Kolumne: Als ob! - Michael Wolf denkt über Konfliktlinien aktueller Theaterdebatten nach
Mehr Kunst wagen
von Michael Wolf
25. Juni 2019. Am letzten Donnerstag las ich kurz hintereinander zwei Interviews: René Pollesch sprach mit dem Freitag, Jens Harzer mit der Neuen Zürcher Zeitung. Beide sind sie gefeierte Theatermacher auf dem Höhepunkt ihres Ruhms, und doch könnte man meinen, sie wären in völlig anderen Branchen tätig. Polleschs Lieblingsvokabeln: "Arbeit", "Arbeitsweise", "Arbeitspraxis". Das Wort Kunst nimmt er nicht ein mal in den Mund. Jens Harzer hingegen nennt seinen verstorbenen Kollegen Gert Voss einen "Theatergott", spricht vom Spielen als "Nichteinverständniserklärung mit der Welt", von Verwandlung als einem "emanzipatorischen Akt", vom "Urgefühl Angst".
Würde man die Interviews nebeneinander legen, bekäme man den zentralen Konflikt des zeitgenössischen Theaters in den Blick. Ich möchte nicht insinuieren, dass Pollesch und Harzer ein Problem miteinander hätten. Aber ihre Differenz scheint mir exemplarisch für zwei Fraktionen, die in letzter Zeit immer öfter aneinandergeraten. Für die einen ist ästhetische Erfahrung (die eigene wie die des Publikums) Aufgabe und Versprechen des Theaters. Für die anderen, die gerade als Avantgarde an den Toren der Institutionen rütteln, steht nicht das Ergebnis, nicht die Kunst, sondern deren Entstehungsprozess und ihre sozialen und (identitäts)politischen Bedingungen im Zentrum. Nicht nur zwischen Künstlern, auch mitten durchs Publikums verläuft diese Front. Sie zeigte sich in den letzten Debatten der Saison.
Die eigentliche Brisanz
Zum Beispiel bei der Einführung der Frauenquote beim Berliner Theatertreffen. Oder bei der vielfach bejubelten und nicht seltener kritisierten Ernennung Julia Wisserts zur Intendantin des Dortmunder Schauspiels. Im Interview mit meiner Kollegin Esther Slevogt kündigte sie an, "den Fokus nicht mehr ausschließlich auf das künstlerische Endprodukt (zu) richten, sondern gleichzeitig auf den Entstehungsprozess – als modellhaften Prozess auch für gesellschaftliche Prozesse". Diese, in der hitzigen Debatte kaum beachtete, Aussage scheint mir die eigentliche Brisanz der Personalie auf den Punkt zu bringen. Ich verstehe sie als Abkehr von einem ästhetischen Programm zugunsten pädagogischer Konzepte.
Wissert hat das nicht erfunden. Die Freie Szene oder die in vielen Städten sehr lebendigen Bürgerbühnen produzieren seit langer Zeit anders und mit anderen Zielen. Zudem erhebt das bürgerliche Theater als "moralische Anstalt" natürlich auch historisch einen Anspruch, sein Publikum zu formen. Neu scheint mir aber, dass beide Elemente nun gegeneinander ausgespielt werden. Das geschah im Konflikt zwischen Ulrich Rasche und dem Frankfurter Intendanten Anselm Weber, der seinen Regisseur öffentlich des Machtmissbrauchs beschuldigte. Als ein Kronzeuge galt der Schauspieler Andreas Vögler, in dessen Schilderung des Probenprozesses aber vor allem ein Bedauern darüber deutlich wurde, dass er sich nicht inhaltlich hat einbringen können. "Meine gesellschaftliche oder gar politische Haltung als Performer / Schauspieler ist somit auch nicht relevant, weil ich mich nie in einem Entstehungsprozess oder auf der Suche befinde", schrieb er.
Kunst im Sinn der Romantik
Rasche wird immer wieder eine faschistische Ästhetik vorgeworfen. Ich glaube, das liegt nicht vornehmlich an Gleichschritt, Chören und Gebrüll. Vielmehr polarisiert er so sehr wegen seines unbedingten Formwillens. Damit muss er gerade bei jenen jungen, identitätspolitisch geschulten Theaterschaffenden anecken, die das Theater in erster Linie als soziale und politische Institution ansehen. Sie wollen die Häuser und die Gesellschaft neu ordnen, es geht ihnen um Regeln. Der Kunst, zumindest in dem romantischen Sinn, der für viele immer noch in diesem Begriff mitschwingt, müssen sie daher misstrauen. Weil sich der Umgang mit ihr maximal beschreiben, aber nie ganz kontrollieren lässt.
Auch deswegen ist "Genie" mittlerweile ein Schimpfwort. Weil das Genie nur ein Medium von Einflüsterungen einer Instanz war, die weder Ort und noch Identität hatte. Den Reformern aber geht es um gezielte Steuerung. Ihre Agenda ist emanzipatorisch, aber nicht liberal. Ich glaube, viel stärker, als dass sie Befreiung befürworten, fürchten sie die Entfesselung. Die Vision des einen (z.B. eines Regisseurs) stellt sich ihnen als Bedrohung der anderen (z.B. des Ensembles) dar. Ich kann das durchaus nachvollziehen, angesichts der vom Ensemble Netzwerk u.a. beklagten Fälle von Machtmissbrauch oder der oft fehlenden Sensibilität gegenüber benachteiligten Gruppen.
Kunst versus Kacke?
Scheuklappen tragen beide Fraktionen, die Reformer wie die Romantiker. Die eine Seite ignoriert den Zuschauer, wenn sie das Ergebnis, die Aufführung als weniger wichtig erachtet als die Produktion selbst. Zudem scheinen sie wenig Interesse an dem zu haben, was Ulrich Matthes einmal Eros des Theaters nannte. Sie arbeiten für sich selbst und nicht für den großen Teil des Publikums, der sich unverbesserlich an "Kunstkacke" (Matthias Lilienthal) erfreut.
Die andere Fraktion verschanzt sich hinter der Kunstfreiheit und vergisst dabei gern, dass jedes Werk natürlich in einem politischen und historischen Rahmen entsteht, es also nie so unabhängig und unbefleckt sein kann, wie der freie Künstler gerne behauptet. Und dass ein aufs Singuläre und Unpolitische beruhender Kunstbegriff vielleicht in unseren Zeiten der Vernetzung und gesellschaftlicher Kämpfe gar nichts Zeitgemäßes mehr aussagt.
Jenseits von Koordinaten
Dennoch, nennen Sie mich altmodisch oder naiv, hänge auch ich am Theater als Ort ästhetischer Erfahrungen. Ich habe René Pollesch sehr lustige, erhellende und auch – ja! – schöne Momente zu verdanken. Wenn ich mich für eine Seite entscheiden müsste, wäre ich aber im Team Harzer. Anders als bei Pollesch, fühle ich mich beim Lesen seines Interviews und wenn ich ihn auf der Bühne sehe nicht nur als Repräsentant einer Gruppe angesprochen, nicht als Mann, als Weißer oder Deutscher, nicht als Produkt von "Diskursen" oder Koordinate in einem Gesellschaftssystem – sondern als etwas oder jemand, der von all diesen Zuschreibungen nicht zu fassen ist. René Pollesch lässt mich die Welt klarer sehen. Jens Harzer sorgt dafür, dass ich mich in ihr weniger einsam fühle.
Michael Wolf, Jahrgang 1988, ist Redakteur bei nachtkritik.de. Er mag Theater am liebsten, wenn es schön ist. Es muss nicht auch noch wahr und gut sein.
Zuletzt wünschte sich Michael Wolf vom Theater, es möge doch bitte einmal endlich seine Toten ruhen lassen.
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Den Anspruch, das Publikum formen oder gar erziehen zu wollen, halte ich für eine Anmaßung. In den Zuschauerräumen sitzen Abend für Abend Frauen und Männer, die klug und gut ausgebildet sind, in ihren Berufen viel leisten, Kinder erziehen und oft für ihre alten Eltern sorgen. Sie sind interessiert und schauen über den sprichwörtlichen Tellerrand hinaus. (Über den Tellerrand hinaus zu sehen, empfehle ich allen Theaterleuten, die oftmals nur in ihrem eigen "Saft" schwimmen.) Und diese Frauen und Männer, sie verfügen zumeist über eine größere Wirklichkeitserfahrung als junge Theatermacher, sollen belehrt und erzogen werden? Das Theater kann bestenfalls Angebote unterbreiten. Und diese sollten nicht didaktisch (also kunstfeindlich) sein, sondern mit ästhetischem Vergnügen verbunden werden. Sind sie es, wirken die "Botschaften" übrigens intensiver als alle "Theaterkanzelreden", die monologisch ins Publikum gerufen werden.
das neue ruft schrecken und liebe hervor, schärft den mut und kann feuer entzünden, sehnsucht und abscheu werden zu zwillingen das handwerk kann/soll/muss die gute basis sein unser spiel macht frei, darf alles ermöglichen auch den sprung über den eigenen schatten stürzen, fallen, brüche und eintauchen in den himmel
gehören dazu, buh und bravo füllen den raum spaltungen können saal und bühne füllen reden und schweigen prägen ich und du und wir
(...)
Der Begriff Kunst lässt sich am einfachsten über den Begriff Kunstfeindlichkeit definieren. Alles in der Kunst, was so eine große Wirkung hat, dass es zu einem Aufschrei führt und weg soll, ist wahrscheinlich Kunst.
Wahrscheinlichkeiten sind aber nie präzise. Eine positive Definition des Begriffes Kunst wäre wünschenswert. Zunächst einmal ist es etwas, das große Wirkung auf den Menschen zeigt, aber nicht sofort einer direkten, einsehbaren Anwendung zu geführt werden kann. Kunst lässt sich nicht so einfach benutzen. Trotzdem kann man sich nur schwer von ihr lösen und auf sie verzichten, weil sie stets zu einem emotionalem Zugewinn führt. Sie ist in sich seltsam und befremdlich frei, unabhängig, souverän und in ihrer Wirkung scheinbar regellos, unterliegt nicht einer sozialen Kontrolle, wie es andere zwischenmenschliche Begegnungen tun. In diese sozialen Regeln wollen die Diversitätsanhänger sie hineinzwingen. Man will seiner großen Wirkung habbar werden und sie gezielt in den Prozess der gesellschaftlichen Transformation einspeisen, ohne zu bemerken, dass sie dann aufhört das zu sein, was sie ist, Kunst. Und um dies zu bleiben, wird ihr ihr Zustand verfassungsgemäß zugesichert, denn die Politik weiß um den Mißbrauch der Kunst als historische Erfahrung.
Das ist es schon im Wesentlichen. Nur eben das sich die Sprachkunst, das Sprechttheater, das Literaturtheater mit dem Alltag, der Philosophie und leider auch der Theorie und der Ideologie, der Politik ein Medium teilt, die Sprache. Es ist eine Binse, dass hier die Übergänge fließend sind. Leider. Niemand macht die Pauke oder die Trompete in der Musik verantwortlich für die „Neue Rechte“ in Europa, obschon man auch das Martialische in der Musik als überrepräsentiert beschreiben und gegen die Violinen aufrechnen könnte.
In letzter Zeit reflektiere ich persönlich häufig auf Pina Bausch, weil dort jeder politische Ausdruck in eine Bewegung floss und nicht in die Sprache, obwohl gerade sie im Tanztheater bei Bausch zuerst stattfand. In ihrem Umfeld gab es keine oder kaum kulturtheoretische Überlegungen, die direkt in die Probenarbeit einflossen, so scheint es mir. Es gab keine Gängelung, keine geregelte Körperpolitik. Das fehlt mir heute schmerzlich. Ich kenne und erkenne die theoretischen Überlegungen auf der Bühne wieder. Alles ist für mich leicht lesbar geworden. Entfesselte Kunst lässt sich nicht so einfach entschlüsseln und verbauen. Sie schaut auch dort hin und lebt es aus, wo die Befindlichkeiten der Identitätspolitik einen Riegel vorschieben wollen. Indem Sinne gibt es heute nur noch einen verschleierten Goya. Wieso wollen die Anhänger der Diversität unbedingt mit ihren Gedanken in meinen Kopf, in den Kopf des Künstlers hinein und schon in seinem Arbeitsvorgang, seiner Arbeitspraxis für Ordnung sorgen, wo mir, ihr, der Kunst doch Freiheit verbrieft zugesagt und erlaubt ist? Das ist die zentrale Frage. Und welche Vorgänger in der Kunst, beispielsweise in der Hofmalerei agierten vergleichbar? Und warum? Wieso ist politische Einflussnahme auf die Kunst plötzlich wieder hoffähig? Welche Angst verbirgt sich dahinter? Die Angst vor freier Entfaltung und entfesselter Energie.
Wenn ich mich mal auf die Zweiteilung der Debatte einlasse, so wie Wolf sie hier vorgeschlagen hat, dann nervt mich an der Seite „Pollesch“ vor allem die Selbstbezüglichkeit. Der Referenzbetrieb für alles in der Gesellschaft ist die Kunst, ist das theater. Als Theaterfreund, aber nicht -mitarbeiter wirkt das oft einfallslos und auch entrückt von anderen Realitäten. Das mögen Gewerkschaften ua zum Thema machen, aber auf der Bühne muss das ja nun nicht jedesmal verhandelt werden.
Wenn sich allerdings die Autoren, Dramaturgen u Co. aus ihrem Kosmos herausbewegen, dann wird es oft derart politisch platt, dass ich mir wieder wünsche, sie sollten doch lieber wieder Diversity-Issues kn Theatern verhandeln.
Vielleicht ist das der große Vorteil der „Kunst“, der Seite „Harzer“, der „Romantik“: Texte und Figuren sind so groß, so rätselhaft, so komplex, dass ich zum denken angeregt werde.
Warum der Kost neben der Köstlichkeit ihre Nahrhaftigkeit absprechen? - ganz egal, was hier was ist?