Kinderqual-Lieder

von Sarah Heppekausen

Bochum, 12. September 2008. Ein Trommelwirbel, ein Spotlight und dann steht er da im Rampenlicht zwischen wallenden roten Plüschvorhängen, vollkommen nackt: Herr Horni. Verbannt in die Öffentlichkeit einer Zirkusmanege. Der Autor, der ihn erfand, Händl Klaus, ist eigentlich ein Spezialist für das Verborgene und Verschwindende. In "Wilde oder Der Mann mit den traurigen Augen" endet eine Zugfahrt in den dunklen Fängen einer undurchschaubaren Familie. In seinem neuen Stück "Furcht und Zittern" geht der Autor mit seinen Figuren den umgekehrten Weg: raus aus der inneren Sicherheit der Zweisamkeit mitten auf die Straße.

Manfred Horni ist vor einigen Jahren wegen Kindesmissbrauchs in der Musikstunde angeklagt worden. Jetzt soll ganz in seiner Nähe ein Kinderheim gebaut werden. Horni lässt sich aber nicht vertreiben. Er will beweisen, dass er auch in Sichtweite dieser angeblichen Objekte seiner Begierde – oder besser gesagt in Hörweite, denn Gesang ist seiner Ansicht nach immer auch mit Schmerz verbunden – standhaft bleiben kann und zieht kurzerhand mit seiner Frau vor die Tür.

Raus aus der Verborgenheit

Regisseur Sebastian Nübling setzt in der Uraufführung bei der Ruhrtriennale im Salzlager der Kokerei Zollverein noch einen drauf: Horni begibt sich nicht nur auf die Straße, er steht im Mittelpunkt einer Zirkusvorstellung. Umgeben von musizierenden Polizisten und Kindern, die hübsch drapiert wie Pudel im Kreis durch die Manege hüpfen. Kindesmissbrauch als Zirkusnummer?

Nübling wagt auf den ersten Blick eine ganze Menge. Aber er verharmlost das viel diskutierte Thema keineswegs, sondern beleuchtet Facetten, die auch unabhängig von moralischer Bewertung ihre Wichtigkeit haben, und die vor allem im Stück – wenn auch weniger drastisch – schon angelegt sind. Da ist zum Beispiel die Facette des sprachlichen Unvermögens angesichts grausamer Erlebnisse. Händl Klaus hat "Furcht und Zittern" gemeinsam mit Lars Wittershagen als Singspiel verfasst. Der Schauspielmusiker gehört mit Bühnenbildnerin Muriel Gerstner zum festen Team um Regisseur Sebastian Nübling, das schon Händls "Wilde oder Der Mann mit den traurigen Augen" und "Dunkel lockende Welt" zur Uraufführung gebracht hat. Zum ersten Mal allerdings entwickelten der Autor und der Komponist ein Stück gemeinsam.

Singen, wofür es keine Sprache gibt

Eine rhythmisierende Sprache, in der ein Wort das andere gibt und sich Sätze ineinander verschachteln, zeichnet auch dieses Stück von Händl aus. Der Gesang geht noch einen Schritt weiter: Die Lieder, die Wittershagen vor allem im Kinderlied-Duktus anlegt, und die Rezitative überhöhen den Inhalt der Worte. "Der Fall der Hose" dreimal in unterschiedlichen Tonlagen wiederholt, wird zur skurrilen Anekdote. Dass die Figuren immer wieder regelrecht in Gesang verfallen, als könnten oder wollten sie einige Worte und Sätze sonst nicht über die Lippen bringen, macht es für den Zuschauer zwar akustisch nicht immer einfacher, sorgt aber für eine verspielte Leichtigkeit, die durch das Bild der Zirkusmanege noch verstärkt wird.

Und die Darsteller scheinen ihre wahre Freude am Zirkus zu haben: Wiebke Puls und Paul Herwig als Polizistenpärchen treten in filmreifer Action-Manier in die Manege und schlucken Geigenbögen. Tanja Schleiff (Pädagogin Wally) schlägt Räder, schwingt geschmeidig den Hula-Hoop-Reifen und peitscht ihre Kinder-Pudel an. Jochen Noch ist Manfred Horni. Erst splitternackt, dann in weißer Rippenunterhose wirkt er wie ausgestellt auf der Bühne. Ausgeliefert an das öffentliche Gericht, das Paragraphen wie Show-Act-Nummern vorführt.

Lottokugeln des Unrechts

Noch hat diesen traurigen, naiven Blick, der seiner großen, massigen Figur etwas Kindliches verleiht. Er ist genauso wenig furchterregend wie die vielen Sex-Anspielungen zum Zittern sind – etwa wenn Polizistin Stephanie sich genüsslich die Möhre in den Mund schiebt oder Wally an einer Krawatte leckt. Erschreckend grausam ist vielmehr das Lied vom kleinen Paul ("Piloten ist nichts verboten"). Unschuldige Worte über ein großes Verschulden. Und dennoch erscheinen die Kinder – gespielt von Nachwuchs-Solisten des Staatstheaters am Gärtnerplatz – viel erwachsener als die Großen. Hab ich meinen Frieden, bin ich zufrieden, sagt Margit. Ich ist eine Andere, singen alle. Die Erwachsenen entscheiden derweil über Recht und Unrecht mit großen Lottokugeln, die über Muriel Gerstners Zirkus-Bühne rollen. Ja und Nein ist darauf nur zu lesen. Gut, dass der Gesang schon weitaus mehr erzählt hat.

 

Furcht und Zittern
Ein Singspiel von Händl Klaus und Lars Wittershagen
Auftragswerk der Ruhrtriennale und der Münchner Kammerspiele
Regie: Sebastian Nübling, Komposition/ Musikalische Leitung: Lars Wittershagen, Bühne und Kostüme: Muriel Gerstner. Musiker: Margarita Holzbauer, Jan Kahlert, Tschinge Krenn, Peter Pichler (Leitung).
Mit: Jochen Noch, Caroline Ebner, Wiebke Puls, Paul Herwig, Tanja Schleiff, René Dumont, Stefan Merki und Kindersolisten des Staatstheaters am Gärtnerplatz.

www.ruhrtriennale.de

 

Mehr lesen? Über Händl Klaus gibt unser Archiv (noch) nichts her. Über Sebastian Nübling umso mehr: Im März 2008 inszenierte er in Zürich Shakespeares Macbeth, zwei Monate zuvor hatte er Hass nach dem Film von Mathieu Kassovitz auf die Bühne der Münchner Kammerspielen gebracht. Im Februar vergangenen Jahres inszenierte er Ibsens Gespenster an der Berliner Schaubühne. Im Nachtkritik-Forum außerdem ein Offener Brief an die Veranstalter.

 

 

Kritikenrundschau

Eher unzufrieden schreibt Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (15.9.) über die Inszenierung. Denn Händl Klaus ist für ihn kein normaler Dramatiker, sondern "eine seltene, wunderschön blühende Sumpfpflanze, vielleicht ist er eine Text gewordene Luft- oder auch Lustschlange, möglicherweise der letzte Poet in einer Welt von Prosaikern". Und deswegen stimmt für ihn an der Aufführung dieser "merkwürdig schrillen Farce" etwas nicht. Alles sei perfekt gemacht, trotzdem erlebt Michalzik keine "Erschütterung und Irritation, Furcht und Zittern" sondern "eher hintergründiges Amüsement". Vielleicht sei die Halle bei der Ruhrtriennale für diese Bühne, die offensichtlich für die Münchner Kammerspiele gebaut ist, einfach viel zu groß, versucht er der Ursache für das Unstimmige des Abends auf den Grund zu gehen. "Vielleicht ist die Musik von Lars Wittershagen zu direkt. Vielleicht ist der Zirkus, den Sebastian Nübling erfunden hat, für diese feingliedrige, theatralische Grille zu grob. Ehrlich gesagt: Wir wissen es auch nicht."

"Nein, kein Skandal", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (15.9.), die trotzdem mit einem mulmigen Gefühl aus dem Theater gekommen ist. Schon der altmodische Gattungsbegriff "Singspiel" mutet aus ihrer Sicht "im Kontext mit dem Thema Kindesmissbrauch" befremdlich an. Obwohl "Wort und Musik, Gesang und Sprechgesang" für sie in diesem "heikel-zwielichtigen" Stück immer wieder "eine enge, skurrile, teils dadaistisch wirkende Verbindung" eingehen und das Abgründige so sehr ins Absurde ziehen würden, "dass es erst auf den zweiten Blick, oft aber auch gar nicht, seinen Schrecken zeigt". Doch schon "rein akustisch" findet Dössel nicht immer alles zu verstehen. Und auch inhaltlich fällt ihr "die Sinnfindung" schwer, bereitet ihr auch der Einsatz der Kinder beim Singen dieser zweideutigen Lieder "voll grausamer und sexueller Konnotatioon" eher Kopfschmerzen, weshalb sie das Theater eigenem Bekunden zufolge mehr verstört als empört und mit getrübtem Blick verläßt.

Für Manfred Strecker bleibt in der Neuen Westfälischen (15.9.) bis zum Schluss völlig undurchsichtig, worauf Händl Klaus und Regisseur Sebastian Nübling mit dem Abend hinauswollen. "Wollen sie Mitgefühl für den Pädophilen Manfred Horni wecken?" fragt er sich. "Wollen sie unsere Angst aufspießen, dass uns Zärtlichkeiten mit Kindern der Päderastie verdächtig machen könnten; slapstickartige Einlagen scheinen es anzudeuten? Oder sind die Kinder selber schuld?" Der Kritiker spricht zwar von einem "vielfarbigen Theaterfeuerwerk", hält den "theatralischen Aufwand" aber angesichts des zweifelhaften Stoffs, der dürren Geschichte und den konturarmen Charakteren für völlig unangemessen.

"Eine Urverharmlosung, albern und ärgerlich", urteilt Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (16.9.) über Sebastian Nüblings Inszenierung: "Die aufgesetzte Munterkeit (...) wird nirgends brüchig oder trügerisch." Im Stück selber hätten Händl Klaus und Lars Wittershagen durchaus versucht, das "Missverhältnis" zwischen dem Thema Pädophilie und dem "nicht angemessen" erscheinenden Genre des Singspiels zu nutzen: "Geht es ihnen doch weniger um das Tabu, als darum, wie es wahrgenommen oder nicht wahrgenommen wird, um die Grauzone zwischen Täter und Opfer, Verbrechen und Verharmlosung." In der "rot-schwarzen Manege" von Muriel Gerstner jedoch, lande die Sache sofort lediglich im Zirkushaften und werde "virtuos verspielt".

"Furcht und Zittern" zeichnet mit bissiger Leichtigkeit ein böses Gesellschaftsbild, schreibt Stefan Keim (Die Welt, 16.9.). "Die ungewöhnliche Form schafft Distanz, lässt psychologischen Realismus gar nicht zu." Regisseur Sebastian Nübling nutze die "Zirkusästhetik für körperliche, kraftvolle Bilder, Clownsnummern und Artistik". Doch das Manegenbild habe auch Nachteile, denn die subtile, doppelbödige Sprache von Händl Klaus brauche Momente der Stille". "Davon gibt es in Nüblings Inszenierung zu wenig, manche Texte sind unverständlich." Der Raum, das Salzlager der Kokerei Zollverein in Essen, spiele jedoch nicht richtig mit. "Das Bühnenbild wirkt wie für die koproduzierenden Münchner Kammerspiele erdacht und in den größeren Industrieraum umgetopft. Die Vielschichtigkeit der Vorlage bleibt oft ungenutzt, der Abend saust vorbei, ohne Spuren zu hinterlassen."

Kommentare  
Furcht und Zittern: Grenzwertig
RuhrTriennale bringt Kindesmissbrauch auf die Bühne

Utl: In der Uraufführung von "Furcht und Zittern" von Händl Klaus und Lars Wittershagen singen Kinder von der Erfahrung des Missbrauchs durch Erwachsene

Von Andreas Rehnolt =

Essen/Bochum - Das renommierte Theaterfestival RuhrTriennale hat am Wochenende das Thema Kindesmissbrauch auf die Bühne im Salzlager Kokerei Zollverein in Essen gebracht. Zumindest grenzwertig ist das, was in der Uraufführung des Singspiels "Furcht und Zittern" von Händl Klaus und Lars Wittershagen gezeigt wird. Nicht wenige Zuschauer waren schockiert, vor allem, weil in dem Stück unter der Regie von Sebastian Nübling sieben Jungen und fünf Mädchen mitspielen. Nicht nur, dass sie dem in weiten Teilen des Stücks nackt spielenden Darsteller des Pädophilen die Beine ablecken mussten, einer der Jungen musste Erfahrungen des sexuellen Missbrauchs sogar in einem Lied "Piloten ist nichts verboten" in allen ekligen Einzelheiten singen.

Die Theatermacher setzten das Stück um den vor Jahren wegen sexuellem Missbrauch verurteilten früheren Gesangslehrer in das Rund einer Zirkusmanege. Grelle Musik, grelle Gestalten und ein Trupp von Jungen und Mädchen, die letzteren bevölkern - aufgemacht als kleine Zirkuspferde - bevölkern die Spielfläche. Ex-Lehrer Manfred Horni und seine Frau müssen ihr Haus aufgeben, weil in Blickweite ein Kinderheim eröffnet wird, das von einer die Peitsche schwingenden Pädagogin geleitet wird. Horni richtet sich in der Folge auf der Straße ein - beobachtet von einem Polizisten-Pärchen und Reinigungsleuten mit Engelsflügeln. Die "Öffentlichkeit" beobachtet Horni, wie er Auge in Auge mit "den Objekten seiner Begierde" umgeht.

Mal wirft man ihm ein Mädchen in die Arme, mal müssen die Kinder den Nackten mit Pflanzen kitzeln und reizen, mal streift eines der älteren Mädchen in Lolita-Manier immer wieder ihren Kleiderträger herunter. Unterdessen rollen am Rand der Manege wie Lottokugeln weiße Bälle, auf denen die Worte "Ja" oder "Nein" stehen. Auf dem Podest, auf dem Herr Horni steht, liegt ein rotes Samttuch. Auf dem prangt ein Paragraphen-Zeichen und die Ziffer 308. In das rollt sich etwa einer der beiden Polizisten ein, Herr Horni trägt es wie ein Mühlrad um den Hals. Und auch auf seiner Feinripp-Unterhose prangt "308". Öffentlichkeit und Ordnunshüter, Missbrauchsopfer und Täter die Bälle mit "Ja" und "Nein" zu. Meinen Autor und Regisseur damit eine Abschaffung oder eine Verschärfung des Strafrechts in Sachen Pädophilie?

Das bleibt offen in dem zweistündigen Singspiel, an dessen Ende Herr Horni und seine Frau in ihre Wohnung zurückkehren, mindestens eines der Kinder "missbraucht" wird und der frühere Gesangslehrer bekennt: "Oh wie schwach ich wieder werde, als die Kinderaugen leuchten. Was ich sehe macht mich froh." Und die Kinder antworten im Chor: "Uns ergeht es ebenso." Regisseur Nübling hatte im Vorfeld der Premiere erklärt: "Wir nehmen einen Pädophilen, holen den raus aus seiner Höhle, setzen den mit Kindern in einen Raum und gucken, was passiert."

Was da auf der zum Zirkus umgebauten Bühne passierte, war zumindest stark grenzwertig. Nach Überzeugung nicht weniger Premierenbesucher sogar unzulässig, weil nicht etwa Erwachsene die Kinderrollen spielten, sondern Kinder selbst "dazu benutzt" wurden, die Thematik der Pädophilie auf die Bühne zu bringen. In Gerichtsverfahren um Kindesmissbrauch legen Gericht, Staatsanwaltschaft und psychiatrische Sachverständige stets großen Wert darauf, die Opfer von Kindesmissbrauch im Gerichtsverfahren nicht noch einmal im Zeugenstand die Qualen durchleiden zu lassen. Im Singspiel "Furcht und Zittern" dagegen wird er nach Ansicht mancher Zuschauer "gesanglich und bildlich fast schon zelebriert."
Furcht & Zittern: Pädophilie ist eine Straftat, Offener Brief
Offener Brief an die Verantwortlichen der RuhrTriennale 2008

Missbrauch von kindlichen Darstellern auf offener Bühne im RuhrTriennale-Stück „Furcht und Zittern“.

Sehr geehrte Damen und Herren,
gestern Abend war ich Zuschauer des Stückes „Furcht und Zittern“ in der Salzfabrik der Zeche Zollverein. Das Stück ist eine Produktion der RuhrTriennale, inszeniert von Sebastian Nübling. Es handelt von einem pädophilen Musiklehrer, der vor Jahren bereits wegen Kindesmissbrauchs verurteilt wurde. Weil jetzt in der Nachbarschaft ein Kinderheim gebaut werden soll, muss er sein Haus verlassen und verbringt den Rest des Stückes „auf der Straße“, unter den Augen der Öffentlichkeit und des Publikums.

Das Stück stellt den Pädophilen durchgängig als Opfer dar. In der ersten Hälfte der Aufführung ist er noch der einzig vernünftige Mensch auf der Bühne, der von skurrilen, lüsternen Polizisten bedrängt wird. In der zweiten Hälfte sind es Kinder, die den „armen Pädophilen“ ständig in Versuchung führen. Die Kinder in dem Stück werden tatsächlich von Kindern im Alter von 10 bis 13 Jahren dargestellt. Der Pädophile agiert meist nackt auf der Bühne, bis zu dem Zeitpunkt als die ersten Kinder auftauchen. Von da an ist er mit einer Unterhose bekleidet.

Es gibt Szenen, in denen die Kinder-Darsteller den Pädophilen reizen und regelrecht „anmachen“. Ein Kind benetzt den Finger mit Speichel und streichelt den (bis auf die Unterhose) nackten Pädophilen, ein anderes Kind legt sich auf den Rücken mit dem Gesicht zwischen den Beinen des über ihm stehenden Pädophilen, den Blick nach oben auf seine Genitalien (verdeckt durch die Unterhose) gerichtet. Hinzu kommen Liedtexte, in denen der Pädophile singt: „Oh wie schwach ich wieder werde…..was ich sehe, macht mich froh“. Die Kinder antworten: - „Uns ergeht es ebenso.“ Ein Kind singt: „Piloten ist nichts verboten….mein Vater gab mir den Pilotenschein. Er drückte mir sein kaltes Bier und dann den Knüppel in die Hand. Wir hoben ab.“

Wie können Sie zulassen, dass Kinder im Rahmen einer Ihrer Produktionen in eine solche Situation gebracht werden? Jeder Pädophile, der seiner Neigung nachgibt, hinterlässt ein missbrauchtes Kind. Ein Kind, das körperlich verletzt wurde, ein Kind, das seelisch verletzt wurde, ein Kind, das gedemütigt wurde! Deshalb darf es in unsere Gesellschaft keinen Spielraum für Pädophile geben.

Auch keine Verharmlosung und auf gar keinen Fall ein Theaterstück, das einen pädophilen Mann als Opfer darstellt. Eine pädophile Handlung ist immer eine Straftat.
Sie missbrauchen die eingesetzten Kinderdarsteller! Diese Kinder wissen nicht, in welchem Kontext sie agieren. Sie spielen und singen, sie freuen sich über Applaus am Ende des Stückes, aber Sie wissen nicht, für was sie da missbraucht werden.

Weshalb lassen die Eltern der Kindersolisten des Staatstheaters am Gärtnerplatz zu, dass ihre Kinder in einer solchen Produktion auftreten?
Als Vater von zwei Kindern, 4 und 9 Jahre alt, habe ich die Salzfabrik der Zeche Zollverein gestern mit einer unglaublichen Wut im Bauch verlassen. Ich bin entsetzt über die Verantwortungslosigkeit der Verantwortlichen.

Dirk Gion, Steinbeck 46, 45239 Essen
Furcht & Zittern: Ich verstehe Ihre Empörung
Was Sie da schreiben, klingt skandalös. Haben sich denn die Verantwortlichen geäußert? Ich habe in der Übersicht über die Kritiken gesehen, dass sich auch die Kritikerin in der Süddeutsche Zeitung in dieser Sache geäußert hat, allerdings nicht sehr deutlich. Sie hat wahrscheinlich Angst, daß man denkt, daß sie das Stück nicht verstanden hat. Eigentlich wäre das ein Fall für den Spiegel. Ich verstehe Ihre Empörung.
Furcht & Zittern: Artikel aus der NRZ zu Gion
Sehr geehrte Sabine Krohn,

ich habe einen Brief an die Ruhrtriennale geschickt. Hier ein Artikel aus der NRZ von gestern mit einer Antwort des Chefdramaturgen der Triennale:

Anders als der NRZ-Kritiker, verließ Dirk Gion, Regisseur, Autor, Kameramann und Vater von zwei kleinen Kindern (4 und 9), "voll Wut" und Empörung das Salzlager auf Zollverein. Denn: Das Stück stelle den Pädophilen als Opfer dar. "In der ersten Hälfte der Aufführung ist er noch der einzig vernünftige Mensch auf der Bühne (...) In der zweiten Hälfte sind es Kinder, die den 'armen Pädophilen' ständig in Versuchung führen.

Die Kinder in dem Stück werden tatsächlich von Kindern im Alter von 10 bis 13 Jahren dargestellt. Der Pädophile agiert meist nackt auf der Bühne (...) Es gibt Szenen, in denen die Kinder-Darsteller den Pädophilen reizen und regelrecht 'anmachen'?"

Gion fragt die Triennale: "Wie können Sie zulassen, dass Kinder im Rahmen einer Ihrer Produktionen in eine solche Situation gebracht werden?" Es dürfe "in unserer Gesellschaft keinen Spielraum für Pädophile geben. Auch keine Verharmlosung und auf gar keinen Fall ein Theaterstück, das einen Pädophilen als Opfer darstellt." Gion: "Sie missbrauchen die eingesetzten Kinderdarsteller!"

Triennale-Dramaturg Thomas Wördehoff antwortete gestern auf Anfrage: "'Furcht und Zittern' erzählt nicht von einer tatsächlich vorgefallenen Tat - Autor und Komponist beschreiben mit den Mitteln der musikalischen Groteske die Angst vor einer Tat, für die es keine Rechtfertigung gibt: Kindesmissbrauch." Hier gebe es weder Täter noch Opfer.

"Händl Klaus und Regisseur Sebastian Nübling zeigten auf, "wie die bloße Bedrohung durch ein Delikt die Gesellschaft verunsichert.
Mit allen ausführlich diskutiert Inhalt und Ausrichtung des Singspiels wurde sowohl den Eltern als auch den mitwirkenden Kindern ausführlich dargelegt.

Das Leitungsteam der Inszenierung hat mit den Kindern und Eltern das Delikt ausführlich diskutiert. Die mitwirkenden Kinder und ihre Eltern haben sich ausführlich mit dem Thema befasst. Das hilflose Wegdrücken dieser schweren Problematik führt letztlich zu den geschilderten, im Stück überzeichnet dargestellten hysterisch-skurrilen Verhaltensweisen. Nur Aufklärung und Auseinandersetzung können helfen, sich diesem schrecklichen Thema zu stellen. 'Furcht und Zittern' verfolgt genau dieses Ziel."
Furcht und Zittern: das hat man von den 68ern
Die Äußerungen über die grandiose Inszenierung werden dieser überhaupt nicht gerecht, bestätigen aber die absurde Tendenz der Aufführung. Die Gesellschaft ist kindisch und infantil und die Kritik vollkommen humorlos. Sie verwechslet das ernste Thema mit dem Spiel, das jenes fasslich macht. Die Kritik reagiert bockernst und ähnlich sentimental wie der sittlich empörte Vater, der nichts verstanden hat.
Bravo Nübling, bravo Händl Klaus, ihr habt gezeigt wie die Rezeption durch eure leichte Spiel-Kunst überfordert ist.
Das hat man nun davon, dass die politischen 68er einst das absurde Theater von der Bühne verdrängt haben, es kehrt jetzt mit Macht dahin zurück un die Kritik versteht Bahnhof.
p.zwey
Furcht und Zittern: Stefan Keims Kritik
Sie verschweigen die Kritik von Stefan Keim in der Welt vom 16. September, die Sie damals noch zitiert hatten:

"Furcht und Zittern" zeichnet mit bissiger Leichtigkeit ein böses Gesellschaftsbild, schreibt Stefan Keim (Die Welt, 16.9.). "Die ungewöhnliche Form schafft Distanz, lässt psychologischen Realismus gar nicht zu." Regisseur Sebastian Nübling nutze die "Zirkusästhetik für körperliche, kraftvolle Bilder, Clownsnummern und Artistik". Doch das Manegenbild habe auch Nachteile, denn die subtile, doppelbödige Sprache von Händl Klaus brauche Momente der Stille". "Davon gibt es in Nüblings Inszenierung zu wenig, manche Texte sind unverständlich." Der Raum, das Salzlager der Kokerei Zollverein in Essen, spiele jedoch nicht richtig mit. "Das Bühnenbild wirkt wie für die koproduzierenden Münchner Kammerspiele erdacht und in den größeren Industrieraum umgetopft. Die Vielschichtigkeit der Vorlage bleibt oft ungenutzt, der Abend saust vorbei, ohne Spuren zu hinterlassen."


(Bitte unter runterscrollen, bis zur Kritikenrundschau zu "Furcht & Zittern". Dort finden Sie alles komplett. Die Red)
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