#Punk 100% Pop *N!gga - Festival Theaterformen
Publikumsbetanzung
von Jan Fischer
Hannover, 22. Juni 2019. Am Anfang ist da Widerstand, verlassen sogar einige den Saal: Zu Beginn von Nora Chipaumires Trilogie "#PUNK 100% POP *N!GGA" läuft ein souliger Basslauf in Endlosschleife, dazu Live-Gitarrengeniedel des Punkgitarristen David Gagliardi, während der Tänzer Shamar Watt das Publikum auffordert, mitzuklatschen und aufzustampfen. Wer nicht mitmacht, vor dem baut Watt sich auf. Anlehnen oder hinsetzen ist nicht erlaubt, der Bühnenboden ist Tanzfläche und aus dem Lautsprecherberg aus Sperrholz brettern Bass, Beats und die Gitarre. Aber, gut, es ist ja auch der erste Teil der Trilogie, "Punk", da ist‘s dann halt widerständig. Jedenfalls wird ein Ringelpiez mit Anpassen daraus: Wer den Saal nicht verlässt, der bewegt sich, während Watt und die Regisseurin und Choreographin Nora Chipaumire sich auf der Suche nach der Widerständigkeit von Patti Smith die Seele aus dem Leib tanzen und schreien, dass der Schweiß nur so fließt und platscht.
Der zweite Teil, "100% Pop", ist statt Patti Smith eine Suche nach der jamaikanischen Sängerin, Schauspielerin und Performancekünstlerin Grace Jones. Der Widerstand weicht der Revolution, "Revolution is not you first kiss" deklamiert Chipaumire, "Revolution is not that way" und zeigt auf die Tür, während Watt, nur mit schwarzem Tütü bekleidet, hinter einem bunt beleuchteten DJ-Pult steht, das aus Stühlen zusammengebaut ist und Sounds produziert, welche die südafrikanische DJ Atiyyah Khan mit Dub-Platten ergänzt. Wo das Publikum vorher nur widerwillig tanzte, macht es jetzt bereitwillig mit – Chipaumire bastelt sich in "100% Pop" währendessen eine Freiheits- und Revolutionsutopie zusammen, die in den Weiten der Discos, Tanzvernügen und der Popmusik Wurzeln fassen soll.
Utopie der Verständigung
Im letzten Teil der Trilogie, "*N!gga", taucht der Sperrholzboxenturm wieder auf, dieses Mal mit den Logos von Hermès und Gucci geschmückt. Chipaumire sitzt darauf als bekrönte Königin von Mount Loudness, während sie Watt als Opfer des Markenhedonismus umherscheucht. Das Publikum darf in diesem Teil sitzen, es geht, in langsamen Schleifen, die eher Audioinstallation sind, um Sklavenhandel, Ausbeutung, rassistischen Kapitalismus und wieviel davon auf den Körpern der People of Colour erbaut wurde und wird. Auch hier bietet, mit freundlicher Unterstützung der synkopierten Rythmen des Rumba Lingala, die Musik eine Utopie der Verständigung: Am Ende darf das sitzende Publikum wieder die Bühne als Tanzfläche stürmen.
Suche nach Ungehörtem
Nora Chipaumire ist mit ihrer Trilogie "#PUNK 100% POP *N!GGA" vor allem auf der Suche nach musikalischen Vorbildern, jede der drei Inszenierungen befasst sich mit einer anderen Künstlerin, die Chipaumire als tanzendes Medium versucht allererst sichtbar zu machen und ihnen ein wenig der Anerkennung zu geben, die ihnen die westliche, eben hauptsächlich weiße, Kunst- und Kulturgeschichte nicht zuerkennt. Dabei geht es nur vordergründig um Ikonen wie Patti Smith oder Grace Jones – viel eher geht es um die Musik, die bei Chipaumires explorativem Tanzvergnügen aufgelegt und performt wird.
Und weil Musik in der Vorstellung Chipaumires durch den Körper gehen muss, muss das Publikum eben tanzen anstatt anzuhören, was es da zu sagen gibt. Denn während die Musik schnell wechselt und vor sich hin wummst, kreischen Watt und Chipaumire zwar immer wieder Worte ins Mikro – aber schnell wird klar, dass hier immer wieder nur einzelne Worte oder Sätze in Schleifen wiederholt werden.
Schweißtreibendes Energieniveau
So gerät "#PUNK 100% POP *N!GGA" zur dreistündigen Publikumsbetanzung, in der Watt und Chipaumire die Energie auf schweißtreibendem Niveau hochhalten. Weil es eben eher Tanzveranstaltung ist, hält sich dabei der Informationsgehalt in Grenzen. Eine spannende und teilweise politische Erkundung nie gehörter Musik ist es allemal, und irgendwer sagt ja immer: "If I can‘t dance, it‘s not my revolution".
#PUNK 100% POP *N!GGA
Konzept, Choreografie, Text, Licht, Kostüme: Nora Chipaumire, Soundkonzept: Nora Chipaumire, Soundrecherche: Nora Chipaumire und Shamar Watt, Tontechnik: Philip White, Technik: Sean Seago, Bühne: Ari Marcopoulos, Kara Walker, Matt Jackson Studio.
Mit: Nora Chipaumire, Shamar Watt, David Gagliardi, Atiyyah Khan, Philip White.
Eine Koproduktion mit The Kitchen | Crossing the Line Festival (FIAF), Quick Center for the Arts (Fairfield University).
Deutsche Premiere 22. Juni 2019
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, zwei Pausen
www.theaterformen.de
Mehr dazu: 3 Fragen an Nora Chipaumire gestellt von Aïda Colmenero Dïaz gibt es hier.
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