ausfallen können." Und weiter: "Mit der Kritik am Kolonialismus als Ursache des Elends positioniert sich die Inszenierung deutlich und nimmt damit die nächste Hürde."

 

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