Theater des Verstummens

von Elisabeth Maier

Avignon, 5. Juli 2019. Geist und Körper eines großen Architekten zerfallen in Pascal Ramberts Familiendrama "Architecture". Der französische Autor und Regisseur, der vor 30 Jahren erstmals beim Festival d'Avignon war und seither regelmäßig hier gastiert, blickt auf das 20. Jahrhundert und seine Kriegszeiten und zeichnet die Geschichte von Menschen nach, die an Hass und Brutalität zerbrechen. Sein Drama beginnt am Ende des 19. Jahrhunderts in den frühen Jahren der Moderne, reicht über den Ersten Weltkrieg hinaus und umspannt insgesamt einen Zeitraum von 30 Jahren.

Ein Totentanz

Große, wenngleich oft extrem pathetische Schauspielkunst macht den Reiz dieses Totentanzes aus, in den Rambert sein Star-Ensemble aus französischen Film- und Theaterschauspielern verstrickt. Wie sehr die Dramatiker seine Rollen auf die Spielerinnen und Spieler zuschreibt, ist schon im Textbuch zu erkennen. Die Akteure tragen ihre eigenen Vornamen.

Architecture5 560 Christophe Raynaud de Lage xVersammelt um den Patriarchen: Audrey Bonnet, Jacques Weber, Emmanuelle Béart, Arthur Nauzyciel © Christophe Raynaud de Lage

Vor den mächtigen Mauern des Papstpalastes von Avignon aus dem 14. Jahrhundert wirken die Menschen klein und zerbrechlich. Um den historischen Kontext zu skizzieren, hat Harold Mollett Möbel ausgesucht, die Geschichte spiegeln. Biedermeier und Bauhaus stehen da nebeneinander. Mit weißen Tüchern wird die Vergangenheit zu- und wieder aufgedeckt, wird die Sprache der Architektur im historischen Kontext verortet. Die besondere Bauweise des Palastes, der für die Macht der katholischen Kirche steht, denkt Rambert mit. Anais Romand hat Kostüme geschaffen, die Epochen klar abgrenzen – und die dennoch zeitlos schön sind.

Vaters Verfall

Ohnmacht ist Pascal Ramberts Thema. Bei hochsommerlicher Hitze, die in Südfrankreich auch nach Stückbeginn um 21.30 Uhr erst langsam nachlässt, liefern sich die Akteure emotionale Gefechte. Der übermächtige Vater Jacques konfrontiert seinen Sohn Stan, dem Philosophen Ludwig Wittgenstein nachempfunden, mit blankem Hass. Stanislas Nordey verkörpert die Rolle des einsamen Genies ebenso stark wie zerbrechlich, besticht in Augenblicken der Verzweiflung. Dass Jacques Weber in der Rolle des Seniors gegen die schleichende Demenz kämpft, zeigt Rambert subtil im Zerfall der Sprache. Damit übte der Patriarch einst seine Macht aus. Jetzt verlieren die Silben immer öfter ihren Sinn.

In dieser Familienaufstellung erkämpft sich Emmanuelle (alias Emmanuelle Béart) mit erotischen Gedichten ein kleines bisschen Freiheit. Doch der Krieg zerstört ihr Leben ebenso wie das der ganzen Familie, die für die geistige Größe des im Krieg zerfallenden Europas steht. Auf ihrer Geige verzerrt Marie-Sophie Ferdane als Ehefrau des Patriarchen Jacques die Töne. Ihr vergeblicher Kampf um die Beziehung mit dem Mann, der immer mehr in die geistige Umnachtung entgleitet, hat wahre Größe.

Architecture1 560 Christophe Raynaud de Lage xTanz im Papstpalast: Marie-Sophie Ferdane © Christophe Raynaud de Lage

Dass Rambert die psychologischen Dispositionen der Familienmitglieder in langen Monologen entfaltet, bringt die Dramaturgie des Abends erheblich ins Stocken. Und die allzu überladene Rhetorik der Schauspieler verstellt den Blick auf seine klugen gesellschaftlichen Analysen. Einigen Zuschauern wurde der Abend zu lang. Sie verließen die Zuschauertribüne, oder sie kamen nach der Pause erst gar nicht wieder.

Die Längen von "Architecture" sind nicht zuletzt Ramberts Fokus auf die Schauspielkunst anzukreiden. Sein psychologischer Ansatz, der in der Bühnenfassung klar im Vordergrund steht, verwässert das große Potenzial des Textes, gesellschaftliche Diskurse der Moderne auf dem Hintergrund heutiger Zeiterfahrung kritisch weiterzudenken. "Architecture" zeigt, wie Kriege die Menschen und ihre Sprache zerstören. "Wir wissen nicht mehr, was wir sagen", merkt Stan einmal an und bringt damit die Krankheit der Zeit auf den Punkt. Diese Sprachlosigkeit ist Triebfeder von Pascal Ramberts Theater des Verstummens.

 

Architecture
von Pascal Rambert
Regie, Konzeption und Installation: Pascal Rambert, Lichtdesign: Yves Godin, Kostüme: Amals Romand, Musik: Alexandre Meyer, Möbel: Harold Mollet, Choreographie: Thierry Thieu Niang, Gesangsstudien: Francine Acolas.
Mit: Emmanuelle Béart, Audrey Bonnet, Anne Brochet, Marie-Sophie Ferdane, Arthur Nauzyciel, Stanislas Nordey, Denis Podalydès / Pascal Rénéric, Laurent Poitrenaux, Jacques Weber.
Premiere am 4. Juli 2019
Dauer: 3 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.festival-avignon.com



Kritikenrundschau

Zwar prominent besetzt sei Pascal Ramberts neues Stück "Architecture", schreibt Joseph Hanimann in der Süddeutschen Zeitung (8.7.2019). Aber "es ist die schwächste Festivaleröffnung in Avignon seit Jahren". Vorgeführt werde, wie eine Künstlerfamilie in einem fingierten Mitteleuropa im verbalen Dauerkrieg an der zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg sich anbahnenden Katastrophe vorbeiredet. "Da diese Katastrophe von Nationalismus, Rassismus und Faschismus aber immer nur behauptet wird, verliert sich die Aufführung in lärmender Geschwätzigkeit." Hanimanns Zwischenfazit nach dem Auftakt des Festivals: "Das Theaterfestival gibt sich in diesem Jahr politischer denn je. Am stärksten ist es, wenn es aufs Moralisieren verzichtet." Ein Thema ergebe dort das nächste, "wer von der Odyssee der Flüchtlinge und Migranten spricht, spricht auch vom Sehnsuchtsort Europa, seinen Verheißungen, seinen Verkrampfungen, seinem Versagen."

Für Deutschlandfunk (5.7.2019) berichtet Eberhard Spreng aus Avignon (hier im Audiofile und hier in Textform): Die "Lehren des großwollenden Textes verhallen folgenlos. Denn Pascal Ramberts Personen sind nur Figurenskizzen im Familiendrama. Unversehens werden sie zum Vehikel für gedankliche Konzepte, scheren aus dem Psychosystem aus in lange poetische Exkursionen." So bleibe für den Kritiker "als isolierte Momente des Theatervergnügens einer warmen Sommernacht: Einzelne schauspielerische Glanzleistungen." (Als "großartig" herausgehoben werden Stanislas Nordey und Emmanuelle Béart).

Als "Flop" stuft Andreas Klaeui diesen Abend im Gespräch für "Kultur kompakt" auf SFR 2 (5.7.2019) ein. Das Stück sei "auf dem Reissbrett entworfen" und bleibe gemessen an seinen Vorbildern ("Il Gattopardo" oder Viscontis Film "La caduta degli die") "doch sehr geschwätzig und aus zweiter Hand". Auch entstehe kein "Ensemblespiel". Der auf die Akteure maßgeschneiderte Text bediene das "Klischee" der Stars, und "darauf 'setzen' sie sich dann sozusagen, jeder spielt seine Maschen und seine kleinen Eitelkeiten aus".

"Blei­ern stampft Pas­cal Ram­berts vier­stün­di­ge Er­öff­nungs­in­sze­nie­rung über die Büh­ne", schreibt Grete Götze in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (12.7.2019). "Schau­spiel­grö­ßen wie Em­ma­nu­el­le Béart und Jac­ques We­ber wer­den (...) von den hoh­len Text­mas­sen er­schla­gen, die Ram­bert ih­nen in den Mund legt. Es ist ein sta­ti­sches De­kla­mier­thea­ter, das den rie­si­gen Cour d'Hon­neur des Papst­pa­las­tes von Avi­gnon nicht aus­füllt."

 

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