Willkürjustiz

von Alexander Jürgs

Bad Hersfeld, 5. Juli 2019. Die Paparazzi sind da, noch bevor er von den Anschuldigungen überhaupt etwas erfährt. Schleichen sich an den Glaskasten, in dem er sich im Bett hin und her wälzt, drücken dem einen die Geldscheine in die Hand, schießen ihre Fotos, klick, klick, klick, und sind genauso schnell wieder verschwunden.

Tipps "von Knacki zu Knacki"

Erst danach kommen die Männer in den Trenchcoats, mit den schweren schwarzen Stiefeln und den ins Gesicht gezogenen Hüten, die Josef K., am Morgen seines 30. Geburtstags, festnehmen. Beschuldigt wird er, angeklagt – nur für was, das kann er sich nicht erklären. Jeder andere aber scheint es genau zu wissen. Die Gerüchte über K., den erfolgreichen wie zuverlässigen Bankprokuristen, das "goldene Pferd im Stall", sind längst in der Welt.

Prozess 1 560 BHF KLefebvre uAnklage ohne Grund: Kafka in der Stiftsruine, im Bühnenbild von Jens Kilian © Klaus Lefebvre

"Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet": So lautet der berühmte erste Satz von Franz Kafkas Fragment gebliebenem "Der Prozess", dessen Einzelteile erst durch die Montage von Max Brod zum Roman wurden. Für Joern Hinkel, den Intendanten der Bad Hersfelder Festspiele, ist es ein Stoff von aktueller Brisanz. Mit seiner Bühnenfassung des Romanfragments eröffnet er das Festival in der schmucken Stiftsruine im Norden Hessens.

Erzählt wird im "Prozess" von einem, der grundlos inhaftiert wird, von einem Regime, dass die Grundrechte außer Kraft setzt – weil es das kann, weil es ihm nützt. Noch immer gibt es allzu viele Länder, in denen eine solche Willkürjustiz an der Tagesordnung ist – etwa in der Türkei. So hält Deniz Yücel, der "Welt"-Journalist, der in der Türkei  ein Jahr lang unschuldig im Gefängnis saß, in Bad Hersfeld nun die Festrede vor der Aufführung. Für ihn ist Kafkas Figur ein Bruder im Geiste. "Von Knacki zu Knacki" gibt er Josef K. sieben Tipps, wie man die unrechtmäßige Verfolgung besser durchsteht.

In der Überzeichnnung

Gespielt wird auf der weiten Bühne zwischen Reihen aus schwarzen Aktenschränken, die sich bewegen lassen, die immer wieder neu positioniert werden können. Im Ensemble sind auch einige Stars der alten Bundesrepublik: Ingrid Steeger gibt das Fräulein Montag, eine gestürzte Größe des Showbiz. Joern Hinkel hat ihr sogar ihren alten "Klimbim"-Spruch "Dann mach ich mir 'nen Schlitz ins Kleid und find es wunderbar" ins Textbuch geschrieben.

Die wunderbare Marianne Sägebrecht spielt Frau Gubrach, die treuherzige Haushälterin von Josef K., eine Seele von einem Mensch. Viele Szenen haben, wenn wohl zwei Dutzend Statisten zwischen den Schauspielern hin und her eilen, etwas Wuseliges, etwas Maschinenrhythmushaftes. An den expressionistischen Stummfilm kann man in solchen Momenten denken. Bei den Szenen, die im Nachtclub "Eldorado" spielen, hat man eher "Babylon Berlin" im Kopf.

Prozess 4 560 BHF KLefebvre uJosef K., von Paparazzi verfolgt: Thorsten Nindel (Titorelli) , Ronny Miersch (Franz K.), Ingrid Steeger (Fräulein Montag) © Klaus Lefebvre

Das Problem an Hinkels Inszenierung ist, dass es oft allzu überdeutlich wird, dass es immer wieder plakativ wird. Da hört man dann lautes Uhrenticken, Gewitterdonner und bedeutungsschwangere Musik, da stromern die Schnüffler im Columbo-Look über die Bühne, da betont der eitle und bettlägerige, von Dieter Laser gespielte Advokat Huld jedes Wort einzeln und quälend langsam. Oder der Titorelli, den Thorsten Nindel gibt: Er erscheint als zynischer, getriebener Pressefotograf mit Basecap und Bomberjacke, eine Figur wie aus einer Mediensatire.

Bitteres Lachen

Weil Hinkel die Figuren so überzeichnet, wird seine Inszenierung oft zur Komödie, zur Groteske. Das Beklemmende des Romans bleibt dabei jedoch auf der Strecke, das Bedrohliche, die Ausweglosigkeit der Situation. Von der "quälenden Angst, die uns aus dem Buch anweht" hat André Gide über Kafkas Schlüsselwerk geschrieben – in der Inszenierung würde man davon gerne mehr spüren.

Wodurch der Abend trotzdem überzeugt, ist, wie Ronny Miersch die Wandlungen des Josef K. spielt. Wie er zunächst versucht, sich über die Verhaftung zu amüsieren, weil er glaubt, dass seine Kollegen ihm zum Geburtstag einen Streich spielen wollen. Wie er sich dann auflehnt und rebelliert. Wie er sich Hoffnung macht, indem er sich in seinen Fall hineinvertieft und mit dem Anwalt spricht. Wie die Verzweiflung dann aber auch bald wieder Überhand nimmt, wie sein Blick immer ungläubiger und panischer wird. Und wie er, am Schluss, ganz klein und geduckt vor einer von wallendem schwarzen Stoff umhüllten Justizia steht. Sein Todesurteil steht da längst. Josef K. quittiert es – mit einem bitteren Lachen.

 

Der Prozess
von Franz Kafka
in einer Fassung von Joern Hinkel
Regie: Joern Hinkel, Bühne: Jens Kilian, Kostüme: Kerstin Micheel, Musik: Jörg Gollasch, Choreographie: Jurriaan Bles
Mit: Ronny Miersch, Marianne Sägebrecht, Dieter Laser, Thorsten Nindel, Corinna Pohlmann, Ingrid Steeger, Lou Zöllkau, Thomas Maximilian Held, Markus Majowski, Maria Radomski, Jürgen Hartmann, Mathias Schlung, Günter Alt, Nicole Sydow, Jule Gölsdorf
Premiere am 5. Juli 2019
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.bad-hersfelder-festspiele.de


Kritikenrundschau

"Der Wechsel an der Spitze ist kaum spürbar, Joern Hinkel, Wedels langjähriger Assistent, setzt auf same procedure as every year. Er will vor allem gute Unterhaltung bieten", schreibt Adrienne Braun in der Süddeutschen Zeitung (9.7.2019), "weshalb er in seiner stark bearbeiteten Fassung von Kafkas 'Prozess' auf Humor gesetzt hat. 'Was macht eine Bombe im Bordell?', fragt da K.s Chef - 'Puff!'" Die riesige Bühne der Stiftsruine mache es der Regie nicht einfach, Konzentration zu erzeugen," zumal ein stetes Treiben herrscht, das begleitet wird von einem diffusen Sound aus Tropfen, Klappern, Beben, Dröhnen". Hinkel scheint alle Interpretationen des Stoffs bedienen zu wollen. "Als sich bei Josef K. schließlich Verzweiflung breit macht, bekommt der Abend doch noch etwas Zug. Bei Kafka wird er ermordet, in Bad Hersfeld steht er zum Schluss blutverschmiert auf der Bühne - und lacht."

"Ein bewegender Theaterabend, gleichermaßen präzise und mit Bildern voll universeller Kraft", schreibt Bettina Fraschke in der HNA (8.7.2019). Franz Kafkas Roman, ergänzt mit weiteren Textbausteinen bis zum aktuellen Fall Claas Relotius, ist Grundlage für das Theaterstück. "Josef K.s Bett steht in einem Glaskasten. Freunde wie Fremde lassen wir heute noch in unsere intimsten Lebenswinkel blicken – und wundern uns dann, wenn plötzlich zwei Finsterlinge neben dem Plumeau stehen und anfangen, das Private durchzuwühlen." Solche Bilder seien bezeichnend für die geniale Verbindung, die Hinkel ins Heute hinein knüpft, ohne platt mit Social-Media-Accessoires zu hantieren.

Karl Schönholtz von der Hersfelder Zeitung (online 6.7.2019) lobt, "mit wieviel Liebe zum Stück und Akribie Joern Hinkel die Charaktere gestaltet hat". Der Stoff werde "in die Gegenwart geholt" und "Kafkas Sprache entstaubt und Figuren weiter entwickelt", schreibt der Kritiker. "Schon angesichts dessen, was aktuell in der Welt passiert, hätte man Hinkels Deutung nicht in Frage gestellt. Im Zusammenspiel mit dem der Premiere vorausgegangenen Festakt, bei dem der in der Türkei zu Unrecht inhaftierte Journalist Deniz Yücel die Festrede hielt, wird daraus aber ein machtvolles Statement der Festspiele gegen Willkür und Gewalt."

 

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