Fortschritt: stop

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 10. Juli 2019. So klingt Zerstörung: fies brüllend, elektronisch verzerrt, stampfend – wie Maschinenlärm eben oder eine Großbaustelle. Ein ohrenbetäubendes fünfminütiges Intro, mit dem das Stuttgarter Citizen.Kane.Kollektiv im Stuttgarter FITZ seine Performance "Stuttgart Wrackstadt" beginnt. Schließlich hat sich das siebenköpfige Ensemble ein brisantes Thema vorgeknöpft: Was wäre, wenn die Autoindustrie in der Stuttgarter Region, wenn Daimler zusammenbräche? Was hätte das für Folgen für die Stadt, für die Menschen?

Stuttgart goes Detroit

Die Vision, die Citizen.Kane evoziert, ist unheimlich. Stuttgart: eine urbane Wüste, menschenentleert, Risse in den Straßen wie Wunden, Raum, den sich die Natur zurückholt. Der Text wird von zwei Männern sonor von der Seite gesprochen. Erst später merkt man, dass die beiden nicht über Reales, sondern über ein filigran gebautes Stadt-Modell reden: Ein ruiniertes Modell sei die radikalste Kritik an der Gegenwart. Hinten, auf der Leinwand, sieht man die Kamera über Modell-Wohnblöcke und den Bahnhof fahren.

STUTTGART WRACKSTADT 4 560 Foto von Alex WunschSarah Kempin, Simon Kubat, Andrea Leonetti © Alex Wunsch

Zwei junge Frauen röhren zu schrillen punkigen Gitarrenriffs, hüpfen dazu exaltiert wie Gummibälle – in Jeanslatzhose respektive Bauch-frei-Outfit. Über zu wenig Abwechslung kann man sich an diesem Abend nicht beklagen: Leiber, die gespannt wie Flitzebogen in die Höhe klappen oder furchtbar zittern; ein Mann, der auf einem Pferd – raffiniert gebaut aus Autoreifen – skurrile Gymnastikübungen vollführt; eine Frau, die auf einem Lowrider-Fahrrad ihre Runden dreht und dabei ihre Albträume von Flugzeugabstürzen und Ertränkungskommandos herausschreit; eine Coacherin, die von ihrer sinnentleerten Aufgabe berichtet, Manager*innen zu emotionalen und sozialen Kompetenzen und zu Empathie zu verhelfen, während die Firma, von der sie beauftragt wurde, in Starre verharrt und es vor dem Aktienabsturz gerade mal fertigbringt, in ihren Büros die Krawattenpflicht abzuschaffen. Dumm gelaufen, wo soll man jetzt hin mit all der Empathie?

Fetisch Auto

Die Idee ist gut. Stuttgart und seine Region halten den deutschen Fetisch Auto ganz besonders hoch. Schließlich lebt man hier ganz vorzüglich von der Autoindustrie. Aber was wird aus der aktuellen Krise dieser Branche? Entspannt sie sich wieder? Oder tritt ein Worstcase ein? Was passiert dann mit all den arbeitslosen Menschen? Solche Fragen stellt man sich hier in der Regel nicht, in diesem so sauberen, so reichen, so bequemen Stuttgart. Und klar, dass das Citizen.Kane.Kollektiv in 60 Minuten darauf auch nicht wirklich antworten kann. Nur ein bisschen zynisch witzeln. Über den arbeitslosen Auto-Ingenieur etwa, der sich mit Gleichgesinnten in ein Selbsthilfe-Pferde-Camp auf dem Lande zurückgezogen hat und sich von den Vierfüßlern nun die Seele streicheln lässt.

STUTTGART WRACKSTADT 5 560 Foto von Alex WunschAndrea Leonetti, Jürgen Kärcher, Jonas Bolle, Sarah Kempin, Ema Staicut, Simon Kubat, Christian Müller © Alex Wunsch

Blätterranken und ein Haufen alter Autoreifen schmücken die Bühne des FITZ; in der Luft hängt ein alter Diesel-Motor als Relikt aus uralten Zeiten. Man singt traurig-schöne Balladen von einer Welt, in der die Zivilisation schon weggebrochen ist, in der das lyrische Ich zu Fuß gehen muss, weil Bahnen und Züge stillstehen und das letzte Flugzeug längst vom Himmel gefallen ist.

Performativ im Trockeneis-Nebel

Fortschritt, heißt es einmal, berechtige dazu, alles so weiterlaufen zu lassen wie bisher. Der Abend stellt die richtigen Fragen. Auch wenn er performativ zu vage im Raum stehenbleibt – wie all der Trockeneis-Nebel, der immer wieder auf die Bühne gepustet wird.

Stuttgart Wrackstadt
vom Citizen.Kane.Kollektiv
Regie: Jonas Bolle, Christian Müller, Choreographie: Isabelle von Gatterburg, Dramaturgie: Martina Missel, Ausstattung: Jeannine Simon, Sound: Jonas Bolle, Licht: Doris Schopf, Video: Christopher Bühler und Leonard Mandl.
Mit: Jonas Bolle, Jürgen Kärcher, Sarah Kempin, Simon Kubat, Andrea Leonetti, Christian Müller, Ema Staicut.
Premiere am 10. Juli 2019
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.citizenkane.de

 

Kritikenrundschau

"Ein Modellbauer ist jemand, der, zumeist sehr akribisch, jene Verkleinerung schöpferisch gestaltet", schreibt Swantje Kubillus in Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten (12.7.2019). "Ein solcher Modellbauer war der Eisenbahnangestellte Wolfgang Frey. 1978 begann er, ausgehend vom Gleisfeld am Hauptbahnhof, ein Abbild der Stadt Stuttgart in einem Maßstab von 1:160 nachzubauen. Regelmäßig fuhr er nach seiner Arbeit im Hauptstellwerk zu einem Zwischengeschoss an der Haltestelle Schwabstraße und baute an seinem Modell. Nach seinem Tod wurde das 160 Quadratmeter große Stadtmodell umgesiedelt, doch bei dem Transfer zerbrachen Teile und blieben zurück." Ein Stück dieser zurückgelassenen Modellstadt habe das Citizen Kane Kollektiv nun gefunden und "Stuttgart Wrackstadt" darauf basiert. "Ein Modell eigne sich auch dazu, heißt es gegen Ende, Geschaffenes zu erproben, für gut oder schlecht zu befinden, zu verwerfen und wieder neu zu bauen", so Kubillus: "Ein Stück Hoffnung, in einem ansonsten düsteren Bild."

 

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