"Er muss mir recht geraten"

von Georg Kasch

Berlin, 2. Juli 2019. Loben ist eine Kunst. Eltern wissen das. Kritiker*innen auch. Wer alles akklamiert, läuft Gefahr, die Maßstäbe zu verwischen, die Wertschätzung zu entwerten. Wer aber zu wenig lobt, zerstört. Wirklich? "Der Tadel meiner Mutter war der Kraftstoff, der meinen intellektuellen und emotionalen Motor speiste", schreibt C. Bernd Sucher in seiner Doppel(auto)biografie "Mamsi und ich". Klingt ja erst mal gut.

Starke Verben

Der Motor lief schließlich auf Hochtouren: Sucher war in den 80er und 90er Jahren einer der führenden Kritiker der Republik, leitender Theaterredakteur der Süddeutschen Zeitung, mehrmaliger Theatertreffenjuror, Buchautor. Er gründete vor gut 20 Jahren den Münchner Studiengang Theater- Film- und Fernsehkritik und leitet ihn als Professor bis heute, reist außerdem mit "Suchers Leidenschaften" im Dienst seiner Lieblingsautor*innen durch die Welt.

Sucher C Bernd 280 Thomas Dashuber Piper Verlag uDer Theaterkritiker C. Bernd Sucher
© Thomas Dashuber / Piper Verlag
Eigentlich verbietet es sich ja, Werke von Menschen zu rezensieren, mit denen einen gemeinsame biografische Wege verbinden. Hier liegt die Sache komplizierter. Denn "Mamsi und ich" wurde für mich – abgesehen davon, dass es ein wirklich spannendes Buch ist, man rast über die Seiten – eine Schlüssellektüre. Ich habe 2006 bis 2008 bei C. Bernd Sucher in München studiert, dabei Vieles gelernt, das ich heute wiederum an meine Studierenden weitergebe. Etwa, dass starke, also gewählte Verben der Schlüssel einer sinnlichen Beschreibung sind. Aber ich, ja, wir alle, die wir den Schilderungen seiner Gipfelerstürmungen lauschten, haben selbst wenig Lob, wenig Anerkennung für eigene Erfolge erfahren.

Erzählendes Forschen

Warum? Die Antwort steht im Buch. Hier lernt man einen Getriebenen kennen, der sein Leben lang um Liebe kämpft. Um die Zuneigung, die Bewunderung einer Mutter, die ihm beides verwehrt. Es ist die Geschichte einer zutiefst Traumatisierten, die dieses Trauma an ihren Sohn weiterreicht. Margot Sucher, geborene Artmann, stammt aus einer großbürgerlich säkular-jüdischen Familie. Aus einem Leben in größtem Komfort werden sie und ihre Mutter nach dem allmählichen Verlust ihrer bürgerlichen Rechte deportiert. Suchers Großmutter stirbt im KZ, Margot erlebt Entsetzliches: Willkürmorde, körperliche Misshandlungen, unzählige Vergewaltigungen.

Wie Sucher das erforscht und erzählt, nach und nach den Details seiner Familiengeschichte auf die Spur kommt, in Tagebuchnotizen, Briefen, Recherchen, liest sich so packend wie peinigend. Es ist eine alte Geschichte, doch muss man sie sich immer neu erzählen: Wie konnte ein ganzes Land so verrohen? Wie konnten Nachbarn, Freunde, Kunden Menschenrechtsverletzungen dieses Ausmaßes ignorieren? Warum haben fast alle weggeschaut?

Erschütternde Märchenhaftigkeit

Margot gelingt die Flucht aus dem KZ. Sie überlebt. Und heiratet nach dem Krieg, ausgerechnet, den Sohn eines Nazi-Sympathisanten, der ihr intellektuell und sozial unterlegen ist. Einen Mann zudem, dessen Vater zur Bedingung einer Heirat macht, dass die Kinder evangelisch erzogen werden. Nach einer weiteren Flucht – diesmal von Ost- nach Westdeutschland – müssen sie ganz neu anfangen, in bescheidenen Verhältnissen, aus denen sie nie herauskommen. Während sie ihre eigene jüdische Identität nicht lebt, nahezu verleugnet, setzt sie alles daran, den Sohn das werden zu lassen, was ihr selbst verwehrt war. Dazu greift sie zu allen Mitteln, spornt ihren Sohn zu Höchstleistungen an, hat aber keine Umarmung, kein Lob für ihn, beauftragt stattdessen den Vater, Prügelstrafen zu vollziehen. Eine Mutter, die noch vor seiner Geburt beschließt: "Er soll, er muss mir recht geraten." Wie kann man vor so einer Mutter bestehen?
Gar nicht.

So liest sich Suchers Erfolgs-Lebensgeschichte als eine des beständigen Scheiterns. Weil er von seiner Mutter, für die er Erfolg um Erfolg erringt, nie die Anerkennung erhält, die er erhofft. Es ist von erschütternder Märchenhaftigkeit, wie er ihr wieder und wieder von Meilensteinen berichtet – und sie wieder und wieder ätzt, das sei ja noch gar nichts, er müsse erst dies und das erreichen, um sich zu etablieren. Und wenn er auch diese Hürde genommen hat, fällt ihr eine neue Aufgabe für ihn ein.

Buch Sucher Mamsi und ich CoverDu hast mich nie getröstet!

Einmal wehrt er sich, fasst in einem Brief zusammen, was sie ihm antut: "Seit ich denken kann, nörgelst Du an mir herum. Schlimmer: Du hast mich gemaßregelt. Du hast mich verletzt. Du hast mich verraten – der ärgste Verrat war, als Du meinem Vater erzähltest, was ich Dich zu verheimlichen bat: meine Homosexualität. Du hast ihn gebeten, mich zu schlagen ... Du hast mich nie in den Arm genommen; Du hast mich nie getröstet, Du hast mich nie gestreichelt ... Wie viele Qualen und Demütigungen hast Du mir zugefügt. ... Keinen meiner Erfolge hast Du gewürdigt." Den Brief schickt er – wie sein Held Franz Kafka – nie ab.

Natürlich erfährt man im Buch auch Aufschlussreiches über die Arbeit in der Süddeutschen Zeitung, über Künstler*innen, überhaupt Theaterkritik in den fetten, dann aber rapide magerer werden Zeiten der Printmedien. Dennoch ist es vor allem Suchers schonungslose Offenheit sich selbst gegenüber, die dieses Buch so bemerkenswert macht. Weil sich da einer, der Macht und Einfluss hat und sich mit fast 70 auch einfach auf seinen Lorbeeren ausruhen könnte, entblößt, angreifbar macht. "Ich will bewundert, will geliebt werden“, schreibt Sucher einmal. "Meine Mutter, die offensichtlich ähnliche Probleme hatte, besaß, auch dies ist ein Zeichen dieser Krankheit, wenig Einfühlsamkeit und keine emotionale Wärme, die sie an andere, nicht einmal an ihre Kinder, hätte weitergeben können." Selbstdiagnose: "narzisstische Selbstüberschätzung".

Zeige deine Wunde

So fügt sich das Bild eines kleinen Jungen, der mit großen, neugierigen Augen in die Welt schaut, um Liebe und Zuneigung bittet, aber nie ankommt. Oder doch? Zwei Dinge sind es, die den Untertitel des Buches "Die Geschichte einer Befreiung" einlösen. Zum einen jene Passagen, in denen Sucher beschreibt, wie er seine Rolle als schwuler Mann und Jude gefunden hat, an der Seite seines Mannes, in der Münchner liberalen Gemeinde, auf der Bühne, auch in konservativen bayerischen Kreisen. Zum anderen das gesamte Buch, das seine Wunden zeigt. Glaubt man Joseph Beuys, Christoph Schlingensief und anderen, stehen die Heilungschancen gut.

 

Mamsi und ich. Die Geschichte einer Befreiung
von C. Bernd Sucher
Piper Verlag, 256 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, 20 Euro

 

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