Presseschau vom 26. Juni 2019 – Eine AfD-Anfrage im baden-württembergischen Landtag fordert die Auflistung von Staatsangehörigkeiten und Ausbildungsorten von Theatermitarbeiter*innen

Erste Anfrage dieser Art in Westdeutschland

Erste Anfrage dieser Art in Westdeutschland

26. Juni 2019. Die Stuttgarter Zeitung berichtet über eine Anfrage der AfD-Abgeordneten Rainer Balzer und Klaus Dürr im baden-württembergischen Landtag, in dem diese das Kunstministerium des Landes dazu auffordern, die Staatsangehörigkeiten und Ausbildungsorte der an Baden-Württembergs staatlichen Theatern tätigen Tänzer*innen, Orchestermusiker*innen und Sänger*innen offenzulegen – hier die Anfrage im Wortlaut.

"Das Kunstministerium sieht sich in der Pflicht, dem Anliegen der AfD nachzukommen und die Frage nach der Herkunft der Künstler zu beantworten", schreibt die Stuttgarter Zeitung und zitiert den Pressesprecher des Ministeriums Roland Böhm: "Wir beheimaten in Baden-Württemberg hervorragende Künstlerinnen und Künstler aller Sparten aus allen Ländern." Diese Ausrichtung stehe für die Vielfalt der Kulturszene und für Toleranz und Weltoffenheit. Auch der geschäftsführende Intendant der Staatstheater Stuttgart, dem mit über tausend Mitarbeitern größten staatlichen Kulturbetrieb in Baden-Württemberg, Marc-Oliver Hendriks betont der Zeitung gegenüber, man sei "ein den darstellenden Künsten verpflichtetes, weltzugewandtes Theater, das Künstlerinnen und Künstlern aller Kontinente Heimat ist".

Auch der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Bündnis 90/Die Grünen) positionierte sich per Twitter:

 

Dem Gesuch der AfD werde nun "trotz interner Widerstände" Folge geleistet, so die Stuttgarter Zeitung unter Berufung auf Staatstheater-Kommunikationschef Thomas Koch. Die Auswertung werde kommende Woche fertig sein. "Da die Staatstheater aber niemals Buch über die Herkunft der Künstler geführt hätten, sei der Aufwand, jetzt entsprechende Listen anfertigen zu müssen, immens."

Auf Twitter griff die Theaterwissenschaftlerin und Regensburger Stadtrats-Abgeordnete Tina Lorenz den Fall auf und forderte die mit der Erstellung der Listen beauftragten Theatermitarbeiter*innen auf in den Streik zu treten: "Habt Sehnenscheidenentzündungen, kaputte Computer, kranke Haustiere. Nehmt hitzefrei, löscht aus Versehen das gesamte Mitarbeiter*innenverzeichnis, lasst eure theasoft-Instanz dauerabstürzen. ABER SCHREIBT KEINE LISTEN FÜR NAZIS, egal, was eure Häuser wollen."

Nachdem Lorenz' Twitter-Thread vielfach verbreitet worden war, wandte sich die Oper Stuttgart an Lorenz, die die Nachricht auf Twitter weiterleitete: "Die AfD hat eine Kleine Anfrage beim Landtag gestellt – übliche parlamentarische Praxis, und der Landtag MUSS diese bearbeiten, wir MÜSSEN als staatliche Institution eine Auflistung liefern (ohne Namen natürlich). (...) Das Schauspiel ist übrigens nicht betroffen (...). Der Artikel der StZ ist schon irreführend, dein Tweet leider noch mehr. Das Ganze ist echt schlimm genug für uns – und natürlich ist die Anfrage total widerwärtig."

Am Nachmittag schrieb die Staatsoper Stuttgart dann selbst auf Twitter:

 

Auf telefonische Nachfrage von nachtkritik.de bestätigte Opern-Kommunikationsdirektor Johannes Lachermeier, dass die Anfrage zwar beantwortet werden würde, aber nicht mit den geforderten Auflistungen.

"Die Anfrage ist zwar die erste ihrer Art in Westdeutschland", schreibt die Stuttgarter Zeitung noch in ihrem Bericht. "Im Osten hat es aber bereits mehrfach ähnlich formulierte Forderungen gegeben, den staatlichen Kulturbetrieb zu durchleuchten."

(sd)


Die Staatsoper Stuttgart hat auf ihrer Website unter dem Titel Kunst kennt keine Grenzen ihre Stellungnahme zur AfD-Anfrage veröffentlicht.

Im Interview mit dem SWR 2-Magazin „Journal am Mittag“ (26.6.2019) stuft Peter Spuhler, Generalintendant des Badischen Staatstheaters Karlsruhe, die parlamentarische Anfrage der AfD als Missbrauch eines wichtigen demokratischen Kontrollinstruments ein, stellt aber in Aussicht, die angeforderte Auflistung pflichtgemäß anzufertigen, wobei die konkreten Herkunftsländer unter "Wahrung des Persönlichkeitsschutzes der Betroffenen" nicht genannt würden, sondern nur "wie viele unterschiedliche Länder das sind". Hier das komplette Radio-Interview.

Kommentare  
AfD-Anfrage: Grammatik
Die Anfrage sollte man korrekt beantworten:

Bei Frage 4 "Welche Staatsangehörigkeit haben sie..." bezieht sich das "sie" grammatikalisch auf die Orchester und bei Frage 6 entsprechend auf die Opernstudios. Die Orchester und Opernstudios stammen ausnahmslos aus Baden-Württemberg und haben auch dort ihre Ausbildung erhalten. Allerdings von Künstlern aus der ganzen Welt.
AfD-Anfrage: Ergänzung
Zu 1. ist zu ergänzen, dass weder Orchester noch Opernstudios über eine Staatsangehörigkeit verfügen können.
Ist schon nicht so einfach, die deutsche Sprache.
AfD-Anfrage: Lehre aus der Geschichte
Aus dem Leben des großen Schauspielers Otto Tausig: Aus dem Exil nach Österreich zurückgekehrt und am Reinhardt-Seminar ausgebildet, sprach Tausig am Grazer Theater vor. Der Direktor wollte ihn zunächst gar nicht, dann jedoch für 200 Schilling im Monat nehmen. Das reichte Tausig nicht. Der Direktor erhöhte das Angebot. Als er bei 400 Schilling angelangt war, fragte er Tausig: "Entschuldigen Sie, sind Sie eigentlich Jude?" Tausig fragte zurück: "Wieso, hat das was mit dem Engagement zu tun?" Der Direktor entrüstete sich: "Aber nein! Einige meiner besten Freunde sind Juden. Aber sie wissen ja, Graz, die Stadt der Erhebung..." Die Gagenverhandlungen gingen weiter. Als jedoch das von Tausig angepeilte Ziel von 600 Schilling im Monat und zwei garantierten Rollen pro Spielzeit erreicht war, sagte er dem Direktor: "Seien Sie mir nicht bös, aber bei Ihnen möcht ich nicht engagiert sein." Jetzt fragt die AfD nach der Staatsangehörigkeit von Künstlern an staatlichen Bühnen. Noch überwiegt die Empörung. Aber die AfD weiß wohl, womit man über kurz oder lang Wählerstimmen gewinnt. Man sollte sich davor hüten, sich auf den gegenwärtig scheinbaren Konsens zu verlassen. Nach dem Beschluss der Nürnberger Gesetze dauerte es nicht lange, bis Schauspieler*innen, Sänger*innen, Tänzer*innen, Orchestermusiker*innen, die zuvor niemand nach ihrem Ariernachweis gefragt hatte, entlassen wurden. Der Widerstand war gering. Mit Listen fängt es an. Die Grammatik ist dabei das kleinste Problem.
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