Ein Leben als Sohn

von Christian Muggenthaler

Bayreuth, 13. August 2019. Ach ja, die Geschichte kann ein ganz schöner Dreckhaufen sein. Sowohl die einer ganzen Nation als auch die ganz persönliche. In der Bayreuther Uraufführung des Monologs "Siegfried" von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel wandelt Siegfried Wagner, dessen Leben da ausgeleuchtet werden soll, auf einem Geviert aus Erde herum, wankt und stolziert im eigenen Grab, während oben kreisrund der Heiligenschein alles Wagnerianischen leuchtet, des großen Vaters Richard und der "Cosimamma", wie es im Text anmutig heißt. Diese Bühne (Ausstattung: Ramallah Sara Aubrecht) in einem alten, aufgelassenen Kino wird ansonsten nur noch geprägt von weißen Tüchern, einem Sessel, viel Wasser und der spröden Betonverschalung des Bühnenraums hinter der einstigen Leinwand: das Leben, ein Film?

Gefangener der Tradition

Erstmals bringen die Bayreuther Festspiele ein Schauspiel zu Uraufführung, es ist ein Stück in eigener Sache. Siegfried Wagner lebte von 1869 bis 1930 und leitete ab 1908 bis zu seinem Tod besagte Festspiele. Er war Dirigent, Komponist und vor allem: Sohn, eine Art Gefangener der Familientradition, als der er im Stück dargestellt werden soll. Zaimoglu und Senkel haben zwei Jahre aus dem Leben des Mannes gewählt, dessen Leben da auf die Bühne gebracht werden soll. 1914 und 1930, ein Krisen- und das Todesjahr, beides zugleich entscheidende Jahre in der Geschichte eines Landes, dessen martialisches, militaristisches, nationalistisches Gepränge sein Geschick allgemach ins Grab marschieren ließ.

Siegfried2 560 BF KonradFersterer uSiegfried in Sorge: Felix Römer © Bayreuther Festspiele / Konrad Fersterer

Dass das Auftragswerk jetzt in einem Kino aus dem Jahr 1927, heute die Kulturbühne "Reichshof", stattfinden kann mit all seiner regelrecht ungeschlachten Anmutung, ist der eine Glücksfall der Inszenierung. Der zweite ist die grundsätzliche Idee, die Figur auf zwei Darsteller zu verteilen, weil sich so solide Spannungsbögen ergeben innerhalb ihrer permanenten Zerrissenheit. Und der dritte ist die Wahl des Regisseurs Philipp Preuss, der aus der wortreichen Textfläche starke, eindrucksvolle Bilder zu bauen vermag, zusammen mit der Zauberkasten-Bühne Aubrechts, die durch stämmiges Licht-, Sound- und Videodesign und einer vogelwild wechselnden Kostümwahl Welten entsehen lässt voll magischer, alptraumhafter Brüchigkeit.

Ironisches Duett

Das beginnt mit einer kleinen Einstiegs-Inszenierung von Siegfried Wagners Libretto-Version des "Märchens vom dicken, fetten Pfannekuchen" nach den Gebrüdern Grimm, das Felix Axel Preißler und Felix Römer in hinreißendem, völlig überkandideltem, durchironisiertem Pathos in "Ring"-Gewandung geben, bevor der eine Siegfried wabernd vom aufrechten deutschen Kriegs-Heldentum schwafelt, während der andere in der Unfähigkeit, sich von seiner Rüstung zu befreien, scheppernd zusammenbricht. Preißler und Römer: zwei großartige, raumbeherrschende Schauspieler in weißer Unterwäsche-Grundausstattung, die unter sich den gesamten Abend lang ironische Distanz in der Bühnenfigur aufteilen zwischen Heldengestus und Homosexualität, Antisemitismus und Philanthropie, Kunstwollen und der innerfamiliären Gefangenschaft im Festspieldunstkreis.

Siegfried1 560 BF Konrad Fersterer uEin Monolog, zwei Spieler: Felix Axel Preißler, Felix Römer © Bayreuther Festspiele / Konrad Fersterer

Im Abseits

Wobei über all dem Tun und Treiben, so kunstfertig es daherkommt, der Blick auf den Menschen dahinter allmählich verstellt wird. Es rührt sich viel, aber es berührt davon wenig. Nicht nur der zuletzt aufgeblasene Riesen-Globus Wagner-Welt, sondern auch eine gehörige, durchaus auch aufgeblasene Textlast begräbt den Mann, auf den der Blick doch eigentlich gerichtet hätte werden sollen, um ihm womöglich auch gerecht zu werden hinter allem Bayreuther Wahnfried-Gestus. Dieses Experiment ist nur halb gelungen, weil der Gestus dann doch schon wieder – wengleich in ironisierter Form – mit Nebelmaschine und Waberwolken mit auf die Bühne drängt. Dadurch werden alle dokumentarischen Möglichkeiten einer empathischen Annäherung weiträumig ins Abseits gedrängt zugusten einer reinen Bühnenkunstfigur. Irgendwo weit dahinter ist jener Siegfried, um den es eigentlich geht, und der auch vor Publikum unberührbar einsam bleibt in seiner offenbaren Trostlosigkeit.

 

Siegfried. Ein Monolog
von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel
Regie: Philipp Preuss, Bühne und Kostüm: Ramallah Sara Aubrecht, Dramaturgie: Constanze Fröhlich, Lichtdesign: Carsten Rüger, Sounddesign: Alexander Nemitz, Videodesign: Konny Keller.
Mit: Felix Axel Preißler und Felix Römer.
Premiere am 13. August 2019
Dauer: 2 Sunden, keine Pause

www.bayreuther-festspiele.de

 


Kritikenrundschau

Philipp Preuss habe aus dem vorliegenden Monolog "handfestes Theater gemacht", schreibt Joachim Lange in der taz (15.8.2019). "Da Preuss den inneren Monolog nach außen verdoppelt, kommt er der inneren Zerrissenheit seines Helden per se nahe." Die Akteure "ziehen alle Register moderner Schauspielkunst", heißt es.

Von "zwei recht vergnüglich abwechslungsreichen Stunden eines Monologs, der auf zwei Schauspieler in wechselnder Gewandung und fluider Genderidentität verteilt ist", berichtet Manuel Brug in der Welt (15.8.2019). Zaimoglu hat "diese historiensatte, falltürträchtige Auftragsarbeit über einen sehr deutschen Fall elegant erledigt", und Preuss habe gleich "einem Wetterleuchten von der Berliner Volksbühne", aber "nicht ohne Raffinesse" inszeniert.

"Die sich vielfach widersprechenden, überlieferten Haltungen Siegfried Wagners zur politischen Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg werden in der Aufführung auf die beiden Siegfriede als Zwillingswesen aufgeteilt", berichtet Peter P. Pachl in der Neuen Musikzeitung (online 14.8.2019). „Das Uraufführungsteam hat den Dramentext stark gekürzt und auch selbst Texte ergänzt. Wenn dieser einmal gedruckt erscheint, ist in Zaimoglu/Senkels Stücktext sicherlich mehr Erhellendes nachzulesen."

"Das ist ein poetischer Text, fast lyrisch, mit vielen Bildern, mit neuen Bildern jenseits der Klischees. Es ist ein offener Text, der eigene Interpretationen zulässt, ein Text, den der Zuschauer mit eigenen Erlebnissen vervollständigen muss", sagt Stefan Petraschewsky im MDR (14.8.2019) über das Werk von Zaimoglu/Senkel. "Regisseur Philipp Preuss setzt gegen diesen Text sehr prägnante Bilder ein. Das ist wirklich erste Bundesliga, was da ästhetisch und schauspielerisch abgeht." Einen "kleinen Wermutstropfen" vermerkt der Kritiker auch: "In diesem Sog fehlte mir persönlich ein-, zweimal ein klarer Bruch: Rein in die Wirklichkeit. Denn da ist Siegfried eben nicht nur Opfer, sondern auch Täter."

Das Stück vergegenwärtige den Konformismus, aber auch Widerständigkeit und Güte dieses unheroischen Helden, schreibt Kerstin Holm in der FAZ (16.8.2019). "Dass 'Siegfried' zur berührenden Tragifarce wird, liegt daran, dass der Regisseur Philipp Preuss 'Wagner zwo', wie er sich an einer Stelle sarkastisch selbst nennt, von zwei Darstellern verkörpern lässt.“

"Nicht in jeder Sekunde weiß man, worum es gerade geht, aber das spielt keine Rolle, denn entscheidend ist der emotionale Abdruck vom Bild eines Zerrissenen in zerrissenen Zeiten an einem mehr als bizarren Ort", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (16.8.2019).

Das Stück sei "eine dralle, komplexe Satire, geprägt von tiefer Sympathie für ihren Gegenstand", urteilt Eleonore Büning in der Neuen Zürcher Zeitung (21.8.2019). Mit der Inszenierung allerdings geht sie ins Gericht: "Selbst in der gekürzten, mit Videos, Soundtracks und Pantomimen aufgemöbelten Fassung, die der Regisseur Philipp Preuss auf der Bühne des historischen Reichshof-Kinos in Szene setzt, bekommt man vieles nicht rechtzeitig mit oder vielmehr erst, wenn ringsherum anderswo im Dunkeln jemand juchzt oder aufstöhnt. Und das passiert häufig!" Immerhin gewinnen diese tragikomische Geschichte "einen eigenen Sog, der vom Publikum Empathie einfordert, dergestalt, dass man nicht weiss, ob man lachen soll oder weinen". Was nicht zuletzt "an den beiden umwerfend virtuosen Schauspielern" liege, "halb tragische Helden, halb Stimmungskanonen, die einander wie Artisten auf dem Hochseil aberwitzige Pointenbälle zuwerfen, ohne abzustürzen".

 

 

 

 

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